Schweitzer Fachinformationen
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Er spreche aus Erfahrung, war von Leonhardt Leydenfrost oft zu hören, wenn er Urteile fällte oder Ratschläge gab. Auf Politik bezogen, war seine Berufung auf Erfahrung aber übertrieben, besonders wenn er sie achtzigjährig nannte und damit ein belustigtes Mundverziehen seiner Schwester provozierte, die ihn dann daran erinnerte, dass er vor achtzig Jahren ein naseweiser und weinerlicher Dreikäsehoch gewesen sei.
Hätte Leo, wie er schon als Kind genannt wurde, nicht von politischer Erfahrung, sondern von politischem Erleiden geredet, wäre er der Wahrheit näher gekommen, denn dass die Politik sein Leben häufig bestimmt hatte, stritt auch die politisch viel regsamere Schwester nicht ab. Mit einer Uniform, die schon der Zehnjährige ein- oder zweimal in der Woche gegen seinen Willen hatte tragen müssen, hatte das unselige Eingreifen in sein Leben begonnen und sich jahrelang mit Marschieren und Gehorchenmüssen fortgesetzt. Statt zu spielen, zu lesen oder seine stetig wachsende Büchersammlung zu ordnen, hatte er exerzieren, Latrinen säubern und Kanonen bedienen müssen, bis diese zu seiner Freude verschrottet wurden - sie wurden aber, wie er nach einer viel zu kurzen Pause, die ihm die Politik zum Aufatmen und Jubeln gönnte, durch andere, viel wirksamere Schießgeräte relativ rasch wieder ersetzt. Mit diesen hatte er dann glücklicherweise nichts mehr zu tun.
Der innere Jubel, der 1945 die ersten Stunden ungestörter Lektüre in eigner Behausung und ziviler Kleidung begleitet hatte, war stark gedämpft worden vom plötzlichen Tod seiner Mutter, der unter Umständen, die nie geklärt wurden, einige Wochen nach Ankunft der russischen Truppen in Wittenhagen erfolgt war. Der Verlust der Mutter hatte ihn tief getroffen, der des Familienbesitzes aber kaum. Da die Äcker und Wiesen, Pferde, Rinder und Schweine, die das Einkommen der Familie gesichert hatten, nie sein Interesse hatten erregen können, bedeutete ihm die Enteignung des Gutes wenig, ein Landwirt zu werden, hatte er nie vorgehabt. Sein Vater, der nach der formellen Enteignung des Betriebes die anfallenden Arbeiten noch bis zur Kartoffelernte geleitet hatte, dann aber des Ortes verwiesen wurde, hatte sich mit seiner Tochter Hedwig zusammen auf Schleichwegen nach dem deutschen Westen begeben, wo er mit seinem jüngeren Bruder Eckhardt, der den Krieg in britischer Gefangenschaft überlebt hatte, zusammengetroffen war. Obwohl Eckhardt ihm eine einträgliche Stellung in der Gummifabrikation hatte verschaffen können, ertrug er das Leben ohne seine Pferde und Äcker nicht. Schon zu Beginn des Wirtschaftswunders hatte er eigenhändig seinem von Heimweh zerfressenen Dasein ein Ende gemacht.
Leo, der Wittenhagen bald nach dem Tode der Mutter verlassen hatte, war so glücklich gewesen, in einer der großen Bibliotheken Ost-Berlins als Hilfskraft beschäftigt zu werden und später dort auch als Fachkraft arbeiten zu können, als sein Studium beendet war. Ein Aufstieg in der Bibliothekshierarchie war ihm nicht möglich gewesen, da er sich immer geweigert hatte, in die Staatspartei einzutreten, doch hatte die Gelegenheit, seine geliebte Maria hier kennenzulernen, diese Missachtung seiner Fähigkeiten weitaus ersetzt. Obwohl er ständig Kritik an der politischen Bevormundung geäußert hatte, war er in seiner Stellung noch lange geduldet worden, und selbst nachdem man ihn wegen privater Verbreitung verbotener Bücher zu einer halbjährigen Gefängnisstrafe verurteilt hatte, durfte er in der geliebten Bibliothek wieder arbeiten, allerdings auf einem schlechter bezahlten Posten, auf dem sein Fachwissen zum Brachliegen verurteilt war.
Die von ihm freudig begrüßte deutsche Wiedervereinigung, an der er durch Unterstützung einer Oppositionsgruppe ein bisschen mitgewirkt hatte, brachte dem inzwischen Graugewordenen die nächste Enttäuschung, weil die West-Kollegen der neuen Leitung zwar seine Widerstandshaltung anerkannten und öffentlich ehrten, sein teilweise veraltetes Fachwissen aber nicht mehr brauchbar war. Da man ihn an der elektronischen Modernisierung, die auch im Osten begonnen hatte, nicht beteiligt hatte, wurde ihm unter Sympathiebekundungen bedeutet, dass er für den Modernisierungsschub, der nun erfolgen sollte, nicht geeignet war. Auf die Kenntnisse der ehemaligen Parteigenossen, die die wichtigsten Funktionen des großen Betriebes im Griff gehabt hatten, war die neue Leitung angewiesen, so bedauerlich ihr das auch war. Leo, der das einsehen musste, nutzte die erste Gelegenheit zur Frühverrentung, verabschiedete sich von den schweren Bänden des alten, handschriftlich geführten Sachkataloges, die ihm nach jahrelanger Betreuung doch ans Herz gewachsen waren, und zog sich, da seine drei Kinder schon aus dem Hause waren, mit seiner schwerkranken Frau, die er bald nach dem Umzug beerdigen musste, nach Wittenhagen zurück.
Wenn er später von seinem bescheidenen Schicksal erzählte, kam er oft auch auf die Mitläufer zu sprechen, die immer verachtet werden und doch für jede Regierung notwendig sind. Er erinnerte dann an Adenauer, »den alten Schlauberger, der mit den versierten Mitläufern von gestern das bessere Heute zuwege bringen konnte, und an die Siegermächte von 1945, die Hitlers Raketentechniker in ihre Dienste nahmen, obwohl das doch der Moral ihrer Festtagsreden so gar nicht entsprach«. Da die deutschen Wiedervereiniger, wie er meinte, »den Nutzen der Mitläufer aus Erfahrung kannten, wurde 1990 im deutschen Osten auf eine der früheren Entnazifizierung ähnliche Farce verzichtet, alle Schuld des Regimes der Stasi in die Schuhe geschoben und nach Parteigenossenschaft gar nicht gefragt«. Politik, so pflegte er seine Weisheiten zusammenzufassen, vertrage sich mit Anständigkeit und Gerechtigkeit nur in seltenen Glücksfällen. Sich darüber zu beklagen sei lächerlich.
Sich verordneten Denksystemen anzupassen, hatte Leo also vermieden. Ihm waren die Marxisten und Anarchisten nicht weniger fragwürdig als die Existentialisten und die Kapitalismus-Verehrer gewesen, und wenn damals schon von Islamisten die Rede gewesen wäre, hätte er diese schon ihrer Frauenverachtung und höchst unbequemen Lebensart wegen abgelehnt. Er hatte aber auch kein eignes System entwickelt oder sich angelesen und deshalb auch den Kindern keins aufgedrängt. Sie sollten sich für alles offenhalten und letzten Endes selbst entscheiden, welches die geeignete Denkrichtung für sie war.
Der Familientradition wegen hatte er seine Kinder evangelisch taufen lassen, seinen Neutralitätsprinzipien folgend aber keine Lebensführung im Sinne der Kirche verlangt. Bei seinen Töchtern Luise und Wilhelmine hatte diese Freizügigkeit zur Folge, dass sie sich um keine Glaubens- oder Denksysteme scherten, praktische Berufe erlernten und Männer heirateten, an deren Seite ihren Beruf auszuüben nicht mehr nötig war. Bei seinem Sohn aber, den er in früher Rilke-Begeisterung auf den Namen Rainer-Maria hatte taufen lassen, war die Entwicklung nicht so glatt verlaufen. Sein widerborstiges Wesen, das sich bereits bei seiner komplizierten Geburt bewiesen hatte, war später in hartnäckigen Widerstand gegen die häusliche Ordnung ausgeartet und hatte sich in der Schule durch schlechtes Betragen und gute Noten gezeigt. Mit achtzehn Jahren hatte der Abiturient schließlich die schon immer bewiesene Missachtung der väterlichen Autorität auf die Spitze getrieben, indem er eine Entscheidung getroffen hatte, die zu billigen seinem Vater nicht möglich war.
Für Leo war die Szene, in der Rainer ihm seinen Affront gestanden hatte, vor allem seines eignen unbedachten Verhaltens wegen in schlechter Erinnerung geblieben. In schlaflosen Nächten musste er sie mit allen Einzelheiten immer wieder durchleben, so dass die vernarbte Wunde auch Jahrzehnte später wieder zu schmerzen begann.
An einem Frühsommerabend, als vor der Mietwohnung der Familie in der Oranienburger Straße die Linden blühten, war Leo nach Dienstschluss besonders freudig gestimmt. Er hatte nämlich gerade erfahren können, dass es sich bei der Krebserkrankung seiner geliebten Frau Maria vermutlich um eine Fehldiagnose gehandelt hatte (was sich später leider als falsch erwies). Auch hatte er im Antiquariat in der Friedrichstraße das lange von ihm schon gesuchte »Buch der Zeit« erstanden, das er noch in den Händen hatte, als Rainer, der ihm sonst aus dem Wege zu gehen pflegte, in ungewöhnlich festlicher Kleidung bei ihm erschien. Sein schwarzer Anzug mit weißem Hemd und Krawatte machte ihn zu einem seriösen Erwachsenen, zu dem auch seine ernste Miene passte, in der von dem Trotz, den er sonst seinem Vater gegenüber zu zeigen pflegte, nichts mehr zu spüren war. Ernsthaftigkeit versuchte er auch in seine Stimme zu legen, als er, was noch ungewöhnlicher war, um Verzeihung für die Störung bat.
Leo hatte sich im ehemaligen Mädchenzimmer, das nach dem Auszug der Töchter als Bibliothek genutzt wurde, in den schmalen Gang zwischen den Regalen zurückgezogen, um in dem neuerstandenen Band noch ein wenig zu blättern und sich Jugenderinnerungen hinzugeben, die, obwohl sie bitter gewesen waren, gern von ihm wieder heraufbeschworen wurden, weil die Genugtuung, sie überstanden zu haben, ihnen eine gewisse Süße verlieh.
Das beste Mannesalter, in dem er damals gestanden hatte, war bei ihm seltsamerweise von starker Sentimentalität bestimmt gewesen, die dann im Alter wieder schwächer geworden war. Er war damals häufig mit der Suche nach der verlorenen Kindheit und Jugend beschäftigt gewesen, und zu Letzterer hatte auch seine Begeisterung für einige Gedichte des »Buches der Zeit« gehört. »Die letzten Sterne flimmerten noch matt .« hatte er damals so...
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