Schweitzer Fachinformationen
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ZWEI
»Ein herzliches Willkommen, Ihr edlen Damen und Herren! Lasset Euch verzaubern, denn die Stadt Bad Langensalza hat zum großen Mittelalterstadtfest geladen.« Berthold von der schönen Aue, im wahren Leben der Bürgermeister der hübschen Kur- und Rosenstadt, stand mitten auf der großen Bühne und begrüßte die zahlreichen, teils illustren Gäste. Während er sprach, wackelte die Straußenfeder, die in seinem ausladenden weinroten Samtbarett steckte, fröhlich auf und ab. Der Schweiß rann ihm die Schläfen hinunter, und seine Wangen glühten. Selten hatten die Bad Langensalzaer zu ihrem Mittelalterstadtfest am letzten Augustwochenende eine derartige Hitze erlebt. Doch heute brannte die Sonne erbarmungslos vom Himmel.
Am frühen Nachmittag waren die Gaukler, Musikanten, Ritter, Händler, Stelzenläufer, Fahnenschwinger und allerlei Gefolge in der Stadt eingefallen und hatten unter den Klängen von Dudelsäcken, Trommeln und Flöten das Stadtoberhaupt nebst der schönen Rosenkönigin und dem Herold der Thüringer Landgrafen, Randolf zu Duringen, vom Rathaus abgeholt und über die belebte Marktstraße zur großen Bühne auf dem Töpfermarkt begleitet. Nun stand der Bürgermeister unter den schwarzen Planen der Bühnenverkleidung und schwitzte aus allen Poren. Die weinrote Samtweste mit den aufgenähten hellgrauen Fellapplikationen, das geschlossene Leinenhemd und die dicken Hosen taten dabei ihr Übriges.
Randolf zu Duringen, der wie jedes Jahr mit frecher Zunge durch das Programm führte, nickte mit wichtiger und übertrieben ehrerbietiger Miene zu den Worten des Stadtoberhauptes und animierte das Publikum mittels seines Heroldstabes zum Applaudieren. Dabei verrutschte ihm fortwährend das rot-schwarze Chaperon, das er auf dem Kopf trug. Mit zackigen Handbewegungen richtete er es ein ums andere Mal und warf die lange herabhängende Spitze verwegen zur Seite. Der stattliche Mann steckte bis zu den Waden in einem rot-blau-gelben Wappenrock, der mit dem Thüringer Löwen, Sternen und Kreuzen verziert war. Darunter blitzte eine dunkelblaue Strumpfhose hervor. An den Füßen trug er abgewetzte dunkelbraune Schnabelschuhe, in denen er beschwingt hin und her tänzelte. Er vermittelte nicht den Eindruck, als würden ihm die hohen Temperaturen etwas ausmachen. Dagegen schien die Rosenkönigin, die unschwer daran zu erkennen war, dass ihr ein Korb mit dunkelroten Rosen über dem Arm hing, in ihrem hellgrünen langen Samtkleid und mit ihrem breiten, Ton in Ton gehaltenen Stirnreif förmlich wegzufließen. Sie presste die Lippen zusammen und lächelte tapfer.
»Das sechsundzwanzigste Mittelalterstadtfest ist eröffnet«, rief der Bürgermeister voller Überschwang. Er entledigte sich seines großen Hutes und fächelte sich und der Rosenkönigin damit abwechselnd etwas Luft zu, denn jetzt kamen die Gaukler und Spielleute dran, die unter lautem Getöse vor der Bühne aufzogen, um dem Stadtoberhaupt ihre Aufwartung zu machen. Berthold von der schönen Aue lachte fröhlich, während das Spielmannsduo »Pampatut« in gestreiften Hosen und bunten Gewändern nach vorn trat und, begleitet von Drehleier und Cister, lautstark derbe Lieder zum Besten gab. Mühelos gelang es den beiden stadtbekannten Musikanten, die Zuhörer zu begeistern, sodass kurze Zeit später der gesamte Töpfermarkt am Ende jeder Strophe die Arme nach oben riss und ein schallendes »Hey!« hören ließ.
Nur wenige Minuten nach der offiziellen Eröffnung befand sich Bad Langensalza im berüchtigten Mittelalterstadtfestfieber.
Michelle Silbermann hörte von alledem nichts. Hastig hatte sie den Damen im Zollhäuschen die abgezählten acht Euro hingelegt und ihnen ihren schmalen Arm entgegengestreckt, damit sie ihr das rote Papierarmbändchen, die weithin sichtbare Eintrittskarte, umlegen konnten. Ohne ein Wort an die beiden Frauen zu richten, war sie über den Töpfermarkt in Richtung Marktstraße davongestürmt.
Michelle war mit einer mintgrünen Strickjacke bekleidet, deren vordere Teile sie auf Höhe ihrer flachen Brüste krampfhaft zusammenhielt, als würde sie sich vor einem eisigen Wind schützen wollen. Mit gesenktem Haupt eilte sie durch die Bad Langensalzaer Innenstadt, vorbei an Ständen mit Töpferwaren, Salzprodukten, mittelalterlichem Kinderspielzeug, den Auslagen der Kürschner, Silberschmuck, den Kesseln der Färberinnen und unzähligen anderen Ständen von Händlern und Handwerkern, die ihre Waren feilboten. Um sie herum schlenderten die Besucher, viele von ihnen in mittelalterlichen Kostümen, neugierig von Bude zu Bude, ließen sich an den Tischen und Bänken vor den Bratereien, Weinschenken oder Hütten mit leckerem Naschwerk nieder oder suchten sich Plätze auf den Tribünen der zahlreichen Bühnen. Immer wieder musste Michelle Entgegenkommenden ausweichen, sich durch starre Massen zwängen, aufpassen, dass sie nicht in abrupt stehen bleibende Besucher hineinlief. Das Gedränge war so groß, dass sie niemandem auffiel.
Ihr Blick klebte am Kopfsteinpflaster. Sie wollte keine Bekannten treffen, vielleicht gar mit ihnen reden müssen. Vor der Marktkirche wäre sie fast in die Flugbahn des Messers eines kleinen Jungen gelaufen, der sich beim Axt- und Messerwerfen auf eine mit einem wilden Bären bemalte Spanholzplatte versuchte. Der entsetzte Schrei der Mutter ließ das Kind innehalten, sodass Michelle unversehrt, aber ohne weiter Notiz davon zu nehmen, passieren konnte. Vor dem in direkter Nachbarschaft stehenden Badehaus, einem überdachten Podest, auf dem für alle sichtbar zwei große runde Zuber mit Badewasser standen, drängten sich die Leute so dicht, dass Michelle Mühe hatte vorbeizukommen. Zwei vollbusige, nur mit einem Leinentuch um die schlanken Hüften bekleidete Schönheiten hatten den Anfang gemacht und waren kichernd in einen der Bottiche gestiegen. Da noch mindestens acht weitere Personen Platz darin finden konnten, herrschte derzeit reger Andrang vonseiten der männlichen Festbesucher. Als jedoch eine korpulente Dame mit viel zu engen gelben Bermudas, einem ausgeleierten Muskelshirt, schiefen Zähnen und einer billigen Tätowierung auf ihrer behaarten Wade an die Reihe kam, ihre brennende Zigarette mit ihren Flipflops austrat und bereits auf der kleinen Treppe zum Podest damit begann, sich komplett zu entkleiden, schwand das Interesse an der Abkühlung im Badezuber auffällig.
Michelle bemerkte auch das nicht. Zielsicher steuerte sie auf ein kleines, unscheinbares Rundzelt zu, dessen weißer Baldachin von einer Bordüre aus auf dem Kopf stehenden Zinnen gesäumt wurde. Kurz verharrte sie vor dem mit hellblauen Tüchern verschlossenen Eingangsbereich und schaute nachdenklich auf das seitlich daneben hängende verwitterte Holzbrett, auf dem in dicken dunkelroten Buchstaben das Wort »Handlesen« geschrieben stand. Dann drückte sie den Stoff beiseite und trat ein.
Die Luft im Zelt war heiß und stickig. Es herrschte ein etwas diffuses, aber angenehm warmes Licht, denn die Seitenwände waren mit riesigen gelben Tüchern ausstaffiert worden. An der hinteren Wand hing eine dunkelblaue Stoffbahn, auf der ein golden leuchtender Horoskopkreis, eingerahmt von Tausenden Sternen, zu sehen war. Davor stand ein mit einer roten Decke eingeschlagenes niedriges Bänkchen, auf dem zwei dicke weiße Kerzen brannten, deren Flammen sich in einer Kristallkugel von der Größe eines Handballs spiegelten. Direkt neben den Kerzen stand ein braunes aufgeklapptes Holzkistchen, in das ein Deck Tarotkarten einsortiert war, und ebenso ein tönernes Trinkgefäß mit ringsherum eingebrannten Runen. In der Mitte des mit dicken Teppichen ausgelegten Holzbodens gab es drei Fußbänke, auf denen jeweils ein braunes Schaffell lag, die sich um einen niedrigen Tisch gruppierten. Eine dunkelblaue Samtdecke mit einer aufgenähten strahlend hellen Sonne lag darauf. Eine zweite, kleinere Glaskugel und ein Salzstein mit Teelicht nahmen etwa ein Drittel der Tischplatte ein.
An der linken Seite saß eine Frau mit angewinkelten Beinen auf der Erde. Ihren Ellenbogen hatte sie halbschräg auf der hinter ihr stehenden Fußbank abgestützt. Der derbe Stoff ihres langen, am Oberkörper gerafften dunkelroten Kleides überdeckte wallend einen Teil ihrer nackten Füße. Ihre dunklen langen Haare hatte sie mit einem bunten Tuch zu bändigen versucht, an ihren Ohrläppchen trug sie Ohrringe in Form von Halbmonden. Um ihren schmalen Hals baumelten einige Lederbänder, an denen jeweils ein Edelstein aufgefädelt war. Rosenquarz, Malachit, Lapislazuli, Amethyst, Opal und Hämatit. Die Dame war höchstens Mitte vierzig, ausnehmend hübsch, hatte dunkle, warme Augen und lächelte Michelle freundlich an. Sie nickte auffordernd und gab ihrem Gast mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie direkt gegenüber Platz nehmen sollte.
»Möchtest du, dass ich dir die Karten lege?«
»Aus der Hand lesen, Karten gehen auch. Ich weiß nicht recht«, sagte Michelle hastig, während sie sich etwas unbeholfen auf einer der Fußbänke niederließ und ihr Kleid richtete. »Bitte.« Ihre Wangen erröteten leicht. Sie wagte es nicht, der Frau in die Augen zu sehen. Unsicher knispelte sie am obersten Knopf ihrer Strickjacke.
Die Dame nickte verständig, beugte sich nach vorn, nahm Michelles Hand, zog sie ein wenig zu sich herüber, drehte ihre Handfläche nach oben und streichelte sanft darüber. »Was möchtest du wissen?«
Michelle zuckte mit den Schultern. Ihr Gesicht war ausdruckslos, absolut gleichgültig. Sie fror.
Die Handleserin senkte den Kopf und betrachtete ausgiebig Michelles schmale Hand. »Du hast mit etwas Neuem begonnen. Es macht dir viel Freude.«
Michelle unterdrückte ein Nicken.
»Du bist sehr gut in dem, was du tust. Sehr gewissenhaft und ausdauernd. Du bist ein starker, glücklicher Mensch, das ist schön. Und du hast Pläne....
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