Schweitzer Fachinformationen
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Ein nicht enden wollender, greller Schrei ließ ihn erschrocken zusammenfahren.
Im Haus war es stockdunkel. Es war kurz nach Mitternacht.
Er sparte es sich, das Licht anzuschalten, drückte die Haustür mit der Schulter zu, warf den Schlüssel achtlos auf die Kommode im Flur und schlüpfte schnell aus seinen Turnschuhen. Dann lief er eilig die Treppe zum ersten Stock hinauf.
»Tut mir leid, dass ich so spät komme«, entschuldigte er sich, als er das Wohnzimmer betrat und Jessica mit dem weinenden Baby auf dem Arm auf und ab laufen sah. »Schreit der Kleine schon länger?«
Jessica blieb stehen und sah Florian müde an. Ihr Lächeln war eine Mischung aus Kraftlosigkeit und absoluter Verzweiflung. »Nein. Elias schreit seit einer Viertelstunde. Seit Lukas nach zwei Stunden Gejammer endlich eingeschlafen ist.«
»Gib ihn mir. Ich übernehme jetzt.« Jessicas Protest ignorierte Florian, griff nach Elias, legte ihn sich an die Schulter und rieb ihm behutsam den Rücken. »Du musst unbedingt schlafen«, sagte er zu Jessica.
Jessica nickte ergeben, streifte mit ihrer Hand beim Hinausgehen kurz seinen Arm und verließ das Wohnzimmer.
In ein paar Stunden begann ihr erster Arbeitstag nach fast einem Dreivierteljahr Elternzeit.
Florian hielt ihren Wiedereintritt ins Berufsleben für verfrüht, hatte sich aber mit Kritik zurückgehalten. Er verstand, dass sie schnell in den Polizeidienst zurückwollte. Jessica liebte ihren Job und hatte im Laufe der Jahre für die Familie schon mehr geopfert, als man verlangen konnte. Doch die Zwillinge waren noch so klein. Außerdem lief es gerade alles andere als rund.
Seine eigene Elternzeit war schon lange vorbei. Seit über drei Monaten ging er wieder täglich aus dem Haus. Oft mehr als zehn Stunden. Und oft am Wochenende oder nachts. Die beiden Großen mussten ebenfalls zurückstecken. Sein Schwiegervater, der seit einigen Monaten in der Einliegerwohnung des Hauses wohnte, unterstützte sie zwar nach Leibeskräften. Trotzdem war es jeden Tag eine neue Herausforderung, den Reitunterricht der zwölfjährigen Svenja, das Fußballtraining und den Schlagzeugunterricht von Tobias, der seit dem Sommer die dritte Klasse besuchte, und all die Kinderarzt- und Babyschwimmtermine unter einen Hut zu bekommen. Dazu kamen Hausaufgaben, Verabredungen, Probleme in der Schule und die Einkäufe. Windeln waren ständig aus und das Geld am Ende eines jeden Monats restlos verbraucht.
Neben all dem Stress war im Sommer auch noch ihr geplanter Urlaub in Italien ausgefallen, weil die Zwillinge eine Virusinfektion bekommen hatten. Dieser Urlaub wäre der erste als echte Familie gewesen. Das Adoptionsverfahren für Svenja und Tobias, die Kinder von Jessicas verstorbener Schwester Susanne, war endlich durch. Aus einem Forster waren sechs geworden. Alle trugen seinen Namen. Hauptkommissar Florian Forster hatte auf einen Schlag eine Frau und vier Kinder bekommen. Sein Traum war endlich in Erfüllung gegangen.
Trotzdem wuchs ihm der ganze Stress manchmal über den Kopf. Er wagte gar nicht, sich auszumalen, wie es Jessica ging. Er konnte dem Chaos wenigstens für ein paar Stunden täglich entfliehen.
Vermutlich war es richtig, dass seine Frau wieder arbeiten wollte. Die vier Stunden am Vormittag würden ihr guttun. Die Zwillinge würden bei seinem Schwiegervater Herbert gut aufgehoben sein. Florian hoffte, dass Jessica dann endlich wieder mehr Zeit für ihn hätte. In den wenigen Nächten, die sie leibhaftig neben ihm lag und nicht im Kinderzimmer bei den Zwillingen schlief, war sie so erledigt, dass sie nicht einmal mehr mit ihm sprechen konnte - von Dingen, die man als frisch verheiratetes Ehepaar mehrmals wöchentlich tun sollte, ganz zu schweigen.
Er vermisste sie unendlich.
*
»Die Aussicht ist atemberaubend!«
Der Rechtsmediziner Erwin Buchmann stieg aus dem Streifenwagen, stellte sich neben seinen besten Freund Florian Forster und blickte ins Tal. Trotz des wolkenlosen, strahlend blauen Himmels und des herrlichen Sonnenscheins war es heute herbstlich kühl. Hier auf der Alpe wehte ein frostiger Wind, der durch das kniehohe Gras pfiff und an der Kleidung zerrte.
»Der Alpsee ist riesig, wenn man ihn von oben betrachtet«, sagte Ewe. »Wie hoch sind wir überhaupt?«
»Die Hohenschwandalpe liegt laut Google auf 1.022 Metern.« Florian schob sein Smartphone in die Innentasche seiner Lederjacke und zog den Reißverschluss bis zum Hals zu. »Herrgott, ist das kalt geworden. Letzte Woche hatten wir noch 20 Grad.« Er ging am Streifenwagen vorbei auf die Alphütte zu, vor der zwei Beamte in Uniform standen und sich unterhielten.
Als sie den Hauptkommissar näher kommen sahen, tippten sich die Kollegen aus Oberstaufen grüßend mit zwei Fingern an die Mütze und nickten.
»Die Leiche ist dort. Auf dem Misthaufen hinter der Hütte«, erklärte der ältere der beiden Polizisten und wies mit dem Arm nach rechts.
»Die Freundin des Toten sitzt weinend in der Stube«, fügte der jüngere hinzu und machte ein bedauerndes Gesicht.
»Kümmern Sie sich um die Frau. Ich komme in ein paar Minuten zur Befragung.« Hauptkommissar Forster schob beide Hände in die Hosentaschen. Es war so kalt, dass man seinen Atem sehen konnte. »Gibt es hier oben irgendetwas Warmes zu trinken?«
»Kommst du mit zur Leiche?« Erwin stapfte an ihm vorbei, seinen Koffer in der einen und ein Paar Gummistiefel in der anderen Hand. »Sind die Beamten der Spurensicherung schon da wegen der Fotos?«
»Ja, die waren schon bei dem Toten. Jetzt sind sie in der Hütte.« Der ältere Polizist rieb sich über seine eiskalte Nase. »Ich schaue, ob ich uns allen einen Tee kochen kann.« Er verschwand im Inneren.
»Warte, Ewe, ich komme mit.« Florian folgte seinem Freund, blieb aber kurz darauf etwa drei Meter vor dem riesigen Misthaufen stehen, der abseits der Hütte neben einem kleinen Erdwall aufgeschüttet war.
Den toten Mann sah man sofort. Er lag bäuchlings mitten im Dreck, die Arme ausgebreitet, Kopf und Gesicht tief in den Mist gedrückt. Äußerlich waren keine Verletzungen zu sehen. Zumindest nicht aus der Entfernung.
Erwin Buchmann zog sich den weißen Ganzkörperanzug und die Gummistiefel an und watete nun tapfer durch die Tierexkremente und das verdreckte Stroh. Mit jedem Schritt versank der Stiefel beinahe vollständig in der stinkenden Pampe und machte ein unnatürlich schmatzendes Geräusch, wenn er ihn wieder herauszog.
»Das ist echt widerlich. Der Gestank ist kaum zu ertragen«, jammerte der Rechtsmediziner.
Florian wunderte sich nicht zum ersten Mal über das Ekelempfinden seines Freundes. Wäre der Tote blutüberströmt, gevierteilt und halb verrottet, hätte Ewe zufrieden gelächelt und nicht mehr gesagt als »faszinierend« oder »beeindruckend«. Florian allerdings hätte sich bei so einem Anblick vermutlich übergeben. Der leicht beißende Geruch des Misthaufens hingegen war für ihn erträglich.
»Er hat ein stumpfes Trauma an seinem Hinterkopf, und ich sehe Hämatome in seinem Nacken.« Ohne zu Florian aufzusehen, begutachtete Erwin vorsichtig alle sichtbaren Stellen des Körpers, hob behutsam den rechten Arm an und schob den Hemdärmel nach oben. Der Tote trug keine Jacke. »Am Unterarm und an den Fingern erkenne ich Abwehrverletzungen. Wie lange er hier schon liegt, kann ich nicht sagen. Der Körper ist eiskalt, aber das geht schnell bei den Außentemperaturen.« Er griff nach der linken Schulter der Leiche und drehte sie um. Gesicht und Oberkörper waren mit einer dicken Schicht Kuhmist bedeckt. »Herrgott«, stöhnte Ewe. »Das ist echt abartig!« Mit beiden Händen wischte der Rechtsmediziner den Dreck, so gut es ging, aus dem Gesicht und vom Körper des Toten. »Diese Seite des Mannes ist wenigstens angenehm warm!« Er sah auf und zwinkerte Florian zu, der angewidert den Kopf schüttelte. »Kannst du mir aus meinem Koffer bitte das Thermometer bringen? Ich muss messen, wie hoch die Temperatur im Inneren der Leiche ist.«
»Was stimmt nicht mit dir, Ewe?« Florian verschränkte die Arme vor der Brust und blieb demonstrativ stehen. Wie stellte Ewe sich das vor? Sollte er mit seinen Turnschuhen durch die Exkremente gehen? Es reichte doch, wenn nachher einer nach Kuhstall stank. »Sag mir einfach, wie der Mann gestorben ist, dann kann ich endlich hier weg.«
»Bisher habe ich keine gravierenden äußeren Verletzungen gefunden. Aber er hat Mist im Mund und im Hals. Ich würde raten, er ist erstickt.« Ewe ließ den Toten los und stapfte selbst zu seinem Koffer, der offen neben seinen Schuhen im Gras lag. »Du weißt, Flo, dass ich das erst genau sagen kann, wenn er bei mir auf dem Tisch liegt . und gebadet hat«, fügte er lachend hinzu.
Florian verdrehte genervt die Augen, machte auf dem Absatz kehrt und ließ seinen Freund allein.
Die Frau saß auf der Bank vor dem Fenster zur Westseite, ihre Arme um die angezogenen Beine geschlungen, ihr Gesicht auf den Knien. Sie zitterte. Auf dem Fensterbrett stand neben einer Vase mit Trockenblumen eine dampfende Tasse Tee.
»Ich müsste Ihnen ein paar Fragen stellen. Darf ich mich zu Ihnen setzen?« Als die Frau aufsah, streckte Florian ihr eine Wolldecke entgegen, die er in einem der alten Bauernschränke gefunden hatte. »Die Beamten haben zwar den alten Ofen angeheizt, aber es ist immer noch verdammt kalt hier.«
Sie nahm die Decke und nickte.
»Es war meine Idee.« Ihre Augen waren rot vom Weinen und wirkten müde und leer. »Er ist meinetwegen tot.«
»Wie meinen Sie das?« Florian setzte sich neben sie und wärmte seine Hände an der...
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