Schweitzer Fachinformationen
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Prolog
1882
Sie stand am Fenster. Zehn, vielleicht zwanzig Minuten schon. Die Sonnenstrahlen fielen durch die bunten Glasscheiben und färbten ihr ebenmäßiges Gesicht grün, ihr schlanker, eleganter Hals schimmerte rot. In Gedanken versunken strich sie mit den Fingern zart über das im Fenster eingelassene Wappen. Der schwarze doppelköpfige Reichsadler glänzte matt. Heute schien er ihr noch vertrauter als sonst, wie ein guter Freund, mit dem man ein Geheimnis teilt.
Sie hatte sich nach oben geschlichen, das Geländer mit beiden Händen fest umklammert, um auf der steilen Treppe den Halt nicht zu verlieren. Ihre nackten Füße hatte sie behutsam auf die Stufen aufgesetzt, dann knarrte das Holz am wenigsten, das wusste sie genau. Im Obergeschoss angekommen, war sie regungslos stehen geblieben und hatte mit angehaltenem Atem gelauscht. Nichts. Nur das wilde Rauschen der Schwarza und das Zwitschern einiger Vögel. Dann, nach einer ganzen Weile, hatte sie wieder zu atmen gewagt, nur ganz flach, denn sogar das konnte verräterisch sein. Langsam hatte ihre schmale Hand die gusseiserne Türklinke umfasst, sie mit ganzer Kraft nach unten gedrückt und die Tür zu der kleinen Wohnung vorsichtig, Millimeter für Millimeter, aufgeschoben.
Die Sehnsucht schien ihr hier oben noch unerträglicher. Kalter Zigarrenrauch mischte sich mit dem schweren, süßlichen Duft des Fliederstraußes, den Ida, die gute Seele des Hauses, heute Morgen auf den Schreibtisch gestellt hatte. Ida war die Einzige, die in die Wohnung durfte, nur für die Zeit des Herrichtens, nicht mehr. Niemand sonst, nicht einmal ihr Vater, betrat das Obergeschoss. Niemals würde er es wagen. Denn keiner im Haus wusste, wann er wieder hier sein würde. Manchmal flüsterte er ihr beim Gehen ein »In zwei Tagen« oder »Bis nächste Woche« zu. Doch sie wäre lieber gestorben, als jemandem nur ein Wort davon zu erzählen. Das war Teil ihrer Abmachung, unausgesprochen, aber allgegenwärtig. Das Risiko, ihn zu verlieren, war zu groß.
Natürlich ahnte der Vater etwas. Sein Blick verriet es ihr an jedem Morgen, der auf die viel zu kurzen Nächte folgte. Doch während all der Jahre - dreizehn, da war sie sich ganz sicher - hatte er nie ein Wort darüber verloren. Er sorgte sich um sie. Und um den Ruf der Familie. Ein fürstlicher Tiergärtner war schließlich nicht irgendwer. Die Leute würden reden, wenn auch nur der geringste Verdacht aufkäme. Doch das interessierte sie nicht, wenn sie nur bei ihm sein konnte. Sie wartete auf die eine, alles entscheidende Frage. Eine Frage, die niemals kommen würde.
Leise seufzend warf sie einen letzten zärtlichen Blick auf den Adler im Fenster. Heute würde er zurückkehren, so hoffte sie, vielleicht war er sogar schon unterwegs zu ihr. Dann nahm sie den Weg, den sie gekommen war, vorsichtig, damit sie niemand hörte.
***
Fürst Georg von Schwarzburg-Rudolstadt zwirbelte seinen Bart, bedeutete dem Stallmeister mit einem steifen, nur für das geübte untertänige Auge sichtbaren Kopfnicken seinen Dank und schwang sich auf »sweet heart«, sein Lieblingspferd. Kurz darauf flog der Sand unter den Hufen des Tieres auf, und Pferd und Fürst galoppierten durch das Nordtor der Heidecksburg, des Fürsten Residenz hoch über dem kleinen Städtchen Rudolstadt. Der Stallmeister rieb sich die Augen, schaute Ross und Reiter noch einen kurzen Moment lang unschlüssig nach und ließ seinen Blick dann über die eindrucksvolle Fassade des Hauptwohnsitzes seiner Herrschaft gleiten. Für einen Moment glaubte er, das Antlitz Elisabeths, Fürstin zur Lippe und Georgs Schwester, an einem der oberen Fenster des Südflügels gesehen zu haben. Doch er wagte nicht, sich zu vergewissern, sondern kehrte um und ging in den Marstall zurück.
Fürst Georg machte unterdessen einen kurzen Abstecher in den Hain und bog dann in die westliche Neustadt ein, um gemächlichen Schrittes durch die Augustenstraße zu reiten und sich die neu erbauten Villen mit ihren Erkern, Türmchen und einladenden Loggien anzusehen. Umgeben waren diese »Landhäuser«, wie sein alter Staatsminister von Bertrab immer zu sagen pflegte, von tiefen parkähnlichen Gärten, in denen die Dienerschaft der Hausbewohner auch allerlei Gemüse und Küchenkräuter anbaute.
Der volksnahe Georg blieb stehen und erfreute sich an einer lebhaften Diskussion zweier junger Mägde, die sich im Garten der Damm'schen Villa um die Zahl der von ihrer Herrschaft zu verspeisenden Mairüben stritten. Bei jeder sich ihm bietenden Gelegenheit beobachtete der Fürst das geschäftige Treiben seiner Untertanen, am liebsten unbemerkt von der Heidecksburg aus mit seinem Fernrohr. Interessiert betrachtete er den weitläufigen Garten des Hauses, der sich bis zur Großen Allee hinzog. Kaum fünf Jahre war es her, dass Konsul Damm, der sein Geld in den mexikanischen Silber- und Schwefelbergwerken machte, dieses prachtvolle Haus errichten ließ. Er war einer der zahlreichen Fabrikanten und Gewerbetreibenden, die es mit ihren industriellen Neugründungen nach Schwarzburg-Rudolstadt und mit ihren Wohnhäusern hinaus aus den engen Gassen der Altstadt ins ländliche Grün zog. Überall wuchsen Fabriken und Villen aus dem Boden und zeugten von dem Aufschwung des bis zu Georgs Amtsantritt im Jahr 1869 rückständigsten deutschen Fürstentums. Schwarzburg-Rudolstadt hatte sich unter seiner Regentschaft prächtig entwickelt.
Georg sah das mit Stolz, war er doch ein aufgeschlossener Förderer der Moderne. An diesem schönen Maimorgen stand ihm jedoch der Sinn nach etwas anderem. Er war auf dem Weg zur »Oppelei« im Schwarzatal. Am frühen Nachmittag wollte er sie erreichen. Georg schnalzte mit der Zunge, gab »sweet heart« etwas Zügel, touchierte den Bauch des Pferdes sanft mit seinem Reitstiefel und setzte seinen Weg fort. Er ritt zur Saale hinunter, folgte dem Fluss bis zur Mündung der Schwarza und bog dann, ohne das Ufer der Schwarza zu verlassen, in Richtung Bad Blankenburg ab.
Zwei Stunden später ritt er hoch erhobenen Hauptes in das Schwarzatal ein, saß ab, führte »sweet heart« an eine seichte Stelle des Flusses und genoss die klare Luft unter dem dichten Blätterdach der Bäume. Nur wenige Meter flussaufwärts standen ein paar Bauernburschen bis zu den Knien im Wasser. Die Nasen direkt über der Oberfläche, hielten sie ihre Hände unermüdlich in den kalten Lauf. Offensichtlich hofften sie, die Schwarza würde den einen oder anderen Flitter Seifengold hineinbefördern. Als sie den Fürsten bemerkten, rannten sie quer durch den Wald davon.
Georg schmunzelte erhaben, griff nach den Zügeln des Pferdes und setzte seinen Weg fort. Keine sechs Kilometer später tauchten zwischen den großen Fichten der Giebel und das weit überhängende flache Satteldach des holzverkleideten Obergeschosses der »Oppelei« auf.
Er liebte dieses Haus, das sein Onkel, Fürst Friedrich Günther, für den fürstlichen Tiergärtner eigens hatte erbauen lassen und in dessen Obergeschoss sein braver Staatsminister von Bertrab ihm - nicht ohne einen gewissen stillen Missmut - eine kleine Wohnung eingerichtet hatte. In der abgeschiedenen Ruhe der Natur, weitab von den Pflichten und Konventionen eines Fürsten, konnte er sich seiner Leidenschaft für die Jagd und seinen forstwirtschaftlichen Studien widmen. Später einmal, nach dem Ende der Monarchie, würde das Land Thüringen vor allem von Letzterem profitieren.
Georg lenkte »sweet heart« nach rechts und überquerte die Schwarza auf einer schmalen Holzbrücke. Schon von Weitem sah er sie. Mathilde, die Tochter seines Tiergärtners. Und als ob es seine Sehnsucht spüren konnte, galoppierte das Pferd über die alten trockenen Bretter zum anderen Ufer des Flusses.
Wie schön sie immer noch war mit ihren neunundzwanzig Jahren, ganz das junge Mädchen, das er damals bei einem Jagdausflug das erste Mal gesehen und in das er sich Hals über Kopf verliebt hatte.
Mathilde stand auf der Galerie des Hauses und schaute ihm entgegen. Sie lächelte verlegen. Georg grüßte fast schon herzlich, übergab dem heraneilenden Tiergärtner Oppel sein Pferd und ging ins Haus.
Elisabeth war lange vom Fenster zurückgetreten. Sie saß auf einem der Biedermeierstühle in ihrem Gemach und schaute Staatsminister von Bertrab sorgenvoll an.
»Der Fürst reitet aus«, sagte sie mit vollkommen ruhiger und gefasster Stimme, die keinerlei Rückschluss auf ihre Gefühle zuließ. Dann strich sie sanft mit der Hand über ihr Kleid.
Immer wenn sie auf dem Schloss ihres Bruders zu Gast war, was seit ihrer Hochzeit mit Leopold III. Fürst zur Lippe nur noch selten vorkam, trug sie ihr Tageskleid aus grünem Wollstoff, das mit schwarzen Schnur-Applikationen und Posamenten verziert war. Ein breites Samtband ließ ihre schlanke Taille noch schmaler erscheinen. Die dunklen Haare hatte sie elegant nach oben gesteckt. Ihr Alter sah man ihr nicht an. Einzig ihre müden Augen und die dicken Sorgenfalten auf ihrer Stirn ließen ihr Alter erkennen.
Elisabeth sorgte sich um die Zukunft der Fürstenfamilie. Vier Geschwister hatten die Eltern in der Familiengruft beisetzen müssen. Nur Georg und Elisabeth lebten noch und konnten das Blut der Schwarzburg-Rudolstädter weitertragen. Ihr selbst war dieses Glück nicht vergönnt gewesen, sosehr sie sich auch Kinder gewünscht hatte, und ihre ganze Hoffnung ruhte nun auf ihrem Bruder Georg. Schließlich trug er Verantwortung für sein Fürstentum.
»Ja, Hoheit. Zweimal in der Woche beliebt es dem Fürsten, nach Schwarzburg zu reiten.« Hermann Jakob von Bertrab verzog keine Miene. Mit durchgedrückten Schulterblättern saß der gealterte Staatsminister, der schon seit zwei Fürstengenerationen auf der Heidecksburg diente, auf seinem Stuhl und...
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