Schweitzer Fachinformationen
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Wir nannten ihn Zeus. Alle nannten ihn Zeus. Von Schülergeneration zu Schülergeneration wurde der Name weitergereicht. Warum er so hieß? Das wusste niemand. Vielleicht, weil er Respekt einflößte wie kein anderer unter den Lehrern. Viele hatten sogar Angst vor ihm. Ich nicht, obwohl mir Latein nicht gerade lag. Vielleicht hieß er auch Zeus, weil er Rom und seine antiken Götter so vor uns darstellte, als ob er einer von ihnen wäre. Im Gegenzug nannte er uns Kulturbanausen.
Erst als wir in die Oberstufe kamen, hatten wir bei ihm auch Geschichte. Es war in dieser Zeit, genauer gesagt in der Oberprima, als ich Gelegenheit hatte, Zeus auch privat kennenzulernen - ein Privileg, das, soviel ich weiß, weder vor mir noch nach mir je ein Schüler genießen durfte.
Ich kam zu dieser Ehre, weil ich als einziger unserer Klasse für die Jahresarbeit ein Thema ausgewählt hatte, das ihn zu interessieren schien: »Der geistige Widerstand gegen Hitler«. So hatte ich meinen Vorschlag formuliert, doch er hatte ihn gleich bei unserem ersten diesbezüglichen Gespräch, das noch im Klassenzimmer stattfand, geändert. Von nun an hieß mein Thema: »Der kommunistische Widerstand gegen Hitler«, von dem ich zugegebenermaßen keinen blassen Schimmer hatte. Eben deshalb ließ sich Zeus auf eine Reihe von Gesprächen mit mir ein, die bald auch außerhalb der Klasse, in einem eigens für Elterngespräche eingerichteten Zimmerchen stattfanden.
Später dann lud mich Zeus in seine Privatwohnung in der Zeppelinstraße ein. Sie war in der Nähe des Kurparks im Ostteil der Stadt gelegen, und wollte, so empfand ich es, so gar nicht zu den Industrieanlagen, dem gigantischen Rangierbahnhof und den weiter westlich von Hamm gelegenen Zechen passen. Eine Tasse Kaffee nach der anderen trinkend erklärte er mir die Welt, indem er mir von seinem Leben erzählte. Aber ich will den Dingen nicht vorgreifen.
Zeus hatte eine Methode. Mochten seine Schüler anfangs noch verständnislos aus der Wäsche gucken - auch dies sagte er häufig: »Kulturbanausen, die verständnislos aus der Wäsche gucken« - so wandelte sich das, wenn er diese Methode anwandte. Er brauchte in der Regel zwei Unterrichtsstunden, dann wurde auch dem Letzten klar, dass mit ihm nicht zu spaßen war - nicht mit ihm und nicht mit der Geschichte.
»Er kommt!«, rief der an der Tür postierte Klassenbeste. Alle stürzten auf ihre Plätze, um dem olympischen Donnerwetter zu entgehen. Immer verspäteten sich zwei oder drei, sei es aus Unachtsamkeit oder weil der pubertäre Widerstandsgeist sie dazu verleitete, Zeus auf die Probe zu stellen.
Dieser schien jedoch weder die hinter ihren Stühlen stehende Schülerschaft, noch den absichtlich über den Fuß eines Mitschülers stolpernden Klassenclown zu sehen. Sein Blick ging über unsere Köpfe hinweg und musste wohl irgendwo hinter uns an der Wand Großes erspäht haben. Er fixierte so eindringlich das Nichts hinter uns, dass jegliches Geräusch erlosch und wir zu einer unbedeutenden Formation Halbwüchsiger wurden. Als selbst Peter, der Clown, regungslos auf seinem Platz stand, senkte Zeus seinen Blick und ließ eine Stimme erschallen, die endgültig ankündigte, wer hier das Sagen hatte.
»Meine Herr'n! Setzen Sie sich!«
Er sagte tatsächlich »meine Herr'n!« und zwar unter Auslassung des letzten »e«. Es knallte, es schnarrte und wir, gerade einmal sechzehn oder siebzehn Jahre alt, fühlten uns aus der untersten aller Kasten in den Rang von vollwertigen Männern erhoben. Er siezte uns.
»Sie machen sich ja keine Vorstellung .« Wir machten uns keine und wir hatten auch keine, wie auch. Die Peloponnes kannten wir nur aus dem Erdkundeunterricht und Athen, davon hatten wir einige Dias gesehen und das war es dann. Aber es ging nicht um Athen, sondern um Sparta.
»Sie machen sich ja gar keine Vorstellung!«
Jetzt begann eine wahrhafte Theateraufführung. Zeus lief in der Klasse hin und her. Bald mimte er, ein spartanischer Kämpfer zu sein, um kurz darauf einen athenensischen Heerführer zu verkörpern. Steile Felsenpfade ging es hinauf, um in schwindelnder Höhe einen Blick in die Schlucht zu wagen, wo, ganz unten, die Verfolger in endloser Kette aufmarschierten. Die Athener waren in der Überzahl, aber der spartanische Mannesmut und die wohldurchdachte Kriegslist trotzten der höheren Zivilisation. Bald stürzten Steine auf das überlegene Heer hinab und die spartanischen Helden entkamen, nicht ohne bis an die Grenzen der Kraft gehende Tagesmärsche zurückgelegt zu haben. Zeus war sichtbar ermüdet.
»Merken Sie sich das! Merken Sie sich das!«, und er entschwand, ohne uns eines weiteren Blickes zu würdigen.
In der nächsten Stunde gab es Blutsuppe. Zeus forderte uns auf, uns da hineinzuversetzen: nämlich in die Situation der gerade sieben Jahre alt gewordenen Knaben, die unter Aufsicht ihrer dreißigjährigen Mentoren, alte Männer für die damalige Zeit, wie er bekräftigte, Blutsuppe schlürften.
Zeus trank vor unseren Augen aus der hohlen Hand diese ekelerregende Suppe. Das Blut lief ihm den Unterarm hinab, aber es machte ihm nichts.
»Es ist alles Gewohnheit! Der Mensch gewöhnt sich an alles!«
Schulenburg, der Sensibelste unter uns, wurde Opfer der Didaktik des Sich-Hinein-Versetzens und lief würgend, sich die Hand vor den Mund haltend aus der Klasse.
Wenn ich heute, wohl schon älter als Zeus damals, an Situationen wie diese zurückdenke, kann ich nicht umhin, ihn wie eine schwergewichtige Kreatur wahrzunehmen, die, von der Brandung an den Strand geworfen, sich noch verzweifelt und in Aufbietung aller Kräfte gegen sein unvermeidliches Schicksal sträubt. Sein trauriges Los war es, nicht von uns verstanden zu werden. Vielleicht mag der eine oder andere aus meiner damaligen Klasse, so wie ich es heute tue, sich an ihn erinnern und vielleicht sogar einiges zum Besten geben, was an Merkwürdigem in der Erinnerung hängen geblieben ist. Vielleicht lacht man, vielleicht kramen andere ebenfalls Geschichten über skurrile Lehrergestalten hervor, aber damit wird nur weiterhin ignoriert, was ich damals deutlich vor mir sah: Zeus litt.
Es mag also nicht nur das Interesse an der Verbesserung meiner Jahresarbeit gewesen sein, das Zeus bewog, mit mir zu reden und mich dann später in seine Wohnung einzuladen. Er musste gespürt haben, dass ich in ihm nicht nur einen gefürchteten Oberstudienrat sah, sondern angesichts des Eindrucks, den seine Unterrichtsstunden bei mir hinterließen, zu denken begann.
Wie viele junge Menschen der in diesen nun weit zurückliegenden Jahren war auch ich links.
»Links ist da, wo der Daumen rechts ist!«, sagte Zeus und hatte wieder einmal die Lacher auf seiner Seite. Sie lachten dieses Mal durchaus auch über mich, denn ich hatte, als wir die Geschichte Osteuropas durchnahmen, die Ideen der Oktoberrevolution verteidigt. Nun gut, ich wusste recht wenig von den Ereignissen in Russland am Ende des Ersten Weltkrieges, hatte aber Auszüge aus der Autobiografie von Trotzki gelesen und fand die Forderung nach Frieden und Land, mit der die Bolschewiki die Soldaten und hungernde Bauern auf ihre Seite brachten, sehr sympathisch.
»Revolution«, keuchte Zeus, »das war doch keine Revolution! Das war ein Putsch! Ein vom deutschen Generalstab angezettelter Putsch!«
Und er erzählte, wie Lenin nach langen Jahren im Schweizer Exil von den Deutschen in einen verplombten Zug gesetzt und unbehelligt bis hinter die feindlichen Linien gebracht worden war. Ich staunte und die Klasse griente, hatte es Zeus doch seinem Lieblingsschüler gerade so richtig gegeben.
»Der Zar war doch schon erledigt. Es gab eine provisorische Regierung unter Kerenski. Hätten sie die regieren lassen, wer weiß, vielleicht wäre den Russen vieles erspart geblieben. Die Zarenfamilie wäre jedenfalls nicht ermordet worden. Selbst die Kinder des Zaren haben sie erschossen. Schöne Revolution!«
Zeus brabbelte noch einiges vor sich hin, was ich nicht verstehen konnte, schloss seine Aktentasche und verließ die Klasse.
Für mich lag Zeus wieder einmal falsch. Wer gegen die Russische Revolution war, konnte nur ein Reaktionär sein. Und das mit der Zarenfamilie? Die Zaren waren ja selbst grausam gewesen, hatten Trotzki in die Verbannung geschickt und Lenins Bruder exekutiert. So einfach war das damals für mich.
Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass Zeus mir vor der gesamten Klasse widersprach. Ich ließ mich aber keineswegs einschüchtern wie die meisten meiner Mitschüler, sondern bereitete mich auf zu erwartende Herausforderungen vor, indem ich las. Statt einiger Auszüge, las ich Trotzkis Biografie ganz. Sogar Marx nahm ich mir vor, den Zeus nur streifte, so, als ob seine Gegenwart ihm lästig wäre.
»Ideen! Ideen! Marx...
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