Schweitzer Fachinformationen
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Die Hamas-Kämpfer, die Israel am 7. Oktober 2023 vom Gazastreifen aus angriffen, waren von Wut und Rachegefühlen motiviert, die auf die jahrzehntelange israelische Gewaltherrschaft über den Gazastreifen zurückgeführt werden können. Mit einer historischen Rückführung dieser Art kontextualisiere ich den 7. Oktober, das heißt, ich bette ihn in größere historische und politische (und emotionale) Zusammenhänge und Bedingungen ein. Damit übertrete ich ein israelisches Denkverbot. Oft wird von israelischer Seite gewarnt, man dürfe die Hamas-Attacke nicht kontextualisieren, weil ein solches Denken den Terror rechtfertige und relativiere. Diesen Vorwurf erntete zum Beispiel Antonio Guterres, der Generalsekretär der Vereinten Nationen, als er kurz nach dem 7. Oktober anmerkte, die Hamas-Attacke habe nicht in einem Vakuum stattgefunden.18 Doch Kontextualisierungen dieser Art lassen sich nicht verbieten oder vermeiden. Sie sind zum Verständnis politisch bedeutsamer Ereignisse, wie es der 7. Oktober 2023 war, notwendig. Oft erwähnen gerade diejenigen, die vorgeblich jegliche Kontextualisierung ablehnen, dass an keinem anderen Tag seit dem Holocaust mehr Juden ermordet wurden als am 7. Oktober. Das stimmt, ist aber auch eine bedeutungsvolle Kontextualisierung - auf die ich im zweiten Teil ausführlich zu sprechen kommen werde.
Um Gräueltaten wie die des 7. Oktobers 2023 zu verstehen - und nicht um sie zu rechtfertigen -, muss man die Umstände klären, die zu ihnen geführt haben. Dafür ist es notwendig, sich mit ihnen, den Gräueltaten, historisch und politisch auseinanderzusetzen. Dabei muss man allerdings auch berücksichtigen, dass politische Umstände nicht quasi-physikalisch wirken. Auch wenn man die langjährige israelische Besatzung und Blockade des Gazastreifens als Erklärung für die Gräueltaten der Hamas anführt, kann die Hamas-Attacke dennoch nicht einfach als eine Art Explosion verstanden und gerechtfertigt werden, die durch das andauernde Unrecht und die unmenschlichen Bedingungen, unter denen die Palästinenser leiden, verursacht wurde. Genauso wenig, wie die Untaten der Hamas die kriegsverbrecherische Unmenschlichkeit Israels erklären und rechtfertigen.
Eine Denkweise, die im Anschluss an den 7. Oktober vielfach in antiisraelischen Protesten zum Ausdruck kam, spricht die Hamas-Täter von jeglicher Verantwortung für ihre Taten frei, wie dies zum Beispiel eine Verlautbarung, die über dreißig Studentenorganisationen der Universität Harvard nur wenige Tage nach der Hamas-Attacke veröffentlichten, tat. Sie stellte zwar richtig fest, der Angriff der Hamas habe »nicht im luftleeren Raum stattgefunden«, doch folgerte sie daraus absurderweise, Israel - und nur Israel - sei »voll verantwortlich« für die Hamas-Attacke.19 Dass eine historische oder psychologische Erklärung als moralische Rechtfertigung oder Freisprechung angeführt wird, ist ein Denkfehler, der allzu oft begangen wird, wenn die abscheulichen Untaten der Hamas durch die israelische Besatzung kontextualisiert werden.
Die Bedingungen, unter denen wir leben, rufen zwar bei uns Gefühle hervor, doch was wir mit diesen Gefühlen machen, ob und wie wir sie in Taten umwandeln, und in welche Handlungen wir sie umsetzen, ist in unserer Kontrolle - und deshalb sind wir für sie verantwortlich. Dieses Prinzip ist die Grundlage unserer gesamten Rechtsordnung. Ein Unrecht, das wir erfahren haben, entbindet uns nicht der moralischen und rechtlichen Verantwortung für Verbrechen, die wir in Reaktion auf dieses Unrecht begehen.
Einen anderen Denkfehler begeht man, wenn man versucht, diese Verbrechen durch einen einzelnen historischen Faktor zu erklären, zum Beispiel, indem man nur auf die israelische Militärbesatzung des Westjordanlands und des Gazastreifens hinweist, die als Ursache genügen sollte, die Hamas-Attacke zu erklären. Immer wenn man glaubt, man habe eine einfache Erklärung gefunden, ist das ein klares Zeichen dafür, dass sie trügerisch ist. Denn politische Ereignisse entstehen immer aus dem Zusammenspiel mehrerer Faktoren. Um die Hamas-Attacke und die israelische Reaktion - also den gegenwärtigen, auch den Südlibanon und das Westjordanland einbeziehenden, grausamen Nahostkrieg - zu verstehen, ist es nötig, zusätzliche historische Faktoren in Betracht zu ziehen, die schon seit mehreren Jahrzehnten nicht nur die Beziehungen zwischen Israel und der Hamas, sondern auch die mit anderen Milizen prägen.
Die ideologischen, dschihadistischen Aspekte des 7. Oktobers führen uns zum Beispiel zurück zur Iranischen Revolution von 1979, aus der das dortige Regime der Mullas (etwa: Herr, Richter, Meister) hervorging. Dieses verfolgt schon seit der 1990er-Jahre eine äußerst aggressive, vom radikalen Islamismus geprägte Außenpolitik gegen Israel und ruft wiederholt zur Vernichtung des jüdischen Staates auf. Zu diesem Zweck baute der Iran seit Anfang der Nullerjahre, konkret seit 2004, die sogenannte »Achse des Widerstands« auf: Er trainierte und bewaffnete Milizen wie die Hamas im Gazastreifen, die Hisbollah im Südlibanon, die Huthi-Rebellen im Jemen und weitere (schiitische) Streitkräfte in Syrien und im Irak. Alle Milizen, die Israel mit Raketen und Drohnen iranischer Produktion beschossen, gehören zu diesem Bündnis. Ohne diese iranische Unterstützung hätte die Hamas nicht die militärischen Fähigkeiten und das Selbstvertrauen entwickeln können, die ihr ermöglichten, den Angriff vom 7. Oktober zu planen und durchzuführen.20
Andere historische Narrative könnten den 7. Oktober und den nachfolgenden israelisch-arabischen Krieg auf die Staatsgründung Israels im Mai 1948 zurückführen, wieder andere auf den Anfang der zionistischen Besiedlung Palästinas am Ende des 19. Jahrhunderts. Wie auch immer ein solches Narrativ ausfällt, eines ist sicher: Es gibt keine einzelne, lineare Erzählung, die politische Ereignisse umfassend erklärt.
Die Welt der Politik hat ihre eigene Dynamik, die aus der Komplexität menschlichen Fühlens, Denkens und Verhaltens erwächst und diese wiederum prägt. Kein einzelnes Ereignis führt zum anderen. Einfache, mechanistische Ursache-Wirkungs-Modelle und einzelne Kontexte sind für Erklärungen immer ungenügend. Das heißt nicht, dass man immer alles erzählen muss oder kann. Aber man muss sich bewusst sein, dass jede Auswahl bewertet und Schwerpunkte setzt, dass sie die Aufmerksamkeit auf gewisse Aspekte lenkt und andere im Schatten lässt. Und selbst wenn man eine Vielzahl historischer Ereignisse und Kontexte miteinbezieht, ist nie zu vergessen, dass diese nicht von ganz allein zu anderen führen. Von allein führen historische und politische Ereignisse zu gar nichts. Sie werden nur zu Ursprüngen weiteren Geschehens, weil Menschen auf sie reagieren und durch ihre Handlungen Neues bewirken. Was sie dazu motiviert, sind - nicht nur, aber immer auch - Gefühle.
Deshalb zeige ich nachfolgend aus verschiedenen historischen und psychologischen Blickwinkeln, wie (im größeren Rahmen) die Geschichte des Nahen Ostens und (im kleineren, lokalen Rahmen) die des Gazastreifens Gewalt, Brutalität und Grausamkeit ausgelöst haben - und berücksichtige die speziellen, psychischen Impulse und Mechanismen sowohl aufseiten der Israelis als auch aufseiten der Palästinenser. Dabei möchte ich auch auf die Notwendigkeit eines komplexen Geschichtsverständnisses, auf tragische Elemente, historische Ironien und politische Anomalien aufmerksam machen, an denen es im Nahostkonflikt nicht fehlt und die weitreichende psychologische Effekte haben können, die oft übersehen werden.
Die deutsch-jüdische Philosophin Hannah Arendt schrieb aus eigener Erfahrung, als sie nach dem Zweiten Weltkrieg auf einen schwerwiegenden Widerspruch im Konzept der Menschenrechte hinwies. Arendt hatte ihre deutsche Staatsbürgerschaft 1937 verloren und blieb staatenlos bis ins Jahr 1950, als sie in die USA kam und dort eingebürgert wurde. Mit ihrer Staatsbürgerschaft verlor sie, wie sie feststellte, nicht nur dieses oder jenes Recht, sondern das fundamentalste aller Rechte: das Recht, überhaupt Rechte zu haben.21 Obwohl die Menschenrechte als universal galten und allen Menschen zustehen sollten, waren sie in der Praxis davon abhängig, dass man einem Staat angehörte, der sie anerkannte. So kam es, erklärt Arendt, dass gerade staatenlose Menschen, die am meisten benötigten, dass man ihre Menschenrechte respektierte, diese nicht in Anspruch nehmen konnten, weil niemand für sie die Verantwortung übernahm.
Wie Arendt erleben die Palästinenserinnen und Palästinenser Gazas die schmerzhafte Wahrheit dieser Erkenntnis schon fast acht Jahrzehnte lang am eigenen Leib. Der Gazastreifen ist eine Anomalie im Nationalstaatensystem, das die ganze Welt in souveräne Territorien aufteilt und sie jeweils einer Nation zuschreibt, auch wenn sie in Wirklichkeit oft mehrere nationale Gemeinschaften beherbergen. Der Gazastreifen ist eine Ausnahme, weil er keinen eigenen Staat bildet und zu keinem...
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