Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
"Wir brauchen eine Utopie, und für die mache ich Theater." (Johann Kresnik)
Solange ich denken kann, waren das Theater, die klassische Musik und die Oper immer da. Sie waren Teil meines Lebens. Als ich ein Kind war, hat der Dirigent Peter Schneider, der 1978 Generalmusikdirektor in Bremen wurde, uns den Lohengrin ("mein lieber Schwan!") erklärt und gemeinsam mit unserer Schulklasse Teile aus der Entführung aus dem Serail gesungen ("Wer so viel Huld vergessen kann, den seh' man mit Verachtung an"). Später bin ich mit der Straßenbahnlinie eins, manchmal mehrmals die Woche, aus dem eher prekären Stadtteil Kattenturm in die Stadt gefahren und habe mir - aus dem zweiten Rang des Theater Bremen - so ziemlich alles angesehen, was auf dem Spielplan stand: Ich habe die Provokationen von Johann Kresniks Ulrike Meinhof und seine Frida Kahlo gefeiert, mich über biedere Operetten-Abende amüsiert und Opern-Trouvaillen wie Manfred Gurlitts Wozzeck beklatscht.
Meine Kindheit und Jugend im Schatten der Provokationsanstalt, der guten Stube der schönen Kunst, der Mythenfabrik, des Theater Bremen, hat mich zu dem werden lassen, was ich bin: Ich habe Musikwissenschaft studiert, wurde Kritiker, Kulturjournalist und Filmemacher. Die Musik und die Bühne sind mein Leben, aber heute, mit über 50 Jahren, scheint mir die Rolle des Theaters nicht mehr ganz so selbstverständlich zu sein wie damals. In ganz Deutschland wurden Theater und Orchester fusioniert, die Bühne spielt nicht nur in meiner alten Heimat Bremen kaum noch eine Rolle, Musikunterricht wird an vielen Schulen gar nicht mehr gegeben - und in der öffentlichen Debatte ist die Stimme der darstellenden Kunst kaum noch wahrnehmbar. Aktuelle Themen werden bei Maybrit Illner oder Markus Lanz verhandelt, nicht mehr auf der Bühne des Theater Bremen.
Bin ich zu nostalgisch? Sehne ich vergeblich die Vergangenheit zurück, während die Welt sich radikal wandelt? Auf jeden Fall bin ich nicht allein mit meiner Beobachtung. Gerade in bürgerlichen Kreisen sorgt das Verschwinden der kulturellen Selbstverständlichkeit für zuweilen wütende Reaktionen. Es herrscht eine Art Kulturkampf zwischen der "sterbenden Generation" und der "letzten Generation". Zwischen jener Gruppe, die seit Jahrzehnten zum treuen Orchester- und Theaterpublikum zählt, und jener, die mit dem Theater nur wenig anzufangen weiß und lieber auf der Straße für eine Zukunft mit neuen Regeln kämpft. Ein Teil des aktuellen Publikums will unsere Bühnen mit der Wut der Verzweiflung als Tempel des Gestern behaupten. Diese Haltung kommt oft aus einem Bildungsbürgertum, das sich zum Konservieren des Bestehenden verabredet hat. Debatten um Blackfacing oder autoritäre Führung, um Gendern oder Diversität werden von ihm als überflüssige "Wokeness" abgetan. Gleichzeitig attackiert eine junge Generation Bilder von Monet, Klimt oder Van Gogh mit Kartoffelbrei, Öl oder Tomatensuppe, stört klassische Konzerte und klebt sich an Kunstwerke, die sie so zu Requisiten ihrer eigenen Inszenierung degradiert.
Dieser Essay beginnt mit meiner eigenen Zerrissenheit, quasi zwischen den rivalisierenden Polen. Ich beobachte, wie Werte, die ich schätze, auch zu meinem Bedauern verschwinden und wie neue Werte an Bedeutung gewinnen, die ich durchaus teile. Ich glaube fest, dass die Kulturlandschaft - und besonders die Nische der klassischen Musik - zu klein ist, um in eine "Zwei-Klassik-Gesellschaft" zu zerfallen. Doch die "sterbende Generation" und die "letzte Generation" erscheinen in der Öffentlichkeit wie unvereinbare Bewegungen einer modernen Kulturgesellschaft, die vollkommen unterschiedliche Erwartungen an Theater und Bühne formulieren. Was ihre Ideologien eint, sind die Empfindungen tiefer Enttäuschung, ein Unverständnis gegenüber der allgemeinen Weltlage und ihre zunehmende Radikalisierung. Für die "sterbende Generation" stellt das bürgerliche Theater eine der letzten gesellschaftlichen Trutzburgen eines traditionellen Bildungskanons dar, während das wahre Spektakel - bis hin zum Weltuntergang - für die "letzte Generation" längst nicht mehr auf den Bühnen, sondern in dem, was wir Wirklichkeit nennen, stattfindet. Sie braucht keinen Monet, Mozart oder Wagner; sie hat die reale Welt längst zur Bühne in eigener Sache erhoben.
Oft bleibt im Kampf um die Kultur keine Zeit für den großen Blick, dafür, die unterschiedlichen Schauplätze miteinander zu verbinden, nach Strukturen zu fragen, nach Anlässen und Ursachen. Zuweilen ist das polemische Gegeneinander zu verlockend, um mühsam nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Oft bleiben Beobachtungen lediglich flüchtige Notizen, die sich Woche für Woche aneinanderreihen und - häufig aus bloßem Zeitmangel - nicht miteinander in Verbindung gebracht werden. In diesem Essay unternehme ich den Versuch, einen Schritt zurückzutreten und meine individuellen, alltäglichen Beobachtungen des Theater- und Klassikbetriebes zusammenzuführen. Oft sind die Eindrücke aus den Gesprächen für meinen Podcast Alles klar, Klassik?, meine Interviews für unterschiedliche Zeitungen und Zeitschriften, meine privaten Begegnungen mit Künstlerinnen und Künstlern, mein Austausch mit Intendantinnen und Intendanten während meiner Filmdrehs oder hinter den Kulissen ebenso flüchtig wie deren alltäglicher Kampf, ihre Theater und Orchester weiterzuentwickeln. Dieses Buch möchte einen ausgeruhten und geordneten Überblick über die vielfältigen Felder geben, auf denen die Transformation der Kultur derzeit stattfindet, und eine Art Debattenhandbuch der "Zwei-Klassik-Gesellschaft" sein. Ein Plädoyer dafür, gemeinsam zu retten, was wir alle lieben: die große Tradition von Bühne und Musik. Um ihre gegenwärtige Relevanz zu behaupten, müssen wir die Kultur und ihre Institutionen eventuell ganz neu denken.
In der Antike diente das Theatron als Ort für politische Debatten, hier wurden die Spielregeln der Demokratie in realpolitischen Diskursen verhandelt. Gleichzeitig fanden ausschweifende Feste statt, religiöse Rituale, Komödien und Tragödien wurden in Szene gesetzt. In diesen meist mehrtägigen Dionysien verwandelte sich das Theater zu einer Erweiterung der Wirklichkeit, in der das Unvorstellbare auf der Bühne vorgestellt, das Undenkbare gedacht, das Individuelle verallgemeinert, das Kleine vergrößert und die Realität um neue Perspektiven erweitert wurde. Um Perspektiven, die nur jenseits der Realpolitik möglich sind. Das inszenierte Theater diente als Erweiterung der Debattenkultur, in der Wahrhaftigkeit in der Fiktion gesucht wurde und Halt in der Schwerelosigkeit der Fantasie.
Heute sehen Inszenierungen anders aus: Das Publikum grölt, wenn ein Staatsoberhaupt die Bühne betritt, wenn es eine Showtreppe hinunterstolpert, aus den Boxen laute Musik plärrt, wenn der Politiker als Clown - bestrahlt von gleißenden Scheinwerfern - in einem etwas zu großen Anzug, mit wilder Frisur und roter Kopfbedeckung in die Massen winkt, die ihm aus dem Dunklen zurückjubeln. Dann klatscht der Clown in die Hände und tänzelt ans Rednerpult. Plötzlich wird dem Publikum, das bei Shakespeare noch über den König als Clown gelacht hat, über seine Tollpatschigkeit oder über den notgeilen Falstaff, klar, dass der moderne Harlekin nicht gekommen ist, um Spaß zu machen, sondern um einen gewaltvollen Aufstand ins Rollen zu bringen - nicht im Raum der Kultur, auf der Bühne, sondern in dem, was wir Wirklichkeit nennen. Am Ende der Revolution des Clowns steht ein Reich, in dem die Wahrheit zur Lüge, das Vertrauen zur Missgunst, das Wir zum Ich und das Theater zur Wirklichkeit werden.
Die alte Idee des Theatron, in dem die Debatte von den Spektakeln getrennt wurde, löst sich auf, ja kehrt sich um. Denn längst hat die Realität dem Theater seine wirkungsvollsten Mittel entrissen: die ambivalente Rede, die Schaffung einer neuen Realität durch eine perfekte Inszenierung, die Überwältigung der Menschen durch Geschichten - die Verwandlung des Individuums zum erfundenen Charakter. Die Bühne - und besonders die klassische Musik - entwickelt dagegen kaum noch eine breite gesellschaftliche Wirkungskraft. Es gibt keine Protagonisten mehr, die gesellschaftliche Grundwerte ernsthaft und mit Breitenwirkung infrage stellen, so wie der Komponist Pierre Boulez in den 1960er-Jahren, als er die Opernhäuser, für ihn Ausdruck europäischer Nachkriegsbiederkeit, in die Luft sprengen wollte (worüber die Menschen sich damals noch ernsthaft aufgeregt haben!). Oder populäre Klassik-Künstler wie Herbert von Karajan oder Leonard Bernstein, die - beide auf ihre Art - gesellschaftliche Diskurse mit Musik begleitet haben.
Die Dramatis Personae unserer Wirklichkeit heißen Donald J. Trump, Boris Johnson, Wladimir Putin, Kim Jong-un...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.