Schweitzer Fachinformationen
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Verschwommene Bilder
Alles, was ich über diese Zeit weiß, weiß ich von deinen Bildern, sagte Lena. Ja, es ist meine Bestimmung, dem Leben die Bilder zu entreißen. Das Leben zu knipsen bedeutet, Menschen zu knipsen. Ich habe sie alle geknipst, die Albaner und die Albinos, die Athleten und die Amputierten, Aktivisten und Adventisten, Astrologen und Astronauten, Alkoholiker wie Antialkoholiker, die Autoknacker, Asthmatiker, Ausländer, Abendschüler, Alpinisten, Angler, Armdrücker und Auktionatoren, die Augenklappenträger und deren Ansprechpartner, die Augenärzte, die Archäologen, die Anarchisten, Apfelpflücker, Akkordeonspieler, Attentäter, Altnazis, Autoren, Artisten, Anwälte, Asketen, die Abräumer, Abwäscher und Abzocker, die Aufreißer, die Analphabeten, die Asse aller Abteilungen sowie die Angsthasen, die Arschgeigen, die Arrivierten, die Atheisten, die Armleuchter, die Angestellten, die Aushilfen, die Arbeiterklasse und schließlich auch die Antisemiten. Der Rest des Alphabets ist ähnlich vertreten. Der einzige Grund, weshalb ich die unter dem Buchstaben A ansässigen Außerirdischen (die ich den Menschen zurechne; mein Herz ist groß) nicht geknipst habe, ist: Sie haben sich noch nicht blicken lassen.
Meine Kamera ist ein kleines, unscheinbares Ding mit einem lichtstarken Objektiv, das selbst bei Kerzenschein kein Blitzlicht braucht. Die legendäre Leica M3, ein Kleinod, ein Meisterwerk des Understatement. Gebaut in Zeiten, als Spione aus der Kälte kamen. Das gute Stück sieht fast alles und ist selbst fast unsichtbar. Und ist so leise, daß selbst in Kirchen ihr Knipsen die Grenzen der Pietät nicht berührt. Ein Apparat von sympathischer Bescheidenheit. Die Spiegelreflexkameras haben sich vermutlich nur deshalb durchgesetzt, weil der wegschnappende Spiegel dem Fotografieren ein eitles Erkennungsgeräusch verliehen hat. So wie die Harley verkündet: Hier kommt ein Motorrad, so insistiert die Spiegelreflex: Hier ist ein Fotograf.
Bei meiner Leica steht dem Licht kein Spiegel im Wege, der wegschnippen muß. Bei meiner Leica schnippt nur der Verschluß. Sie macht ein Geräusch, das niemand hört. Sie sagt: Macht weiter, laßt euch nicht stören, ich bin gar nicht da. Die Leute sollen meine Leica und mich vergessen. Sie müssen sich nicht abgelichtet fühlen, sie müssen in mir nicht den Fotografen sehen und schon gar nicht den Meisterknipser - sondern dürfen mich als Hinterwäldler abtun, der mit seiner hornalten Büchse hantiert. Ich lebe davon, unterschätzt zu werden.
Das gute Stück wird von meiner Rechten gehalten und bedient, die Linke habe ich immer frei, um mich von andrängendem Volk abzuschirmen. Die Arbeit ohne Blitzlicht und Stativ verlangt mir das Vermögen ab, für Momente in eine statuenhafte Starre zu fallen. Der rechte Zeigefinger bedient den Auslöser, der Mittelfinger betätigt die Ringskalen für die Belichtungsdauer, die Blende und die Entfernung. Mein Mittelfinger ist mit der Kamera so vertraut, daß er die richtige Einstellung erfühlt und in kürzester Zeit einstellen kann; selbst Puppenspieler sind verblüfft über meine rechtsseitigen Mittelfingerfertigkeiten. Meine Augen beschäftigen sich nicht mit den Skalen, sondern mit dem Geschehen, das Beute werden soll.
Diese seltene und in der Ausprägung vielleicht sogar einmalige Spezialisierung weniger Körperteile konnte ich bei keiner deutschen Berufsunfähigkeitsversicherung angemessen versichern. Die boten nur eine genormte Gliedertaxe, bei der jede einzelne meiner Zehen mit je zwei Prozent, jeder Finger für je fünf, die Daumen für jeweils zwanzig, Beine und Augen für je fünfzig Prozent der gesamten Versicherungssumme angesetzt wurden. Erst bei der altehrwürdigen und im Renommee unangefochtenen Lloyds konnte ich meinen Körper nach meinem Gusto portionieren: Der auslösende rechte Zeigefinger und der mit den Ringskalen betraute rechte Mittelfinger sind mit jeweils dreißig Prozent versichert, zehn Prozent für jedes Glied. Die Rechte ist mit zwanzig Prozent für ihre Befähigung versichert, für Momente absolut zu erstarren. Die fünfzig Prozent, mit denen ich bei der Lloyds Inc. jedes meiner Augen versichert habe, entsprechen dem Standard und sind nur insofern der Erwähnung wert, weil ein Fotograf seine Augäpfel nicht für wertvoller erachtet als jeder andere Berufstätige.
Neben meiner stillen Leica und den artistischen Fingern, mit denen ich das gute Stück bediene, muß noch von einem Dritten die Rede sein, das mir beim Knipsen nutzt: meinem Horoskop. Neptun steht im zwölften Haus. Die Sonne steht allein zum Uranus harmonisch im Trigon, und ihr Aszendent ist der Skorpion. Der Mond ist im Krebs. Dies alles sagt dem Laien nichts. Doch eine Tante prophezeite mir an meinem zwölften Geburtstag eine hellseherische Begabung, die sich in Gestalt von Geistesblitzen äußert. Wenige Jahre später verstand ich, was sie meinte: Als mich mein Vater das erste Mal mit auf die Jagd nahm.
Es war eine Weihe, die schweigend vollzogen wurde: Schweigend gingen wir durch den Wald, schweigend erklommen wir den Hochsitz, schweigend übergab er mir das Gewehr. Die Dämmerung brach an, und bereits bevor die Dunkelheit siegte, hatten die Augen begonnen, den Dienst an die Ohren zu übergeben. Und je mehr der Wald vor meinen Augen in der Nacht versank, desto deutlicher tauchte er als Klangkörper in meinen Ohren auf. Hellwach blieb ich; das Gewehr in meiner Hand machte selbst das Warten packend. Der Wald existierte in seinen Geräuschen, wabernd, gemächlich, und bald verschmolz ich mit ihm. Aber in einem Moment, der sich durch nichts ankündigte, hob ich mit größter Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit das Gewehr, die Schleuder des Todes, und schoß in das schwarze Loch der Nacht. Bis heute weiß ich nicht, warum. Ich hatte das Tier nicht mit den Augen gesehen, aber ich wußte, da war eins - ein großes schwarzes Tier. Mein Vater war ungehalten; er mußte glauben, ich hätte aus Langeweile, Übermut oder Unerfahrenheit geschossen. Wir gingen zum Waldrand, dort wo die Nacht im Mondschatten am schwärzesten war, und fanden das Wildschwein, das ich erschossen hatte. Ich war schockiert, doch ich wußte nun, was es bedeutet, hellsichtig zu sein.
Ich spürte, wohin ich das Gewehr halten und wann ich den rechten Zeigefinger krümmen muß. Ich wußte, ich werde treffen, ohne zu wissen, was. Fotografieren ist packend wie Töten - und bereitet keine Reue. Doch die Gabe des Hellsehens und das Vertrauen in die Inspiration sind mir beim Fotografieren zur Lust geworden. Als Sportfotograf bin ich am liebsten zum Fußball gegangen - ich stand immer hinter dem Tor, hinter dem das nächste Tor fiel. Mitten im Spiel folgte ich meiner Laune und wanderte um den Platz, von einem Tor zum anderen - und prompt fiel ein Tor. Wenn der Außenseiter den Favoriten schlug, war ich oft der einzige, der das Siegtor geknipst hatte. Die zwanzig anderen Fotografen warteten hinterm falschen Tor.
Auch als Theaterfotograf war ich gefragt. Während auf den Fotoproben ein Dutzend Fotografen vor der Bühne umherliefen und mit ihren riesigen, blitzenden und klackenden Apparaten das feine Gewebe der Inszenierung empfindlich verletzten, um schließlich nichtssagende Fotos zu machen, ahnte ich, wann ein Moment herangereift war. Ahnte auch, wo ich stehen muß, um ihn einzufangen. Ich machte nur drei, vier Fotos von einem Theaterabend, und gerade diese Fotos kaufte das Theater, fürs Programmheft und die Pressearbeit.
Ich spüre, wo ein Bild entsteht, und ich habe die - sogar bei Fotografen seltene - Begabung, aus dem Kontinuum der gleichmäßig verstreichenden Weltzeit den Augenblick herauszubrechen, der Verewigung lohnt. Ob ein Bild gelungen ist, weiß ich, wenn ich knipse, und nicht erst, wenn es im Entwickler entsteht. Einen Moment vor dem Knipsen schließe ich die Augen. Und gerade in diesem Augenblick, den ich sich selbst überlasse, steigert sich das Geschehen. Nur meine Leica schaut zu, wenn das gewisse Etwas geschieht, wenn sich der magische Moment ereignet. Wenn ich die Augen wieder öffne, dann habe ich bereits geknipst - aber trotzdem habe ich das schließliche Bild gesehen. Das mußte meine Tante gemeint haben, als sie mir an meinem zwölften Geburtstag deutete, was Neptun im zwölften Haus anrichtet, hoffnungsvoll unterstützt von einer trigonischen Sonnen-Uranus-Konjunktion, wenn dazu der Mond im Krebs das Seine beisteuert.
Vor zwei Jahren, am 16. August, hat das Hochwasser, welches eine Woche später Jahrtausendhochwasser genannt wurde, nahezu all meine Fotos vernichtet. Gern hätte ich ein Abschiedsbild gemacht: Tausende Fotos schwimmen auf der Oberfläche des träge weichenden Hochwassers. Die Bilderflut. Leider hat es dieses Motiv nie gegeben. Das Hochwasser drang zuerst in das Souterrain meines Hauses ein, dort, wo mein Archiv war. Es stieg bis zur Decke, strömte in Schränke, Schubladen und Kisten, durchweichte die Fotos und löste die Negative auf. Als nach vier Tagen das letzte Wasser aus dem Souterrain gepumpt wurde, blieben nur feuchte, stinkende Ballen zurück. Rekonstruktion unmöglich.
Meine Leica, das gute Stück, hatte ich bei mir. So ging ich, von einer hellseherischen Ahnung getrieben, zu meinen Nachbarn, der Musikalienhandlung Meißner. Dort hatte das eindringende Wasser den Konzertflügel angehoben und zum Schwimmen gebracht - inmitten von Klarinetten, Gitarren, Flöten, Oboen, Bratschen, Celli, Kontrabässen, Trommeln, Zithern und Rumbarasseln. Sogar das Blech hatte Schwimmen gelernt: In den Windungen der Posaunen, Trompeten und Waldhörner war genügend Luft verblieben, um die Instrumente leichter als Wasser werden zu lassen. Die Klaviere hingegen waren...
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