Schweitzer Fachinformationen
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Die Nachricht auf ihrem Handy machte Nikki Werner mal wieder sehr deutlich, dass sie im Leben ihres Vaters keine Rolle spielte. Vier Monate lang hatte das kleine Mädchen in ihr in ihrem Herzen gerufen, ihr Vater möge doch zurückkommen, vier Monate lang hatte sie sich gefragt, ob er ihre Schreie wohl hören könnte. Doch nun hatte sie ihre Antwort bekommen. Sie war laut und deutlich und unübersehbar in den sozialen Netzwerken verewigt.
Noch einmal las sie, was Hannah geschrieben hatte. Die Worte waren immer noch dieselben.
Ich dachte, das solltest du wissen.
Auch das Foto hatte sich nicht verändert. Ein Screenshot von einem Post. Ihr Vater stand in einem hellgrauen Anzug neben einer Frau in einem weißen Kleid. An seinem Revers steckte ein Anstecksträußchen. Seine beiden erwachsenen Töchter hatten diese Frau noch nie gesehen.
Sie schickte ihrer Schwester eine Antwort.
Ihm scheint alles egal zu sein.
War das so? Waren sie ihm wirklich gleichgültig? Alle beide?
Die grauen Wolken vor dem Fenster ihres Klassenzimmers breiteten sich über dem stahlblauen Morgenhimmel aus, blähten sich auf wie ein Ballon. Wie ein Makel über einem ruhig daliegenden Meer. Die dunkle Wolke bündelte ihre Kräfte und ließ sich mitreißen von dem unsichtbaren Wind, der auch an den Baumwipfeln riss. Die Welt drehte sich in einem atemberaubenden Tempo weiter, ohne Rücksicht auf die erschöpften und verzweifelten Menschen.
Vier lange Monate waren vergangen, seit ihr Vater eine Tasche gepackt und ihre Mutter und sie, seine beiden Töchter, verlassen hatte. Alles, was sie über ihn zu wissen glaubten, über ihre Familie, über die Liebe, alles war kaputt. Wie viele ihrer Vorstellungen würde sie noch korrigieren müssen?
Die Tür zum Klassenzimmer quietschte in den Angeln. Tracy Brown trat ein und hob die beiden Pappbecher mit Kaffee in ihrer Hand hoch und sagte: "Halleluja, Miss Werner, der letzte Schultag ist da! Juchhu!"
Ihre Füße steckten in diesen Stoffsandalen, die Frauen mittleren Alters, wie sie es war, so liebten. Dazu trug sie ein T-Shirt mit einem witzigen Aufdruck. Wenn ihr Outfit ein Hinweis auf ihre Wünsche für den anstehenden Sommer war, dann gab es keinen Zweifel. Sie wollte ihn ohne Kleiderzwänge und mit jeder Menge Baseballspielen der Kansas City Royals genießen.
Nikki riss sich zusammen und zwang mühsam ein Lächeln auf ihr Gesicht, aber Tracy ließ sich nichts vormachen. Seit siebzehn Jahren gab sie Mathematikunterricht an der Highschool und erspürte die Fassungslosigkeit der jüngeren Kollegin, wie ein Habicht eine Maus aufspürte.
Wie vorauszusehen war, wurden Tracys Gesichtszüge sofort weicher, während sie die Arme herunternahm. "Das ist nicht die Stimmung, die man von einer Lehrerin fünf Stunden vor Ferienbeginn erwartet. Was ist passiert? Wieder Jacobs Mutter wegen seiner Noten?"
Nikki schüttelte den Kopf. Sie hielt ihr Telefon in die Höhe.
Tracy trat um den Tisch herum, und während sie las, fiel ihr die Kinnlade herunter. "Er hat geheiratet?"
"So sieht es aus."
"Wann?"
"Am vergangenen Samstag hat seine neue Frau dieses Foto gepostet."
"Oh, Mann, das tut mir so leid." Tracy ließ sich auf den Stuhl neben Nikkis Schreibtisch sinken. Genau auf diesem Stuhl saß sie an jedem Donnerstag vor Unterrichtsbeginn zu einer kleinen "Plauder- und Gebetsstunde", wie sie das nannte. Diese fünfunddreißig Minuten der intensiven Gespräche und des Gebets hatten Nikki durch ihr erstes Jahr an der Northwood High getragen.
Nikki zuckte die Achseln. "Ist seine Entscheidung, oder?" Hinter ihren Augen pochte der Schmerz.
"Deswegen ist es noch lange nicht richtig oder leicht."
Ja, das stimmte. Nikki kaute auf ihrer Unterlippe herum und legte ihr Telefon mit dem Display nach unten auf den Tisch.
"Möchtest du wie immer einen Latte?", fragte Tracy.
"Nein, ich bin nicht in der Stimmung." Doch sofort korrigierte sie sich: "Na los, gib schon her."
Mit einem verschmitzten Grinsen drückte Tracy ihr den Becher in die Hand.
Der erste Schluck tat so unglaublich gut! Die warme, cremige Flüssigkeit erinnerte sie an jene hoffnungsvollen Tage ihres ersten Schuljahres, damals, als sie keine anderen Probleme hatte, als zu überlegen, wie sie den Appetit ihrer Schüler auf die Literatur von Faulkner, Ellison und Twain wecken könnte. Denn ihrer Meinung nach waren die Werke dieser Autoren sehr wichtig für die Bildung der amerikanischen Bevölkerung. Damals, als sie von der Affäre ihres Vaters noch nichts gewusst hatte.
"Möchtest du darüber reden?", fragte Tracy.
Nikki trommelte mit den Fingern auf den Becher. Sie schüttelte den Kopf.
"Möchtest du deswegen heulen?"
Ein kleines Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. "Ja, das würde ich am liebsten."
"Ich auch. Weiß deine Mutter eigentlich Bescheid?" Tracy deutete auf Nikkis Telefon.
"Das weiß ich nicht."
"Hoffentlich erfährt sie es nicht aus den sozialen Medien."
"Sie ist schon eine ganze Weile nicht mehr in den sozialen Medien aktiv. Ich übrigens auch nicht. Seit ." Sie schluckte die Worte lieber hinunter, denn sie klangen zu verbittert.
"Seit die Wahrheit ans Licht gekommen ist", beendete ihre Freundin den Satz.
Nikki nickte. Dieser Tag war der schwerste Tag in ihrem Leben gewesen.
"Seine Entscheidungen kannst du nicht beeinflussen", erklärte Tracy. "Aber deine Entscheidungen liegen in deiner Verantwortung. Und ich vermute, dass in diesem Sommer wundervolle Entscheidungen auf dich zukommen werden. Vor allem in Bezug auf einen gewissen jungen Mann." Sie zwinkerte ihr zu. Damit lenkte sie geschickt das Thema auf Isaac.
Das Pochen hinter ihren Augen verstärkte sich und wanderte hinunter in ihre Brust. Das passierte immer dann, wenn sein Name fiel. Es war, als hätte sich der Schmerz ihrer Mutter ganz unvermittelt auf sie übertragen. "Wir wissen doch gar nicht, ob Isaac mir einen Antrag machen wird."
Tracy blickte sie über den Rand ihrer Brille hinweg an. "Ach, nein?"
Nikki zog ihren Becher zu sich heran. "Das ist auf jeden Fall nicht sicher."
"Möchtest du denn, dass er dir einen Antrag macht?"
"Ja", erwiderte sie ein klein wenig zu schnell.
Tracy legte den Kopf zur Seite und blickte sie wissend an. Diesen Blick hatte sie mittlerweile perfektioniert.
"Ich liebe ihn. Und ich habe mir vorgestellt, dass wir heiraten. Aber ."
"Aber da steckt mehr dahinter?"
"Ja."
"Hast du mit Isaac darüber gesprochen?"
Nikki rutschte unsicher auf ihrem Stuhl hin und her. "Nein."
Tracy streckte den Arm aus und legte ihre Hand auf die von Nikki. "Dieses Gespräch solltest du tatsächlich früher oder später führen, denn die Fähigkeit, Gedanken zu lesen, ist bei Männern nicht sehr ausgeprägt."
"Man sollte meinen, dass sie diese Fähigkeit mittlerweile doch ausgebaut haben sollten."
"Ja, das sollte man meinen." Tracy lachte leise und warf einen Blick auf ihre Uhr. "Es wird langsam Zeit, dass wir uns dem Zirkus stellen. Vorher solltest du auf jeden Fall deine Portion Koffein bekommen und eine Portion Fröhlichkeit dazu." Sie hob ihren Becher und prostete ihr zu. "Auf den Sommer."
Nikki grinste, stieß mit Tracy an und nahm einen großen, stärkenden Schluck. Aber ihre Seele blieb genauso bewölkt wie der Himmel.
Die Wolken, drohend und düster.
* * *
Schon seit Wochen nahm Chris seine Anrufe nicht mehr entgegen, doch das hinderte Wes Werner nicht daran, es immer wieder neu zu probieren. "Auf einen Freund kann man sich immer verlassen, und ein Bruder ist dazu da, dass man einen Helfer in der Not hat", war in Sprüche 17,17 zu lesen, und wenn stimmte, was Tante Emma in den sozialen Medien gelesen hatte, dann ging es mit seinem kleinen Bruder stetig bergab. Das war für Wes sogar auf der anderen Seite Missouris, wo er wohnte, deutlich zu erkennen.
Ob Lydia das Foto wohl gesehen hatte? Und die Mädchen?
Die Scheidung war kaum einen Monat her.
Mit dem Telefon am Ohr trat er hinaus auf seine Veranda. Die Vormittagssonne entlockte den geflügelten Sängern in der hundert Jahre alten Eiche am Rande des Hofes fröhliche Melodien. Auf diesem uralten Baum hatten Chris und er als Kinder unzählige Abenteuer erlebt. In der Ferne waren die sanften Abhänge der Werner-Farm zu erkennen.
Am anderen Ende der Leitung läutete es - und läutete - und wurde ignoriert. Der Anrufbeantworter sprang an. Wieder mal.
Wes holte tief Luft und hielt sie an, während er auf den Piepton wartete und ein schnelles Stoßgebet zum Himmel schickte mit der Bitte, er möge doch die richtigen Worte finden und seine Botschaft nicht zu scharf formulieren.
Piep.
"Hallo, Chris, hier spricht Wes. Ich denke jeden Tag an dich. Und an deine Familie. Kürzlich habe ich mit Tante Emma gesprochen. Sie hat mir erzählt, dass du und, äh, Sheryl? Stimmt das? Dass ihr nach Oklahoma gezogen seid und du jetzt nur eine Stunde Fahrt von ihr entfernt wohnst." Er hielt inne. "Sie erzählte außerdem, dass du vielleicht . noch andere wichtige Neuigkeiten hast. Ich würde gern mal mit dir reden. Ruf mich doch bitte an."
Kaum hatte er das Gespräch beendet, fiel ihm ein, was er auch hätte sagen können, eine halbe Minute zu spät.
Ich wünsche mir, dass du glücklich bist -...
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