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Sie wollten mich wohl wieder einberufen. Der Vorwand, unter dem ich ins Wehrkreiskommando am Rosenthaler Platz bestellt wurde, klang harmlos, »Aktualisierung Ihrer Unterlagen«, doch dann machten sie ihre Bemerkungen und maßen mich mit Blicken. Ich hatte schon »gedient«, aber wenn es ihnen einfiel, konnten sie mich wieder holen. Sie blätterten in meiner Akte, und ein Hauptmann fragte mich gelangweilt, ob ich am 5. 3. 66 geboren sei. Vermutlich wollte er prüfen, ob meine Armeereflexe wiederaufleben und ich »Jawohl, Genosse Hauptmann« antworte, doch ich gab »Wenns da steht, wirds wohl so sein« zur Antwort, auch wenn das ja nun erst recht ein Grund sein könnte, mich zu ziehen, um mir wieder »Manieren beizubringen«. Der Hauptmann ließ sich noch mehr Dinge bestätigen, die in meiner Akte standen, und vielleicht spielten sie nur mit mir, weil jeder 22-Jährige, der schon »gedient« hatte, auf eine erneute Einberufung so versessen war wie auf die Krätze.
Hinterher analysierte ich in Gedanken jede Geste, an die ich mich erinnern konnte, und versuchte, Hinweise und Signale herauszulesen, doch ich fühlte mich nur umso ohnmächtiger. Denn ich wusste weder, was sie mit mir vorhatten, noch, ob sie überhaupt etwas mit mir vorhatten.
Ich war, vom Wehrkreiskommando am Rosenthaler Platz kommend, die Pieck und die Borsig entlanggegangen. Du konntest damals, wenn du dich auskanntest, den Weg abkürzen, indem du über die Hinterhöfe gingst. Toreinfahrten und Haustüren waren immer offen, hatten anstelle von Schlössern nur ausgefressene, wurmstichige Krater im Holz, und wer durch so eine Toreinfahrt in den ersten und dann in den zweiten Hinterhof ging, konnte feststellen, dass es zwischen den Grundstücken keine Mauern und Zäune gab, und falls doch, fehlten oft Bretter in den Zäunen, oder der Maschendraht war niedergetrampelt. Manchmal standen auch Kellertüren offen, und dann war vielleicht der Kellergang die Verbindung zwischen den Höfen, wenn oben zu war. Diese Schleichwege hatte ich, seitdem ich dreizehn war, auf einem Stadtplan eingetragen, mit einem Bleistift der Härte 5H, und ich hatte dazu ein eigenes Bezeichnungssystem entwickelt, das nur ich verstand und aus dem hervorging, bei welchen Hausnummern einer Straße ein Durchgang existierte und ob dieser ober- oder unterirdisch war. Die ersten Erkundungen fanden um den Hackeschen Markt herum statt, und über die Jahre erweiterte ich meinen Radius. Entsprechend sah die Karte aus, die ich immer bei mir hatte: Das Bleistiftgekritzel war um den Hackeschen Markt am dichtesten und entwirrte sich, je weiter es von diesem Zentrum entfernt war, bis es ganz ausdünnte - oder in Vierteln, in die es mich gelegentlich verschlug, inselweise anzutreffen war. Den Begriff »Stadtindianer« kannte ich als Dreizehnjähriger noch nicht - aber er beschrieb exakt das, was ich sein wollte. Ich ging diese von mir entdeckten Wege, wann immer es sich anbot, oder ich erkundete neue. Als ich aus dem Wehrkreiskommando kam, wollte ich schauen, ob die Schleichwege meiner Karte noch aktuell waren, und kürzte über die Hinterhöfe ab. Das heißt, ich ging in einen Hinterhof, kam in der Parallelstraße wieder raus und ging dort bis zu einem Hauseingang, über den ich zur wiederum nächsten Parallelstraße kommen würde, und so weiter.
Ich war schon in der Tieck, als ich aus einem Keller Musik hörte. Es war live, die Probe einer Band, und es war nicht zu verstehen, ob der Gesang englisch oder deutsch war, obwohl der Sänger immer nur ein und dieselbe Zeile sang. Es war ein schneller, schroffer Song, das Schlagzeug knallte, und der Gitarrist langte ordentlich hin.
Auf der Chausseestraße rumpelte gerade eine Straßenbahn der Linie 46 vorüber. Der Himmel war grau, seit Tagen schon, eine Krähe saß auf einer Mauer, Schneematsch lag überall, und das Pflaster war so schief, dass die Autos am Straßenrand wirkten, als hätten sie auf einer Seite platte Reifen. »Ohne Musik ist das alles nicht auszuhalten« - dieser Satz war mir in den letzten Jahren immer wieder in den Sinn gekommen. Um die Gedanken an das Wehrkreiskommando aus dem Kopf zu kriegen, ging ich in den Keller.
Wenn ich mich lauter Musik aussetze, gerate ich binnen Sekunden in einen anderen Zustand, insbesondere das Gefühl der allgemeinen Bedeutungslosigkeit ist weg. Die Band - sie waren zu fünft - hatte mich zwar bemerkt, nahm aber keinerlei Notiz von mir. Sie waren alle in meinem Alter, nur der Bassist war etwa zehn Jahre älter. Der Gitarrist war ein drahtig-bewegliches Kerlchen mit braunen Augen und einem schönheitspreisverdächtigen Gesicht, sanft und ebenmäßig. Nofretete, wiedergeboren als Mann, das war der Gitarrist. Auch der Keyboarder war eine verdammte Schönheit, allerdings war er ein Typ, wie man ihn in einer Kellerband niemals vermuten würde; er sah aus wie ein Schwiegersohn, hatte ein helles, offenes Gesicht, kurze blonde Haare und sehr feine, schon spinnenartige Finger. Das Gesicht des Bassisten hingegen war von einem Dickicht aus Barthaaren überwachsen, Lippen und Nasenlöcher waren kaum zu sehen. Auch seine Wimpern und Augenbrauen schienen zu wuchern, und obendrein spielte er mit geschlossenen Augen, wobei er nach einem nicht durchschaubaren System seinen Oberkörper hin und her drehte, knickte und ruckte. Der Schlagzeuger saß in einem schwarzen Turnhemd und schwarzen Jeans auf seinem Hocker, und er hatte eine schwarze Wuschelfrisur und engstehende Augen, die ihm die heimtückische Anmutung des schlauen Urfins aus dem Kinderbuch von Alexander Wolkow verliehen, und auf seiner Haut hatte sich ein Schweißfilm gebildet. Doch im Zentrum stand eine Frau, so schön, dass ich sie beschreiben müsste, aber ich versuchs erst gar nicht. Wäre sie eine Indianerin, hätte sie Kleine Kastanie heißen können, und mir war unklar, wieso sich die Band in ihrer Gegenwart nicht pausenlos verspielte. Sie war die Sängerin der meisten Songs; nur zufällig hatte es sich ergeben, dass sie nicht sang, als ich gerade kam. Sie hatte eine akustische Gitarre umgehängt, so groß und sperrig wie eine Schublade. Eine Glühbirne an der Decke spendete Licht, das harte Schatten warf. Die Wände waren geweißt, was die Schatten umso schärfer machte, und ein paar Bahnheizkörper standen herum. Sie schafften es aber kaum, den Raum zu erwärmen. Abgesehen vom Schlagzeuger trug die gesamte Band Rollkragenpullover.
Ich verstand jetzt auch, was der Sänger die ganze Zeit sang, nämlich »Unterm Radar, unterm Radar, wir fliegen, fliegen unterm Radar«. Deutsch also. Er schlug dazu in die Saiten, und manchmal packte er das Mikrofon, als müsste er darum kämpfen. Wenn er sang, flog auch immer etwas Spucke; aus nächster Nähe betrachtet, ist Rockmusik richtig Arbeit. Man glaubt, die Energie kommt aus den Lautsprecherboxen und Verstärkern. Aber das stimmt nicht. Die Energie kommt aus den Menschen und ihrer Wut.
Nach dem Titel begannen sie gleich den nächsten. Schwere Gitarren spielten einen sturen, monotonen Rhythmus und bauten, unterstützt durch ein waberndes Keyboard, eine düstere Maschinerie von einem Song auf. Dann setzten die Instrumente aus, nur Bass und Schlagzeug spielten, als die Sängerin ihren Einsatz hatte. Sie hatte eine weiche, unglaublich klare Stimme, was einen hammermäßigen Kontrast zur bisherigen Grobheit dieses Songs bildete. Um die Sängerin nicht die ganze Zeit über anzuglotzen, konzentrierte ich mich auf die Hände des Keyboarders. Wie kommt man nur zu so langen Fingern? War das die Organspende eines expressionistischen Stummfilmwesens?
Der Keyboarder hatte wohl das Sagen, denn er war derjenige, der Songs unterbrach, wenn etwas nicht hinhaute, woraufhin gefeilt wurde, bis es besser wurde oder zumindest anders. Da er die Bandmitglieder mit Namen ansprach, bekam ich schnell mit, dass der Schlagzeuger Micha hieß, der Gitarrist André und der Bassist Rainer. Die Sängerin sprach er allerdings nie mit ihrem Namen an, und sein Name fiel auch nie.
Beim dritten oder vierten Song hörte der Keyboarder wieder mittendrin auf zu spielen und sagte: »Hier fehlt irgendwie ne Farbe. So was wie .«
»Saxophon?«, schlug der Gitarrist vor.
»Nee.«
»Mundharmonika?«, fragte der Gitarrist.
»Mundharmonika wär gut«, sagte der Keyboarder. »Aber kann ja keiner. - Oder du vielleicht?«
Die Frage ging an mich, und ich dachte, Mann, wenn ich jetzt Ja sage, bin ich in ner Band, mache Musik, was mit Abstand das Aufregendste war, was man in diesem Land machen konnte. Aber leider konnte ich weder Mundharmonika noch ein anderes Instrument.
Der Gitarrist sagte: »Ich kanns ja nach Mundharmonika klingen lassen.« Sie spielten die Stelle noch mal, und ich fand mich wieder umdröhnt von Musik, so bedeutsam wie eine Religion oder die Geburt einer Galaxie. Alles andere war dagegen blass und profan.
Ich dachte an das Wehrkreiskommando, die Neonröhren dort und ihre gerippten Verkleidungen, an die billigen Türen und Klinken, an die teigigen Gesichter der Offiziere und an deren Uniformen, von denen ich bei der bloßen Vorstellung, sie anzuziehen, Pickel bekam. Das Wehrkreiskommando war eine einzige Zumutung, ein Tempel des Lächerlichen. Aber in diesem Keller hatte ich etwas gefunden, das ich nicht mehr hergeben, nicht mehr loslassen wollte. Natürlich hatte ich schon oft Musik gehört, von Platten, vom Band oder live, auch lauter als in diesem Keller - und trotzdem war der Keller neu. Es war der zweite Song gewesen, der mit Gitarrenklängen begonnen hatte, zu denen sich erst Schlagzeug, dann Bass und Keyboard gesellt hatten, und jedes dieser Instrumente hatte den Song bedeutender und...
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