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Claire juckte es an fünf Stellen ihres Körpers, aber sie wagte es nicht, sich zu kratzen. Es geziemte sich einfach nicht für eine Dame in feiner Gesellschaft. Das Kleid, das sie trug, hätte sie sich niemals leisten können und den Flug in einem Zeppelin schon gar nicht. Gigantisch ragte das elfenbeinweiße Ungetüm vor ihnen auf, und sie standen mittlerweile so nahe, dass sie die Spitze und das Ende nicht mehr sehen konnte. Gut vier Dutzend kräftige Männer in rauen Hemden hielten es an Tauen in Schach, während es sich in der sanften Frühlingsbrise zu winden versuchte.
Die bis eben noch furchtbar redselige Gruppe, mit der Claire die Reise antrat, schwieg zum ersten Mal, seit sie dazugestoßen war. Auch den anderen verschlug es offenbar den Atem. Mit offenem Mund und die Augen mit einer Hand gegen die schon starke Maisonne abschirmend, bestaunten sie das gigantische Gefährt. Ein Wunder der modernsten Technik. Aber auch Claire war aufgeregt, was dieses Kribbeln auf der Haut verursachte. Sie wippte mit den Füßen und konnte es kaum erwarten, an Bord zu gehen. Wie es wohl sein würde, abzuheben und die Welt von oben zu sehen?
Seit das Luftschiff vor wenigen Stunden eingetroffen war, um sie von dieser ausgedehnten Wiese am Rande der Stadt Bern abzuholen, hatte es eine Menge Schaulustige angezogen, die sich nun in Scharen hinter dem Zaun sammelten. Doch an diesem Tag würden damit nur ihre Begleiter reisen, die allesamt Teilnehmer des bevorstehenden Kongresses der Orion-Gesellschaft für Fortschrittsfragen waren - siebzehn Männer und eine Frau -, und Claire selbst.
Bis zu diesem Tag hätte sie das nie für möglich gehalten. Claire war neben einem ganzen Dutzend weiterer Bediensteter des Grandhotels Giessbach aufgeboten worden, die Kongressteilnehmer am Vorabend in Bern in Empfang zu nehmen und ihnen, als Vorgeschmack zum Kongress, ein opulentes Nachtessen zu servieren. Dabei hatte sie sich Röbi Bänzli junior angelacht. Dieser drückte ihre Hand gerade etwas zu fest: »Schau dir nur dieses Riesending an. Du hast sicher nicht erwartet, je mit so etwas fliegen zu dürfen, was?«
»Fahren«, berichtigte der Greis neben ihm, der, wenn sich Claire richtig erinnerte, Walter Wyss hieß. »Luftschiffe und Ballone fahren. Aeroplane und Vögel fliegen.«
»Und manchmal auch das Geschirr zu Hause«, sagte der ebenfalls schon ältere Herr neben ihm und lachte. Dabei entblößte er eine Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen, die gut einem zusätzlichen Zahn Platz geboten hätte. Die beiden seien schon seit Jahren befreundet, hatten sie erzählt, und sie waren einander seit gestern auch kaum von der Seite gewichen.
»Fahren«, wiederholte Röbi lang gezogen, während er das wie eine gigantische Zigarre geformte Gerät in größter Ehrfurcht betrachtete. Zu ihrer Linken war die offene Führergondel angebracht, unter den Tragkörper montiert wie ein Rettungsboot. Eine zweite Gondel befand sich im hinteren Teil. Dazwischen war die Passagierkabine aus blank poliertem Metall angeordnet, vor der sie noch immer anstanden. Sie verfügte über sechs großzügige Fenster und eine Tür, vor der eine schmale Treppe bis zum Erdboden reichte. In eckigen Großbuchstaben stand auf dem Rumpf der Name »VIKTORIA LUISE«.
Röbi Bänzli war mit seinen einundzwanzig Jahren mit Abstand der jüngste der Männer, und er war in Begleitung seines Vaters, der am Zürichsee eine große Schlachterei führte. Die Vaterschaft hätte niemand in Frage gestellt: Röbi war ein exaktes junges Abbild seines Alten mit demselben speckigen Gesicht. Zudem war er richtiggehend von sich eingenommen, und Claire hätte wetten können, dass er zu Hause nach Strich und Faden verwöhnt wurde. Mit vor Stolz geschwellter Brust stand er da, mit ihr als seiner Eroberung an der Seite.
Sie hätte ihn gewiss nicht gewählt, um ihr Leben mit ihm zu verbringen, aber unter den Kongressteilnehmern hier in Bern passte er am besten. Immerhin waren die übrigen weit über sechzig Jahre alt, mit Ausnahme des eher schweigsamen Herrn, der aus Ägypten angereist war. Claire wusste, dass erfahrene Männer oft misstrauisch reagierten, wenn eine junge Frau wie sie Interesse für sie kundtat. Bei Bänzli junior jedoch hatte es auf Anhieb geklappt. Er war vom ersten Augenblick an Feuer und Flamme für sie gewesen, und es lief sogar so gut, dass er ihr diesen Flug - respektive diese Fahrt - im Luftkreuzer spendierte.
Sie wusste nicht erst seit ihrem früheren Freund Heiner, dass sie doch ganz ansehnlich geraten war. Zudem kam ihr französischer Akzent, den sie ohnehin nicht ablegen konnte, in der Schweiz offenbar recht gut an. Wenn sie es nur einigermaßen geschickt anstellte, würde sie sich so immer in der Nähe der Kongressteilnehmer aufhalten können und die eine oder andere nachrichtendienstlich interessante Information aufschnappen.
»Die LZ 11 mit dem wohlklingenden Namen Viktoria Luise wurde vor zwei Jahren in Betrieb genommen und ist das elfte zivile Luftschiff der Luftschiffbau Zeppelin GmbH«, erklärte der Kongressteilnehmer mit dem grauen Spitzbart, der sich Claire gestern als Heinz-Peter Zwyssig vorgestellt hatte. Es gehörte zu ihrer Mission, sich die Namen der Leute zu merken. Zumindest so gut sie konnte. »Die LZ 11 hat eine Gesamtlänge von hundertachtundvierzig Metern und ein Volumen von achtzehntausendsiebenhundert Kubikmetern«, sagte Zwyssig, aber Claire hörte ihm bald nicht mehr zu, weil einer der Helfer mit den Tauen in den Händen immer wieder zu ihr herüberschaute. Eine Schiebermütze beschattete sein Gesicht. Er winkte, als sie zurückblickte. Etwas verlegen winkte sie auch.
Wie es wohl sein würde, wenn sie die Seile losließen und die Viktoria Luise sich erhob? Der Blick von oben auf die staunenden und winkenden Zaungäste, die unter ihnen immer kleiner und kleiner wurden. Die Stadt Bern und ihre Häuser zu ihren Füßen. Wie es wohl sein würde, die Welt der Vögel zu erreichen? Sie würde es erleben, sie, ein französisches Mädchen vom Lande.
Der Kerl an den Seilen machte eine Geste in Claires Richtung, als vertreibe er ein lästiges Tier. Nur dezent zwar, aber so, dass Claire es sehen konnte. Es schien, als wollte er ihr damit etwas mitteilen. Aber was? Als sie nicht sofort reagierte, schob er die Mütze ein Stück weit nach oben. Da sah sie, dass sie ihn kannte, hätte aber nicht sagen können, woher. Claire tat es damit ab, dass er vermutlich einer derjenigen war, die ihr gestern am Bahnhof schon schöne Augen gemacht hatten.
»Jeder der drei Motoren der Firma Maybach leistet hundertfünfzig PS«, sagte Zwyssig.
»Aha, aha, interessant«, machte Zahnlücke ironisch und erntete ein Grinsen von seinem Kumpel Wyss.
Allmählich begannen Claires Füße in den etwas zu engen Schuhen zu schmerzen. Sie erhaschte einen Blick auf die teure Uhr am Handgelenk Zwyssigs, die ihr verriet, dass es sechs Minuten vor eins war. Wie lange sie hier wohl noch stehen und warten mussten? Der Zeppelin war doch bereit. Der Luftschiffführer und seine Mannschaft warteten in ihren Gondeln, die Motoren brummten gutmütig, die Tür zur Kabine stand offen, und das kleine Treppchen davor war ebenfalls ausgeklappt.
Dann bemerkte Claire, wie der Helfer mit der Mütze auf sie zuschritt. Nun erinnerte sie sich. Ja, natürlich, ein Mitarbeiter des Deuxième Bureaus, des französischen Geheimdienstes. Sie war ihm schon in der Zentrale in Paris begegnet.
Zu Röbi Bänzli, der noch immer auf den gigantischen Tragkörper starrte und Zwyssigs Ausführungen lauschte, sagte sie: »Ich möchte da kurz etwas anschauen gehen«, was er mit einem knappen »Mhm!« quittierte, als sie sich aus seiner Hand befreite.
Eilig drängte sie sich zwischen zwei Kongressteilnehmern hindurch, die sie nicht beim Namen kannte, und traf hinter dem Grüppchen auf ihren Arbeitskollegen. Dieser beugte sich nur kurz zu ihr herab und flüsterte ihr etwas ins Ohr, was sie erstarren ließ wie ein Bannspruch. Er hatte dazu kaum angehalten und kehrte gemessenen Schrittes zu seinem Strick zurück, um mit den anderen das Gefährt im Zaum zu halten. Claire versuchte, das Gesagte zu begreifen. Das konnte doch nicht wahr sein!
»Wo bleibst du denn?«, fragte Röbi Bänzli junior und ergriff ihre Hand. »Wir können endlich an Bord. Ist das nicht aufregend?«
Als sie nichts erwiderte, zerrte er sie einfach mit sich. Erst als sie hinter dem greisen Herrn Wyss anstehen mussten, der mit der Unterstützung von Zahnlücke mühsam die steilen Stufen des klapprigen, an Drähten wankenden Treppchens erklomm, kam Claire wieder zu sich. »Non!«, rief sie aus. Dann fuhr sie auf Deutsch fort: »Ich kann da nicht rein!«
»Warum denn nicht?«, wollte Bänzli wissen.
»Weil - weil .« Sie suchte nach Worten. »Ich vertrage die Höhe nicht.«
»Ja, Höhe werden wir in den nächsten Stunden eine Menge haben, so viel ist sicher«, lachte Zahnlücke.
»Ach, komm schon, du wirst es genießen«, sagte Bänzli.
»Ich komme da nicht...
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