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Ich darf von mir behaupten, durch ein ganzes Panzerregiment Geburtshilfe genossen zu haben, ein Panzerregiment, das am Abend des 20. August 1968 in Richtung Tschechoslowakei rollte und auch an einem kleinen Hotel im Dörfchen Brunn vorbeikam, in dem meine Mutter, mit mir im neunten Monat schwanger, während ihres Urlaubs wohnte. Motoren dröhnten, und Panzerketten klirrten aufs Pflaster. In Panik durchstieß ich die Fruchtblase, trieb durch den Geburtskanal und landete auf einem Wohnzimmertisch. Es war Nacht, es war Hölle, Panzer rollten, und ich war da: Die Luft stank und zitterte böse, und die Welt, auf die ich kam, war eine politische Welt.
Mr. Kitzelstein, wie Sie sehen, habe ich, meiner historischen Verantwortung voll bewußt, bereits damit begonnen, die Geschichte meines Lebens aufzuschreiben, auch wenn ich gestehen muß, daß ich in zwei Jahren nicht über den ersten Absatz hinausgekommen bin. Mir schwebte eine Autobiographie vor, in der ich mir voller Ehrfurcht begegne und die auch sonst so à la europäischer Zeitzeuge angelegt ist - und die mich sowohl für den Literatur- als auch den Friedensnobelpreis ins Gespräch bringt (um Sie gleich mit einer meiner hervorstechenden Eigenschaften, meinem Größenwahn, vertraut zu machen). Wer weiß, wie lange ich noch an meiner Autobiographie gesessen hätte, wenn Sie nicht angerufen und mich für Ihre New York Times um ein Interview gebeten hätten. Wie ich das mit der Berliner Mauer hingekriegt habe. Das ist eine lange Geschichte. Lassen Sie mich zuerst ein paar Mißverständnisse klären.
Ich habe gehofft, mein Anteil an den Geschehnissen jener Nacht bliebe noch eine Weile unerkannt - aber da habe ich die Beharrlichkeit des amerikanischen investigativen Journalismus einfach unterschätzt. Als die Mauer plötzlich nicht mehr stand, rieb sich Volk die Augen und mußte schließlich glauben, es hätte selbst die Mauer abgerissen. Mir war schon klar, daß diese Das-Volk-sprengt-die-Mauer-Legende nicht mehr lange halten wird. Irgendwo muß es ja abgeblieben sein, das Volk, das Mauern sprengen konnte - aber wo? Die illusionsloseren Betrachter kommen nun zu dem Schluß, daß es kein mauersprengendes Volk gegeben hat. Aber wer war's dann? An dieser Stelle erinnert man sich an Schabowski und seine Pressekonferenz, und das Märchen, er habe die Maueröffnung verkündet, kam mir sehr gelegen, denn es verhinderte Nachforschungen in meine Richtung, so daß ich, die mir zustehenden Nobelpreise fest im Auge, ungestört an meiner Biographie arbeiten konnte. Außerdem wußte ich immer, daß ich, wenn ich mich outen würde, mit dieser Pressekonferenz-Legende relativ einfach fertig werden könnte. Man muß sich nämlich nur genau anhören, was Schabowski damals sagte: Er hat, als er sich den Journalistenfragen stellte und auf die Fluchtwelle angesprochen wurde, den Flüchtlingen ab sofort die direkte Ausreise in die Bundesrepublik zugesichert, wahrscheinlich, weil er es leid war, daß sich die Welt an Fernsehbildern von kilometerlangen Autoschlangen an der tschechisch-westdeutschen Grenze ergötzen konnte. Um mehr als eine unspektakulärere Fluchtwelle ging es ihm nicht. Zugegeben, eine Stunde später unterbrachen die Abgeordneten des Deutschen Bundestages ihre Debatte zum Vereinsförderungsgesetz, standen auf und sangen das Deutschlandlied. An der Mauer jedoch war bis dahin noch nichts passiert, und es passierte auch weiterhin nichts, außer daß sich viele Begierige versammelten und abwarteten. Und dann kam ich. Sie sagten am Telefon, daß Sie durch die Analyse von Videomaterial auf mich gestoßen wären. Was soll ich da noch leugnen.
Ja, es ist wahr. Ich war's. Ich habe die Berliner Mauer umgeschmissen. Aber wenn es nur das wäre - die Rezensionen der Historiker und Publizisten jedenfalls lesen sich so: »Ende der deutschen Teilung«, »Ende der europäischen Nachkriegsordnung«, »Ende des kurzen 20. Jahrhunderts«, »Ende der Moderne«, »Ende des Kalten Krieges«, »Ende der Ideologien« und »Das Ende der Geschichte«. Wie das tapfere Schneiderlein: Sieben auf einen Streich. Ich werde Ihnen erzählen, wie es dazu kam. Die Welt hat ein Recht auf meine Geschichte, zumal sie einen Sinn ergibt.
Die Geschichte des Mauerfalls ist die Geschichte meines Pinsels, aber wie läßt sich dieser Ansatz in einem Buch unterbringen, das als eine nobelpreiswürdige Kreuzung von David Copperfield und Ein Zeitalter wird besichtigt konzipiert ist? Ich habe zwei Jahre ohne Ergebnis an einer Lösung getüftelt - und jetzt spüren Sie mich auf. Sie verstehen, daß Sie mir nicht ganz ungelegen kommen? Wenn ich über meinen Schwanz schon nicht schreiben kann, werde ich eben darüber reden. Und das sind keine Pennälerprotzereien, sondern Mosaiksteine der historischen Wahrheit, und wenn Sie nicht wollen, daß noch Fragen offenbleiben, müssen Sie schon akzeptieren, daß meine Schilderungen ziemlich schwanzlastig geraten.
Daß ich ausgerechnet Ihnen die Geschichte meines Schwanzes erzähle, hat nicht nur mit Ihrer Spürnase zu tun, sondern vor allem mit Ihrer Visitenkarte. Wann bekommt man schon die Chance, sich einem Korrespondenten der New York Times anzuvertrauen! Zumal ich mich frage, wo Sie jemanden mit meinem Steckbrief - »Ende der Moderne«, »Ende der Geschichte« und so weiter -, wo Sie so jemanden präsentieren? Doch nur auf der Titelseite! Woanders geht's gar nicht! Was für eine Aussicht: Ich, Beendiger der Geschichte, auf der Titelseite der New York Times, dem Sprachrohr des liberalen Weltgewissens. (Um solche Formulierungen bin ich nie verlegen.) Womit mir meine zweite Titelseitenpräsenz bevorsteht, denn bereits als Neunjähriger kam ich auf die Titelseite der NBI, Neue Berliner Illustrierte, der auflagenstärksten Wochenillustrierten. Das war in der dritten Klasse, als wir einen neuen Schuldirektor bekamen. Sinnvolle Freizeitgestaltung war nach seinem Verständnis nur innerhalb von Arbeitsgemeinschaften denkbar, und weil die Beteiligung in Arbeitsgemeinschaften auch in die Statistik einging, peilte unser Direktor als Kampfziel an, daß hundert Prozent seiner Schüler in Arbeitsgemeinschaften mitmachen. Rein gefühlsmäßig neigte ich der AG Segeln zu, aber meine Mutter wollte nicht, daß ich irgendwo bin, wo man sich die Finger einklemmen kann oder - »Ich weiß doch, welche Zustände auf Segelbooten herrschen!« - Splitter einreißt. Daß Holzsplitterverletzungen zu Blutvergiftung, Amputation und Tod führen, war mir durchaus bewußt; immer das Schlimmste zu erwarten und sich gegenseitig auch tiefbesorgt darin einzuweihen war bei uns gang und gäbe. Wenn sie mir etwas Gutes tun wollte, dann war sie tiefbesorgt. Mein Vater, autoritär und rechtschaffen, interessierte sich nicht für Nebensächlichkeiten; er sprach fast nie mit mir, und wenn, nur das Nötigste. »Steck dein Hemd rein!« oder »Sei still!« oder »Komm jetzt!«. Ansonsten war er der Mann, der abends in Trainingshosen vor dem Fernseher saß, die Füße in einer Schüssel Kaltwasser.
»Mach, was du willst, aber zum Segeln gehst du nicht!« Also kein Segeln, dafür AG Junge Naturforscher. Es war Sitte, diese lästigen Arbeitsgemeinschaften immer an die jüngsten Fachlehrer abzuwälzen, und so wurde unsere Arbeitsgemeinschaft durch einen Physiklehrer betreut - der Mann hieß Küfer und hatte mit seinen siebenundzwanzig Jahren »vom vielen Denken«, wie er sagte, eine beträchtliche Glatze. Ich hatte keine Ahnung, was Physik ist. Ich dachte, junge Naturforscher werden Schildkröten füttern oder so was. Herr Küfer konnte mit uns nicht viel anfangen und ließ Unterrichtsfilme über die Weltwirtschaftskrise und den Spanischen Bürgerkrieg rückwärts durch den Projektor laufen. Es waren unvergeßliche Bilder, zum Beispiel, als ein Schutthaufen plötzlich zu stauben begann und sich in ein Haus verzauberte oder als Flugzeuge wie mit einem Magneten Bomben einsammelten, die ihnen von unten entgegentrudelten ... (Als Küfer ein paar Jahre später geschaßt wurde, hieß es unter anderem, er hätte durch rückwärtslaufende Kriegsfilme pazifistische Illusionen geweckt.) Dann sah ich im Fernsehen eine Sendung, in der es um meterhohe Betonmauern ging, die an lärmbelasteten Straßen als Schallbrecher dienten. Da in jener Sendung zweimal das Wort »physikalisch« fiel, fragte ich Herrn Küfer, wie so ein Schallbrecher funktioniert. Herr Küfer griff meine Anregung dankbar auf und vertiefte sich in die Theorie der Akustik. Nach ein paar Wochen hatte die AG Junge Naturforscher einen »Experimentierbaukasten Akustik« entwickelt, den wir zur Eröffnung der »Messe der Meister von morgen« präsentierten. Dabei blieb es nicht - wir wurden zur Kreismesse delegiert und dort für die Bezirksmesse nominiert. Und ich sollte als Standbetreuer eingesetzt werden! Ein Schüler der 3. Klasse als Experte für akustische Experimente! Was würde mein Vater dazu sagen? Ein Vater, der so wenig an mich glaubte, daß er sich nicht mal der Anstrengung unterzog, einen vernichtenden Satz wie »Ach, aus dem Jungen wird doch nichts!« zu Ende zu bringen; er winkte nach den Worten »Ach, aus dem Jungen ...« immer nur resignierend ab. Er sagte nicht mal meinen Namen! Niemals habe ich aus seinem Munde meinen Namen gehört! Ich habe zwar einen Vornamen, der jenseits der Grenze des Zumutbaren liegt - ich heiße Klaus (putzig, nicht wahr? reimt sich auf Maus und Haus), aber daß er meinen Namen völlig ignorierte, kränkt mich irgendwie. Nun wollte ich ihn in seinem Büro besuchen, damit er mich geläutert seinen Kollegen vorstellen kann, mit Worten wie: »Das ist mein Sohn, und...
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