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Im Erzählrepertoire meiner Mutter fehlte seltsamerweise die Hochzeitsfeier, erwähnt wurde aber die Tatsache, daß weder ihr Vater, der Briefträger, noch ihr Schwiegervater, ein Schauspieler, mit der Heirat zufrieden gewesen war. Dem preußischen Postbeamten war ein bayerischer, katholischer, ungedienter und auswanderungswilliger Schwiegersohn unerträglich; dem Schauspieler dagegen, der aus einstmals vornehmer Familie stammte, war die Schwiegertochter nicht schön, nicht reich und nicht gebildet genug. Die Hochzeit wurde also im stillen gefeiert, vielleicht des fehlenden Segens der Väter wegen, vielleicht aber auch aus anderen Gründen, über die das Stammbuch keine präzise Auskunft gibt. Die erste nichtamtliche Eintragung besagt nämlich, daß am 19. Januar 1912, also drei Monate nach der Hochzeit, Jenny (so hieß meine Mutter) »wegen Fehlgeburt« in eine Privatklinik gebracht werden mußte; es fehlt aber die Angabe, in welchem Schwangerschaftsmonat dieses geschah.
Über die ersten zwei Ehejahre, die in den Erinnerungen meiner Mutter ausgespart wurden, berichten die Stammbuch-Notizen von Vaters Hand: »15. Septbr. 1912: Endlich hat sich Papa mit unserer Heirat ausgesöhnt. - 20. November 1912: Heute trat Jenny zum katholischen Glauben über. Zeugen: Herr Kaplan Kresse, der Küster von St. Bonifatius und ich. Deo gratias. - Sonntag, d. 15. Dezbr. 1912: Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, des Herrn Name sei gelobt! Geb. 5 Uhr 45 N. ISOLDE! Gest. 6 Uhr 15 N.Gott sei deiner armen Seele gnädig! - 5. März 1914: Heute fuhr ich allein nach Odessa (Südrußld.), um dort mein Glück zu versuchen. - 15. Juli 1914: fuhr Jenny mir nach Odessa nach. - 31. Juli 1914: Ausbruch des Krieges. - 4. Novbr. 1914: wurde ich aus Odessa ausgewiesen und nach Krassny-Jar, Gouv. Astrachan, verschickt; Jenny bleibt allein zurück. - 14. Dezbr. 1914: wurde in meiner Abwesenheit Karlheinz, abends 8 ½ h geboren. - 28. Februar 1915: fuhr m.Frau von Odessa über Rumänien und Österreich zu ihren Eltern nach Berlin, wo sie nach 12-tägiger Fahrt mit dem kaum noch lebenden Kinde ankam.«
Zwischen dieser Notiz und der nächsten, die die Heimkehr aus Rußland meldet, liegt der erwähnte Briefwechsel, zu dem auch Fotos in Postkartengröße gehören, die auf den Rückseiten mit Adressen und Stempeln versehen sind. Sie zeigen meine Mutter, 1915, 1916, 1917, in weißer Bluse, im schwarzen Kleid, im eleganten Kostüm, das Kind immer dabei, im Steckkissen erst, dann auf einem Gartentisch vor einer Parkkulisse sitzend, und schließlich, mitleiderregend o-beinig, auf einem Stuhl stehend, daneben das gerahmte Postkartenbild seines Vaters - dessen Original mir noch immer erhalten ist: ein ernster, verkommen aussehender, vollbärtiger Mann, mit Hut und Krawatte, aber ohne Jackett, das Hemd, nach russischer Art über die Hosen fallend, mit einem Strick in der Hüfte gegürtet, die Hände auf den Rücken gelegt. Als dieses Bild kam (so mußte meine Mutter jedesmal, wenn wir es sahen, wieder erzählen), habe ihr Vater sie schon die Frau eines Krüppels genannt; denn daß die Russen oder Kirgisen ihrem Mann die Hände abgehackt hätten, sei doch deutlich zu sehen; und daß er noch schreibe, besage gar nichts, denn das lerne man in der Not spielend, mit Fuß oder Mund.
Bei der Gefangenenpost, die über das Dänische Rote Kreuz befördert wurde, waren im Monatsabstand offene Karten erlaubt, die nur eine Seite zur Mitteilung ließen; denn die andere wurde für die Adresse in russischer und französischer Sprache, für Zensurvermerke und Poststempel gebraucht. Außer der Tatsache, daß man noch lebe, gesund sei und auf ein baldiges Ende der Trennung hoffe, erfährt man durch sie, daß das Geld knapp sei, aber immer noch reiche, daß Jenny in der Kreuzberger Nostitzstraße bei ihren Eltern lebe, sich von Näharbeiten und dem Beackern eines Gemüsebeetes auf dem Tempelhofer Feld ernähre, und daß Carl (das ist mein Vater) als Bäcker arbeite, sich mit eigner und fremder Literatur beschäftige und für Kopekenbeträge Sprachunterricht gebe: deutschen für Russen, russischen für Deutsche, und englischen und französischen auch.
Mehr als die Karten, die zur Hälfte die üblichen Floskeln bedecken, bietet ein 20-Seiten-Brief aus Odessa, in dem meine Mutter erzählt, was sie ißt, trinkt und näht, und wie sie den Jungen zur Welt bringt, den sie nicht stillen kann. Es ist ein Brief, der atemlos wirkt, obwohl er in Abständen von Tagen geschrieben wurde. Absatzlos werden Details aneinandergereiht, die erschüttern, während jeder Versuch, von Liebe zu reden, in Formeln erstarrt. Leichter als auf den Fotos aus jener Zeit kann ich in diesem Brief meine Mutter wiedererkennen: in ihrem Sinn fürs Praktische (der sie dazu treibt, die Herstellung der Babynahrung haargenau zu erklären), in ihrer Unsentimentalität (die sie die Sätze schreiben läßt: »Weihnachten habe ich diesmal ganz gestrichen. Wenn man daran denkt, ist man nur traurig. Friede auf Erden ist ja doch nicht.«), in ihrem Lebensmut, in ihrem Optimismus und in ihrem Drang zum Wohlanständigen, Besseren, Höheren, zu dem sie sich durch ihren Mann verpflichtet glaubte - und der mich später manchmal wütend machen, andere Leute aber amüsieren wird. Denn diesem Anspruch war sie nicht gewachsen. Die Sensibilität, die sie, um ihrem Mann zu gleichen, ständig zeigte, fehlte ihr in solchem Maße, daß sie das Unglaubwürdige daran, das jeder spürte, nie empfand.
Da sie den Vorsatz hat, mit ihrem Mann gemeinsam Fremdsprachen zu lernen, versucht sie in diesem Brief die lateinische Schrift zu benutzen, fällt aber immer wieder in die deutsche Steilschrift zurück. Die Gesetze der Sprache sind nicht ihre Stärke. 1914 hat sie die Hoffnung, ihrem Carl bald »das Kindchen im Arm legen« zu können, und das Foto von 1917 kommt »von Deiner Dir stets vertrauende Frau«.
Des Kindchens wegen schlägt sie die Möglichkeit aus, ihrem Mann in das Malaria-Klima der Wolga-Mündung zu folgen, und kehrt an den Kreuzberg zurück. Carl ist enttäuscht, und Mißtrauen quält ihn, doch als am Kaspischen Meer Flecktyphus ausbricht, billigt er nachträglich die Entscheidung der Frau. Zuviel schon habe sie in Rußland erleiden müssen, schreibt er im März 1915, »was Dich aber, wie ich zu hoffen wage, nicht hindern wird, später wieder mit mir hinauszuziehen in ein fremdes Land«.
Das steht nicht auf den Karten, die Berlin nach etwa 14 Tagen erreichten, sondern in Briefen, deren Beförderung nicht zulässig war. Fünf Oktavhefte wurden so vollgeschrieben, eine Art Tagebuch für die Geliebte, das dieser bis an ihr Lebensende die liebste Lektüre blieb. Liebesbeteuerungen, die auf Dritte stets komisch wirken und nur von der, an die sie sich richten, in die Sprache wahren Gefühls zurückübersetzt werden können, wechseln mit Erlebnisberichten; Mutmaßungen werden ausgesprochen, als sei mit ihrer Bestätigung oder Widerlegung zu rechnen; Fragen werden gestellt, als wäre die Hoffnung auf Antwort da. Jeder Brief klingt, als wäre er wirklich einer, so daß ich bei erster Durchsicht vermuten konnte, hier hätte mein Vater Briefe, die tatsächlich versandt worden waren, kopiert.
Im Vordergrund der Berichte stehen Geld-, Nahrungs- und Wohnungssorgen. Die Internierten dürfen das Städtchen, das 4000 Einwohner hat, nicht verlassen; sie dürfen kein Arbeitsverhältnis eingehen und müssen sich täglich auf der Polizeistation melden; sonst aber kümmert sich niemand um sie. Wer Geld hat, leidet nur unter Heimweh und Langeweile, wer keins hat, dem geht es schlecht. Carl erhält 15 Rubel im Monat von seiner Odessaer Firma. Anfangs reicht das zu einem kärglichen Leben, dann setzt mit einer Teuerungswelle die Hungerzeit für ihn ein. Als Aushilfe in der Backstube und beim Sprachunterricht kann er nur Kopeken verdienen. Die elenden Zimmer, die er bei Fischern und Arbeitern mietet, muß er alle paar Monate wechseln, weil sich die Miete, die anfangs fünf Rubel beträgt, immer weiter erhöht. Zeitweilig hat er nur selbstgeangelte Fische zu essen. Der Läuse und Ratten muß er sich ständig erwehren. Die feuchte Hitze der Wolgamündung versetzt ihn im Sommer in völlige Apathie. 1916 befällt ihn Malaria. Zu deren Bekämpfung muß er Chinin und Salzsäure schlucken, von denen sein Magen sich nie mehr erholt.
Gegen das, was er die »russische Krankheit« nennt und als grund- und ziellose Trauer erklärt, geht er mit Schreiben an. Neben dem Brief-Tagebuch und epigonalen Gedichten, in denen die stümperhaft imitierte klassische Form jeden eigenen Gedanken erstickt, verfaßt er Märchen, kurze Prosa und einen von sexuellen Nöten diktierten Roman.
Auch in den Briefen kommt Sexuelles häufig, aber immer gebändigt vor. Da werden Ehekrisen seiner russischen Wirtsleute erörtert, über seelische und sinnliche Liebe wird ausdauernd geredet, und die »teuflische Onanie« wird beklagt. Gedankliche Untreue (die immer Angst um die Treue der Frau erzeugt) wird gestanden, der Plan, ein russisches Dekamerone zu schreiben, wird flüchtig erwogen, und lustig wird vom...
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