Schweitzer Fachinformationen
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EINS
»Sie sah so schön aus.«
»Ja, wie eine Elfe aus dem Märchenwald.«
»Daran hast du gedacht?«
»Du nicht?«
»Hm. Vielleicht.« Pause. »Eine gewisse Ähnlichkeit besteht. Diese zarten Gliedmaßen und das puppenhafte Gesicht.«
»Das konnte man doch gar nicht richtig sehen.« Sie biss sich auf die Unterlippe und streckte dann das Kinn nach vorn, als müsste sie darüber nachdenken. »Na ja, schon irgendwie, mit ein wenig Vorstellungskraft.«
»Nach allem, was wir über den verwunschenen Granitzwald gelesen haben, würde das auch passen, eine Elfe unter dem dichten Blattgrün der Bäume und auf einem Teppich aus Moos.«
»Ja, nicht wahr? Und vergiss nicht den Schwarzen See.« Das Kaffeegeschirr klapperte, als sie die Tasse zurück auf den Unterteller stellte. »Irgendwie unheimlich ist es dort schon. Im Reiseführer stand, dass er mindestens fünfzehn Meter tief sein soll.« Sie nickte angetan. »Wer weiß, was da unten alles ist. Kannst du dir vorstellen -«
»Nein. Kein Bedarf. Unsere Elfe jedenfalls nicht. Die hatte es auf ihrem Moosbett schön weich.«
»Wenigstens das.« Die ältere Dame seufzte. »Aber dort muss es doch kalt sein. Der dichte Wald und das Wasser. Und erst das Moor. Ich persönlich finde so ein Moor ja immer etwas unheimlich . Das steckt voller Geheimnisse. Ganz gewiss.«
Ihre Freundin und Reisebegleiterin schwieg.
»Schrecklich ist das irgendwie dennoch, oder?«
»Die Tatsache an sich, nein. Wer nicht stirbt, hat nicht gelebt. So ist das nun einmal. Das Leben endet für jeden. Den Schrecken reden sich die Menschen nur ein.«
»Aber in der Blüte der Jahre -«
»Elfen sind alterslos«, fuhr ihr die Freundin über den Mund. »Oder, Herr Hilgert? Sagen Sie doch auch einmal etwas dazu.«
»Genau. Wie ist denn Ihre Meinung zu der Angelegenheit?«
Sören Hilgert antwortete nicht. Stattdessen schenkte er den beiden noch einmal von dem Kaffee ein, den er gerade frisch aufgebrüht hatte. Frau Gabriella und Frau Sylvia waren erst seit drei Tagen seine Pensionsgäste, hatten es nun aber schon das zweite Mal so hingedreht, dass er sich nach dem Frühstück zu ihnen gesellte und einen Plausch mit ihnen hielt. Dabei war Hilgert von Natur aus alles andere als gesprächig, und ihm lag erst recht nichts daran, seinen Gästen ein unterschiedliches Maß an Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen, aber die beiden Berlinerinnen waren so hartnäckig in ihrem Bestreben, sich mit ihm auszutauschen, dass er sich dem schwerlich entziehen konnte. Möglicherweise ging er dabei auch nicht ganz so konsequent vor wie sonst - was daran liegen mochte, dass die beiden aus seiner einstigen Wahlheimat stammten und durchaus die ein oder andere Neuigkeit aus der Hauptstadt mitgebracht hatten. Er konnte es nicht verhehlen, ein Stück dieser faszinierenden Stadt war in seinem Herzen geblieben, auch wenn er Berlin damals so sang- und klanglos den Rücken gekehrt hatte. Von seinen Berliner Gästen erfuhr er vom Bau des höchsten Hochhauses der Stadt auf dem Alexanderplatz oder dem Abschluss der Sanierung der Nationalgalerie. Er erfreute sich an diesen Neuigkeiten, denn sie gaben ihm das Gefühl, noch immer Teil dieses pulsierenden Lebens zu sein.
Heute jedoch wünschte er sich, dass er sich vehementer hinter seinem Küchendienst versteckt hätte. So reizend die beiden älteren Damen auch waren, ihr Temperament, gepaart mit einer schier unerschöpflichen Redseligkeit, überforderte ihn gewaltig. Dabei schien es ihm einfach nicht zu gelingen, die beiden »Fräuleins«, eine Anrede, auf der beide bestanden, sicher zu unterscheiden. Die Ähnlichkeit von Frisuren, Make-up und Kleidung, zweifelsohne in voller Absicht herbeigeführt, ließ ihn immer wieder überlegen, ob er nun gerade die eine oder die andere vor sich hatte, was die beiden nicht nur bemerkten, sondern regelrecht genossen. Davon abgesehen schien sie nun schon eine gefühlte Ewigkeit das Fernsehprogramm des gestrigen Rügen-TV-Abends umzutreiben, zumindest redeten sie seit der Rückkehr von ihrem Morgenspaziergang am Hochuferweg in einem fort von nichts anderem.
Hilgert, der sich noch niemals etwas aus dieser Art der Unterhaltung gemacht hatte, da ihm das reale Leben weitaus spannender erschien, fand nichts Erquickliches an diesem Gespräch. Und so hörte er nur halbherzig zu, während seine Gedanken abschweiften, was ihn fast schon automatisch auf das seit einigen Wochen bestehende Problem mit den kaputten Fenstern im Dachboden brachte. Der letzte Frühjahrssturm hatte mächtig gewütet und das über hundert Jahre alte Haus ausgerechnet dort getroffen, wo er sich eine Pause bei den umfangreichen Sanierungsmaßnahmen des historischen Gebäudes verordnet hatte. Jetzt, mitten in der Hochsaison, konnte er unmöglich die Handwerker hierhaben, aber so langsam sollte er zumindest mit den Planungen dafür beginnen, was wiederum einen Kassensturz voraussetzte. Genau an dieser Stelle wurde es brisant. Hilgerts »Seevilla« lief zwar seit einiger Zeit ganz passabel, aber die Anzahl der Zimmer war einfach zu gering, um die horrenden Kosten für die Sanierung zu erwirtschaften, geschweige denn seinen Lebensunterhalt auskömmlich zu finanzieren. Damit er halbwegs gut über die Runden kam, brauchte es aufs Jahr gerechnet eine Auslastung von über achtzig Prozent. Da war er aber noch lange nicht. Er hatte sich das ganze Unterfangen wohl etwas zu einfach vorgestellt.
Die wiederkehrende Erkenntnis, wegen der Dachfenster dringend etwas unternehmen zu müssen, ließ ihn tief ausatmen.
»Oh nein, Herr Hilgert!«, rief eine der Damen aus. »Das wollten wir nicht. Bitte entschuldigen Sie.«
»Ach, siehst du, da haben wir schon mal einen so reizenden Tischgast, und dann verschrecken wir ihn mit dieser Gruselgeschichte«, erklärte die Freundin vorwurfsvoll. »Nicht wahr, Herr Hilgert?« Sie schaute ihn fragend an. »Das Leben in Ihrem wunderbaren Paradies hier ist so friedlich, dass Sie Ihr Glück nicht von unserem düsteren Geschwätz trüben lassen wollen. Das ist absolut verständlich.« Sie wandte sich wieder ihrer Freundin zu. »Ich habe es dir gesagt, der Herr Hilgert ist ein Schöngeist, ein feinsinniger, sensibler Mann. Meine Menschenkenntnis trügt mich nie. Wir überfordern ihn mit unserer Entdeckung.« Sie schaute sich demonstrativ nach allen Seiten um und wechselte abrupt das Thema. »Sie haben es aber auch so hübsch hier. Das muss man einfach sagen. Und die Farbe des Salons. Die hat doch bestimmt Ihre Frau ausgesucht. Wie war noch gleich ihr Name?«
»Also wirklich, wie kannst du nur so indiskret sein? Unser liebenswürdiger Gastgeber möchte sicher den passenden Moment abwarten, um uns seine Frau vorzustellen. Nicht wahr, Herr Hilgert?« Die Freundin sandte ein keckes Augenzwinkern in Richtung Hilgert. »Um deine Geduld war es noch nie sonderlich gut bestellt. Und um deine Fähigkeiten zum Small Talk, wie man heutzutage sagt, übrigens auch nicht. Sie sind mau.« Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nun hin zu einer strengen, an Lebenserfahrung reichen Frau, als die sie normalerweise sicherlich nicht gelten wollte. »Aber um auf das ursprüngliche Thema zurückzukommen: Es nützt nichts. Im Leben liegen Licht und Schatten nun einmal ganz eng beieinander, auch auf so einem gottgegebenen Fleckchen Erde wie der Insel Rügen. Herr Hilgert ist kein grüner Junge mehr, dass er das nicht wüsste.«
Hilgert war nicht verheiratet, noch nie gewesen. Nicht einmal zu einer Liebelei hatte er es hier auf der Insel gebracht, was wohl der Grund dafür war, dass die farbliche Gestaltung seiner Pension allein auf ihn zurückging, so wie alles andere auch. Dem erwartungsvollen Blick der beiden Damen konnte er allerdings nur mit Ratlosigkeit begegnen. Ehrlich gesagt waren das für ihn so früh am Tag viel zu viele Worte auf einmal. Er wusste nicht, ob er den beiden folgen konnte. Das wiederum schien man ihm anzusehen.
»Die tote Frau im Granitzwald«, sagte eine der Damen mit so viel Nachdruck in ihrer Stimme, dass man meinen konnte, sie wiederholte sich nun schon zum dutzendsten Male.
»Gerade eben, auf unserer Morgenwanderung«, ergänzte die andere. »Wir waren uns unschlüssig, wie wir damit verfahren sollten, zumal wir Sie nicht unnötig warten lassen wollten. Sie geben sich doch immer so ungemein viel Mühe mit dem Frühstück.«
Ihre Freundin bedachte sie mit einem maßregelnden Seitenblick. »Wir wollten das Frühstück unter keinen Umständen versäumen«, berichtigte sie. »So war es doch, Gabriella, oder nicht?«
Gabriella deutete ein Naserümpfen an. »Immerhin ist die Frau tot und merkt es nicht. Wem nützt es also, wenn unsere Eier Benedict kalt werden?«
Die letzten Sätze, absolut arglos von sich gegeben, brachten den Damen Hilgerts ungeteilte Aufmerksamkeit zurück.
»Ich glaube, ich habe Sie eben nicht richtig verstanden«, sagte er höflich.
»Sie haben nicht zugehört«, präzisierte eine der Damen.
»Jetzt bitte ich dich aber.« Die andere kicherte halb entrüstet, halb belustigt. »Das kann man den Leuten doch nicht so auf den Kopf zusagen.«
»Ich bin über achtzig Jahre alt. Ich kann das«, widersprach die Freundin. »Wollen Sie nun etwas über die Leiche wissen oder nicht?« Ihr herausfordernder Blick traf Hilgert.
»Die Leiche, die Sie vorhin bei Ihrem Morgenspaziergang in der Granitz gefunden haben?«, fragte Hilgert unsicher nach. Er war sich nicht klar darüber, ob bei den beiden nur etwas zu viel Phantasie am Werk war, die sich mit Wichtigtuerei vermischte. Womöglich wollten sie ihn auch bloß foppen, etwas, das er generell nicht ausstehen konnte, und schon gar nicht, wenn es um ein solches Thema ging. In seinem früheren Leben als Kriminalhauptkommissar beim...
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