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Dieser Band befasst sich mit Formen und Funktionen der Krise in Michel Houellebecqs Erzählprosa. Trotz der Omnipräsenz sowohl individueller als auch kollektiver Krisen im Werk des Gegenwartsschriftstellers wurde der herausragenden Relevanz des Krisenbegriffs für Houellebecqs Romane bislang kaum Beachtung geschenkt.
Die vorliegende Studie schließt diese Forschungslücke, indem sie die Krise bei Houellebecq nicht lediglich als ein inhaltliches Motiv identifiziert, sondern darüber hinaus zwei grundlegende Funktionen der Krise herausarbeitet: Erstens entwickelt sie ein krisennarratologisches Analysemodell, mit dem sich die Krise als ein auch strukturell in Houellebecqs Romanen verankertes Erzählmuster darstellen lässt. Darauf basierend wird die Krise zweitens als eine spezifische Form von Zeitdiagnose untersucht, mit der Houellebecq an dekadente Krisendiskurse des ausgehenden 19. Jahrhunderts anknüpft und diese zur depressionistischen Zeitdiagnose einer Postmodernen Dekadenz radikalisiert.
Anhand des Krisenbegriffs lassen sich folglich Aussagen über Houellebecqs ambivalente Stellung zwischen Moderne und Postmoderne treffen und zugleich Rückschlüsse auf mögliche Gründe der oftmals kontroversen Rezeption von Houellebecqs Romanen ziehen.
Jonas Brune, Universität Münster, Deutschland.
Le concept de décadence avait beau être difficile à cerner, il n'en était pas moins une réalité puissante ; et cela aussi, cela surtout, les hommes politiques étaient incapables de l'infléchir. Même des dirigeants aussi autoritaires et déterminés que le général de Gaulle s'étaient montrés impuissants à s'opposer au sens de l'histoire, l'Europe dans sa totalité était devenue une province lointaine, vieillissante, dépressive et légèrement ridicule des États-Unis d'Amérique. Le destin de la France, malgré les pittoresques fanfaronnades du général, avait-il réellement différé de celui des autres pays d'Europe occidentale ?1
Diese im Modus der erlebten Rede wiedergegebene Aussage der Figur Bruno Juge aus dem Roman anéantir (2022) hätte in ähnlicher Weise von ihrem Schöpfer Michel Houellebecq selbst so getätigt werden können. Wenn es sich bei Houellebecq zweifelsohne um einen der bekanntesten und zugleich umstrittensten Schriftsteller der französischen Gegenwartsliteratur handelt, dann vermutlich auch wegen der Schonungslosigkeit, mit welcher er in seinen Werken, aber ebenso im medialen Diskurs regelmäßig und nicht selten polemisch Stellung zu gesellschaftspolitischen Fragen bezieht.2 Seit seinem Debütroman Extension du domaine de la lutte (1994) macht der Autor immer wieder von sich reden, wobei die Reaktionen auf seine Werke ein solch weites Spannungsfeld von Empörung einerseits und Bewunderung andererseits eröffnen, dass bisweilen gar von einem «Phänomen Houellebecq»3 gesprochen wird. Die Skandale um einzelne Romane und Aussagen Houellebecqs4 sollten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei ihm um einen ernstzunehmenden und mittlerweile auch als Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Forschung etablierten Schriftsteller handelt.5 Seine Werke entfalten offensichtlich eine ganz spezifische Weltanschauung und Ästhetik, deren Resonanz ihn zu einem der bedeutendsten Kritiker unserer Zeit macht.
Die eingangs zitierte Textstelle kann für Houellebecqs Romane nun insofern eine gewisse Repräsentativität beanspruchen, als diese stets den Bezug zur außerliterarischen Wirklichkeit suchen, die Grenzen zwischen Realität und Fiktion dabei verschwimmen lassen und eine wenig erfreuliche Diagnose über den Zustand der französischen Gegenwartsgesellschaft formulieren. So auch das Zitat aus anéantir: Frankreich, und mit ihm ganz Westeuropa, sei von einem zivilisatorischen Verfall betroffen, dem sogar die obersten politischen Entscheidungsträger nichts entgegenzusetzen hätten. Bemerkenswert ist dabei, dass Bruno die westliche Zivilisation mit einem alternden und kranken Organismus («vieillissante, dépressive») gleichsetzt, diesen Status quo als das Ergebnis einer längeren historischen Entwicklung kennzeichnet und dabei mit dem «concept de décadence» auf ein geschichtsphilosophisch tradiertes Interpretationsmodell rekurriert, das insbesondere am Ende des 19. Jahrhunderts, in der Literatur des sog. Fin de Siècle, von zahlreichen Autoren verarbeitet wurde. Houellebecqs gegenwartsbezogene Gesellschaftskritik knüpft dieserart an eine literaturhistorische Traditionslinie an, wobei es ihm, als Schriftsteller des 21. Jahrhunderts, nicht um eine simple Übernahme des Dekadenzdiskurses gehen kann. Da seine Werke gerade für ihren dezidierten Gegenwartsbezug bekannt und im Kontext der Postmoderne zu verorten sind, stellt sich zwangsläufig die Frage nach einem unter solchen Vorzeichen möglichen Umgang mit der Literaturtradition.
Einen vielversprechenden Anhaltspunkt für die Beantwortung dieser Frage bietet ein von Houellebecq über die außerliterarische Wirklichkeit gefälltes Urteil, dessen Relevanz trotz seiner Omnipräsenz in den einzelnen Romanen von der literaturwissenschaftlichen Forschung bislang vollkommen unterschätzt wurde. So muss die sich aus dem Dekadenzdiskurs speisende These eines zivilisatorischen Verfalls auf einer viel grundlegenderen Diagnose fußen, die zunächst eine Aussage über die Gegenwart trifft und damit überhaupt erst die notwendige Voraussetzung für eine Verfallsrhetorik bildet: Europa, so könnte man das Eingangszitat auch paraphrasieren, steckt in einer tiefen Krise. Auf den ersten Blick mag diese Umschreibung kaum verwundern, zumal Brunos Analyse all jene Attribute beinhaltet, die auch gemeinhin mit dem Krisenbegriff assoziiert und von der Dudenredaktion wie folgt zusammengefasst werden: «schwierige Lage, Situation, Zeit (die den Höhe- und Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung darstellt); Schwierigkeit, kritische Situation; Zeit der Gefährdung, des Gefährdetseins.»6 Die Krise lässt sich demnach als thematische Konstante in Houellebecqs Werken identifizieren - zeichnen diese doch, so klingt schon in dem o.?g. Romanauszug an, das Bild einer zutiefst krisengebeutelten Gesellschaft: Die Figuren sind von Einsamkeit und Krankheit geplagt und leiden unter der allzu komplex gewordenen Welt einer 'Ausweitung der Kampfzone'.
Gleichwohl - und damit nähern wir uns dem Gegenstand der vorliegenden Arbeit - ist dem Stellenwert der Krise bei Houellebecq mit dieser sehr breiten Definition nicht hinreichend Rechnung getragen. Aus dem oben nur grob skizzierten Verhältnis von Dekadenz und Krise lässt sich vielmehr ein weitaus komplexerer Umgang des Schriftstellers mit dem Konzept ableiten. Die Krise scheint sich bei Houellebecq mitnichten in einer rein motivischen, also auf inhaltlich-thematischer Ebene angesiedelten Verwendung zu erschöpfen. Stattdessen sei dieser Arbeit die Forschungshypothese vorangestellt, dass die Krise auch strukturell, als Erzählmuster7, in den Romanen verankert ist und hierauf basierend eine besondere Form von Zeitdiagnose konstituiert, die Houellebecqs Erzählprosa mit dekadenten Krisendiskursen des ausgehenden 19. Jahrhunderts verbindet, diese aber nicht einfach kopiert, sondern sie zur Zeitdiagnose einer spezifisch postmodernen Dekadenz radikalisiert. Indem sich die Krise bei Houellebecq folglich auf den Ebenen sowohl des discours als auch der histoire situiert,8 bildet sie geradezu den Dreh- und Angelpunkt seiner Romanpoetik. Sie vermag daher Aufschluss über den produktiven Umgang des Schriftstellers mit der Literaturtradition und über dessen ambivalente Stellung zwischen Moderne und Postmoderne zu geben.
Um der Forschungshypothese nachgehen zu können, sind zunächst einige theoretische Vorüberlegungen notwendig. Den für diese Studie zentralen Konzepten Postmoderne, Dekadenz und Krise entsprechend wird ein dreigliedriges Vorgehen gewählt, das diskursanalytische, intertextuelle und narratologische Ansätze miteinander kombiniert: Anhand diverser Selbstkommentare, wie sie zahlreichen Essays und Interviews mit dem Autor zu entnehmen sind, sollen in einem ersten Schritt Houellebecqs Poetologie und Weltanschauung herausgearbeitet werden. Es wird nachzuweisen sein, dass den Selbstkommentaren ein dezidiert zeitdiagnostisches Potenzial eignet, sich diese nämlich explizit auf den soziokulturellen Kontext der Postmoderne beziehen und sie den Roman als ein Medium der Zeitdiagnose verstehen. Die aus Houellebecqs Selbstkommentaren hervorgehende Gesellschaftskritik soll dabei, auch unter Rückgriff auf den Depressionsbegriff und in kritischer Auseinandersetzung mit vermeintlich typisch postmodernen Zeittheorien, als depressionistische Zeitdiagnose einer Postmodernen Dekadenz konzeptualisiert werden.
Dieser synchrone, diskursanalytisch9 orientierte Zugang wird in einem zweiten Schritt um eine diachrone Herangehensweise erweitert: Damit die These einer Postmodernen Dekadenz später in ausgewählten Werken überprüft werden kann, wird das für die vorliegende Arbeit maßgebliche Verständnis von Dekadenz zu erarbeiten, d.?h. die begriffsgeschichtliche Entwicklung nachzuzeichnen, das Verhältnis der Begriffe Dekadenz und Fin de Siècle zu klären und eine Auswahl grundlegender Merkmale des für die Dekadenz des Fin de Siècle charakteristischen Krisendiskurses vorzustellen sein. Die ersten beiden Kapitel legen solchermaßen das theoretisch-konzeptionelle Fundament für die spätere Analyse der Krise als Zeitdiagnose und für die damit verbundene Beantwortung der Frage nach Houellebecqs Position im Spannungsfeld von Moderne und Postmoderne.
In einem dritten Schritt soll die Methode eingeführt werden, mittels derer die Krise als Erzählmuster analysiert werden kann. Zu diesem Zweck müssen die vielfältigen Bedeutungsebenen des Krisenbegriffs aufgeschlüsselt werden, bevor sodann eine Narratologie der Krise entwickelt und der Begriff spezifisch literaturwissenschaftlich operationalisiert werden kann. In diesem Zusammenhang gilt es, konkrete Analysekriterien zu erarbeiten, mit denen die 'Krisenhaftigkeit' eines Erzähltextes eruiert und in Houellebecqs Romanen so das ästhetische 'Gerüst' der depressionistischen Zeitdiagnose einer Postmodernen Dekadenz freigelegt werden kann.
Auf der Basis dieser drei theoretisch-konzeptionellen Pfeiler soll letztendlich eine detaillierte Analyse ausgewählter Romane Michel Houellebecqs vorgenommen und die o.?g....
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