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Am 4. April 2012 veröffentlichten renommierte europäische Tageszeitungen ein Gedicht von Günter Grass, in dem Deutschlands bekanntester zeitgenössischer Autor schrieb, es sei an der Zeit, das öffentliche Schweigen über die »Atommacht Israel« zu brechen. Das Land gefährde den »ohnehin brüchigen Weltfrieden«, weil es einen nuklearen »Erstschlag« gegen den Iran in Erwägung ziehe. Deutschland treffe dabei eine »Mitschuld«, da es U-Boote an Israel liefere, die als Abschussrampen für Raketen verwendet werden könnten. Sowohl die israelische Nuklearpolitik als auch die iranischen Atomanlagen müssten unter internationale »Kontrolle« gestellt werden (Grass 2012, S. 88f.).
Das Gedicht Was gesagt werden muss löste eine heftige öffentliche Debatte aus, die sich alsbald zu einem internationalen Politikum auswuchs. Eine Minderheit meinte, Grass habe »etwas Vernünftiges« (Grosser 2012) gesagt, mit seinem Gedicht liege er »richtig« (Augstein 2012). Die Mehrheit hingegen sprach von einem »Pamphlet« (Grünbein 2012), einer inakzeptablen »Verkehrung von Opfern zu Tätern« (Goldhagen 2012), einem »moralischen und politischen Skandal« (Naumann 2012).
Collage der Grass-Kritik 2006–2012
Die Provokation, die von Grass’ Israel-Gedicht ausging, stellt alles andere als ein isoliertes Phänomen dar. Der Schriftsteller hat von Beginn seiner Karriere an mit literarischen und publizistischen Veröffentlichungen Anstoß erregt. Als 1959 sein Debütroman Die Blechtrommel erschien, wurde er wegen der Schilderung sexueller Szenen und der Profanierung christlicher Symbole der »Pornographie« und »Blasphemie« (zit. nach Görtz 1984a, S. 98f.) bezichtigt. Der Bremer Senat verweigerte die Verleihung des städtischen Literaturpreises an Grass, christliche Fanatiker verbrannten seinen Roman Mitte der sechziger Jahre am Düsseldorfer Rheinufer. Er sei ein »Vaterlandsverräter« (GA 12, 234), hieß es, als Grass seinen Landsleuten 1990 wegen des Völkermords an den europäischen Juden das Recht auf den nationalen Einheitsstaat absprach. Später warf ihm ein Bundesinnenminister »Antiamerikanismus« (zit. nach Anon. 2001) vor, weil er nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 die Legitimität der amerikanischen Vergeltungsabsichten angezweifelt hatte. Und als er 2012 mit lyrischen Mitteln die israelische Atompolitik kritisierte, bezichtigte man ihn des »Antisemitismus« (Joffe 2012). Er stimme Grass »ausdrücklich nicht zu« (zit. nach Bannas 2012), ließ der Bundespräsident verlauten. Der israelische Premierminister sah in Grass’ Gedicht eine »Verleumdung des jüdischen Staates« (zit. nach Wergin 2012), sein Innenminister erklärte Grass zur Persona non grata und forderte, ihm den Nobelpreis für Literatur abzuerkennen.
Dass Grass immer wieder provozierende Nadelstiche gesetzt hat, die neben Literaturkritikern auch Minister und selbst Präsidenten auf den Plan gerufen haben, gründet in seinem Selbstverständnis als Schriftsteller und engagierter Intellektueller. Grass begreift seine Literatur und seine Rolle als öffentliche Figur in der großen europäischen Tradition der Aufklärung. Angefangen von der Blechtrommel bis hin zu jenem Israel-Gedicht – stets ist es ihm vor allem anderen darum gegangen, »Tatsachen ans Licht zu fördern, Mystifizierungen zu zerstören« (WA X, 182). In den bis heute vorliegenden neunzehn Prosabänden, elf Theaterspielen, elf Lyrik-Bänden und in Hunderten von Reden, Essays und Gesprächen schildert Grass Geschichten, die vergessen oder verdrängt wurden. Dabei stellt er Fragen, die oft als zu provokativ, zu radikal, zu unerfreulich gelten, und bringt zur Sprache, was aus seiner Sicht gesagt werden muss. »Ich komme von der europäischen Aufklärung her« (WA X, 347), ist er im Lauf der Jahre nicht müde geworden zu betonen. Es war nicht zuletzt diese traditionsbewusste und mutige Position, die der Schwedischen Akademie 1999 Anlass gab, den Nobelpreis für Literatur an den »Spätaufklärer« (Engdahl 1999b) Günter Grass zu verleihen, wie es in der offiziellen Begründung heißt.
Der Gegenstand, mit dem sich der Aufklärer Grass seit nahezu sechs Jahrzehnten auseinandersetzt, ist die Geschichte seines Zeitalters: die vorwiegend konflikthaften Ereignisse und Entwicklungen des 20. Jahrhunderts, insbesondere die Zeit des Nationalsozialismus und dessen bis in die Gegenwart reichender Schatten. Der Autor weiß das selbst biografisch zu erklären: Wer, wie Grass, das Ende des Zweiten Weltkriegs als siebzehnjähriger Soldat der Waffen-SS »nur zufällig überlebt« habe, »dem ist der Erzählfaden vorgesponnen, der ist nicht frei in der Wahl seines Stoffes, dem sehen beim Schreiben zu viele Tote zu« (GA 12, 454). Das gilt vor allem für die Danziger Trilogie – die frühen Romane Die Blechtrommel (1959) und Hundejahre (1963) sowie die Novelle Katz und Maus (1961) –, die seinen Ruhm als einer der großen Schriftsteller unserer Zeit begründet haben. In diesen drei Prosawerken, so Grass,
[…] war ich bemüht, die Wirklichkeit einer ganzen Epoche, mit ihren Widersprüchen und Absurditäten in ihrer kleinbürgerlichen Enge und mit ihrem überdimensionalen Verbrechen, in literarischer Form darzustellen (GA 11, 363).
Entscheidend für die Verwirklichung dieses Projekts war, dass Grass – zunächst mit literarischen Mitteln und dann auch als Figur des öffentlichen Lebens – das große Schweigen brach, das nach der nationalsozialistischen Katastrophe in Deutschland herrschte. Dass er selbst schuldig wurde, weil er als Jugendlicher unterm Hakenkreuz keine kritischen Fragen stellte, gehört zu den eigentlichen Lehren, die er aus seiner Sozialisation im Dritten Reich gezogen hat. Denn nicht nur die Täter, auch diejenigen, die den Mund halten, wo sie das Unerhörte beim Namen nennen müssten, machen sich schuldig. Seit Grass als Schriftsteller und politisch engagierter Zeitgenosse in Erscheinung getreten ist, sind ihm Schweigen und Schuld zwei Seiten ein und derselben Medaille: »Wer schweigt, wird schuldig« (GA 11, 42), lautet das Fazit einer seiner ersten öffentlichen Interventionen im Jahr 1961. Das »Thema Schuld« ist deshalb sein »Thema des 20. Jahrhunderts. Jedenfalls hat mich das mein Leben lang begleitet. Und es wird auch so bleiben« (zit. nach Frenz/Matthiesen 2007, 00:06:22).
Die Geschichte des Zeitalters, an der Grass sich abarbeitet, stellt sich für ihn »zuallererst einmal« als »ein absurder Vorgang« (WA X, 100) dar. Das heißt, die Vernunftwidrigkeit sowohl der schuldhaften deutschen Vergangenheit als auch vieler gegenwärtiger Zeitläufte zeichnet ein absurdes Geschichtsbild, das »sich in meiner Arbeit weiter bestätigt hat. Wohl auch in meiner Einsicht, wie ich als Zeitgenosse Gegenwart erfahre« (WA X, 368). Grass begreift sich so als Aufklärer wider die Absurdität seiner Zeit.
Die Position, die es ihm erlaubt, in einer vernunftwidrigen Welt die Rolle des aufklärerischen Künstlers und Intellektuellen zu spielen, fand er bereits nach dem Krieg in Albert Camus’ Neudeutung des Mythos von Sisyphos, jenem berühmten existenzialistischen Versuch über das Absurde aus dem Jahr 1942. Grass erkannte sich Anfang der fünfziger Jahre wieder in der Figur des Sisyphos. Der griechischen Mythologie zufolge ist dieser von den Göttern dazu verurteilt, in einem unaufhörlichen und vergeblichen Kreislauf einen Stein bergauf zu wälzen, von dessen Gipfel der Fels nach jedem Versuch wieder zu Tal rollt. Sisyphos, wie Camus ihn interpretiert und auch Grass ihn begreift, ist der Held wider das Absurde. Er nimmt sein Schicksal an, indem er in einer fragwürdigen Welt unablässig den Stein wälzt und seiner Existenz auf diese Weise Sinn verleiht. Als Grass 1999 der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde, stimmte er in seiner Dankesrede eine selbstironische Hymne auf den mythischen Steinewälzer an:
Franz von Stuck: Sisyphus, 1920
In meiner Gottlosigkeit bleibt mir einzig übrig, das Knie vor jenem Heiligen zu beugen, der bislang immer hilfreich gewesen ist und die schwersten Brocken ins Rollen gebracht hat. Also flehe ich: Heiliger, von Camus’ Gnaden nobelierter Sisyphos, bitte, sorge dafür, dass der Stein oben nicht liegen bleibt, dass wir ihn weiterhin wälzen dürfen, auf dass wir wie du glücklich mit unserem Stein sein können und die erzählte Geschichte von der Mühsal unserer Existenz kein Ende findet (GA 12, 571).
Wie bei allen Aufklärern existiert auch bei Grass eine Schattenseite der Vernunft. Als er 2006 in seiner Autobiografie Beim Häuten der...
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