Schweitzer Fachinformationen
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Das Jahr der Weltausstellung in New York, 1964. Der erste Kennedy im Jahr zuvor ermordet, seine Büste in unterschiedlicher Größe, aus Aluminium, Kupfer, Kunststoff und vergoldet in den gift shops zu kaufen; bereits zu herabgesetztem Preis. Aber noch wallfahren die Farbigen zum Arlington-Friedhof bei Washington, gehen in Zweierreihen an Kennedys Grab vorbei; kleine Gräber rund um das seine: die toten Babys der Jacqueline, damals noch eine Jahrhundertwitwe. In einem der Off Broadway-Theater spielt man Albees >American Dream<; an der Bovery Genets >Blacks<. Von women's lib ist noch nicht die Rede, an den Universitäten herrscht noch Ruhe. Auch in Berkeley wird unter den hohen Bäumen des Campus noch diskutiert und ernst und gewissenhaft geküßt, ein Sex-Pensum wird erledigt. Sie liegen zu zweien auf dem kurzgeschorenen Rasen, aber die Parole make love not war habe ich nicht gehört. Studenten aus den Nordstaaten reisen bereits zu den Universitäten des Südens, um sich mit farbigen Studenten solidarisch zu erklären; Martin Luther King lebt noch, aber black ist noch nicht beautiful Der Dollar steht noch zur Deutschen Mark im Verhältnis 1:4; die Armutslinie verläuft bei 3000 Dollar im Jahr. Joan Baez singt noch folk-songs und keine protest-songs.
Auf der Überfahrt hatte ich zu lange in Kafkas Amerika-Buch gelesen. Ich kam an und stellte fest, daß ich alle meine Reiseschecks verloren hatte. Was als Alptraum begann, endete wie im Märchen: Innerhalb einer Stunde stellte mir eine New Yorker Bank neue Dollarschecks aus, Reisepaß und Aussehen als einzige Legitimation; die Nachricht, daß die Schecks in meiner Schiffskabine gefunden worden seien, erreichte mich nach zwei Monaten. Ich fuhr mit einer Fahrkarte, die nicht gültig war, von New York nach Cleveland; meine troubles wurden von Aufsichtspersonal, Fahrdienstleiter und Mitreisenden gelöst. Als in North Dakota unser Auto einen Motorschaden hatte und wir ratlos vorm geöffneten Kühler die Betriebsanleitung studierten, hielt der erste und in Stunden einzige Autofahrer an, fragte: »Troubles?«, stieg aus, reparierte den Schaden, sagte: »Hi!« und fuhr weiter.
Wo ihr nutzt, seid ihr zu Hause, heißt es in Goethes Auswanderergesprächen. Auf amerikanisch heißt das: Can I help you? Ich habe den Amerikanern oft Gelegenheit gegeben, mir zu helfen.
Juni in New York! Ich war allein, aber ich fühlte mich nicht in der Fremde. Ich kannte >Manhattan Transfer<, und ich kannte den >Guten Gott von Manhattan<; im Guggenheim-Museum sah ich eine Van-Gogh-Ausstellung; im Museum of Modem Art >entartete Kunst< des >Dritten Reichs<. Ich saß unterm gotischen Gewölbe eines aus Südfrankreich Stein für Stein importierten, sorgsam wieder aufgebauten Kreuzganges und hörte dort gotische Musik. Auf dem Empire State Building entsprachen meine Gefühle meinen Erwartungen. Aber: nach einem Gewitterregen stiegen von den Wolkenkratzern dicke weiße Wolken auf! Das Staunen begann in New York, das Fremdsein begann später.
Ich erinnere mich an den ersten Apfelstrudel, apple-pie genannt, den ich in New York aß; er schmeckte köstlich! Ich bestellte mir in Oregon, in Arizona und Arkansas apple-pie, und er schmeckte jedesmal genauso köstlich, kam aus den verschiedensten Kühltruhen, aber immer von derselben Firma. Ich habe keine anderen als amerikanische Rundfunksender gehört, ich habe keine anderen als amerikanische Zeitungen gelesen. Man reist 800 Meilen täglich und ist immer noch auf demselben Kontinent, spricht immer noch dieselbe Sprache. Die amerikanische Vereinfachung hat eine ungeheure Prägekraft, sie reicht bis ins westliche Europa. Zwei Salatsoßen genügen für einen Kontinent. Man liest >Reader's Digest< in Virginia und in Idaho. Mir schien, als sprächen die Leute in den drugstores wie die Leute in den TV-Familiensendungen. Die Kinder verhielten sich im Swimming-pool des Motels genau wie die TV-Kinder. Der beste aller daddies begegnete uns jeden Tag mehrmals auf Parkplätzen. Überall ging es TV-nah zu; nie hatte ich den Eindruck, als ginge es auf dem Bildschirm lebensnah zu.
Wir fuhren von Ost nach West, from coast to coast, dann von Nord nach Süd und von West nach Ost und schließlich von Süd nach Nord. Ein großes Quadrat. Ich hatte neue Ausmaße und neue Maße zu lernen, Meilen statt Kilometer, Fahrenheit statt Celsius, Fuß statt Meter, die Gallonen Benzin zahlten wir in Dollar und Cent. Ich hatte vier Monate an Zeit, 10 000 Mark an Geld zur Verfügung, von denen ich 3000 übrigbehielt. Überfahrt, Theater, Kino, Musical, Museen, Nationalparks, Fotomaterial, Benzin, alles ist in der Summe enthalten, nur nicht die Gastfreundschaft. In Europa wird der Fremde nur in armen Ländern als ein Gast angesehen. In den Vereinigten Staaten von Amerika lernten wir die Gastlichkeit eines reichen Landes kennen. Dinners und Cocktailparties zu unseren Ehren. Man nahm uns mit zu Freunden von Freunden von Freunden, bis wir nicht mehr wußten, wieso wir mit wem und wo zu Gast waren. Meet people ist eine Leidenschaft der Amerikaner, wie das Lösen von troubles. Nie zuvor und nie wieder habe ich an Plätzen, die für Picknicks so ungeeignet waren, so vorzügliche Steaks und Hamburgers vorgesetzt bekommen. Barbecue am windigen Ufer des Michigansees, Barbecue unter zweihundertjährigen Zedern auf dem Mount Palomar in Kalifornien; Barbecue unter einem Wasserfall in den Wäldern Tennessees. Für ein Picknick sind 200 Meilen Anfahrt nicht zuviel. Kein Gastgeber erwartet einen Blumenstrauß. Ich schrieb in die Gästebücher Datum und Namen und >Germany< und: >I like America!< Es gibt ein Foto aus Arizona, auf dem ich einen dreimannhohen Kandelaber-Kaktus umarme. Die Stacheln zehn Zentimeter lang, trotzdem nisteten die Vögel darin. >How I like America<, schrieb ich darunter. So zwiespältig.
Von New York nach Cleveland (Ohio) nordwärts, mit der Bahn am Hudson entlang; ich blickte aus dem Fenster und gewöhnte mich an ein Land ohne menschliche Ansiedlungen. Mittags sah ich dann einen alten Mann mit weißen Bartstoppeln; er lehnte an einem Oberleitungsmast und spielte die Geige. Und nirgendwo eine Menschenseele, nur der D-Zug, der zweimal täglich in beiden Richtungen vorüberfuhr. Für alle Ewigkeit lehnt der alte Mann in meinem Gedächtnis an dem Mast und geigt. Buffalo! Und ich stieg nicht aus und fuhr nicht an die Niagarafälle, die falls; ich wollte nicht dort sein, wo alle waren. Ich fuhr am Eriesee entlang und dachte an >John Maynard< und an Fontane. >Noch zehn Minuten bis Buffalo.<
Der Volkswagen, Exportausstattung, reiste inzwischen auf einem Frachtdampfer durch den Sankt-Lorenz-Strom und traf gleichzeitig mit mir in Cleveland ein. Als ich in Oberlin die Autoversicherung abschloß, studierte der junge Agent meinen Paß und sagte: »Hello, Chris! How are you?« Ich korrigierte ihn. »I'm Mrs. Brückner!« Er sah mich an und grinste. »Yes, Chris!« Unter >Chris< habe ich meine Schuhe zur Reparatur gegeben, als >Chris< wurde ich auf Parties vorgestellt. Ab Cleveland reisten wir zu zweit, also sagte man: »Hi, girls!« Eine junge Professorin für deutsche Literatur am College in Oberlin/Ohio wollte ihrer ehemaligen Autorin beweisen, warum sie Amerika liebte. Wo ich auch stand, atemlos und überwältigt, auf den größten Dünen der Welt am Michigansee, vor den Geysiren im Yellowstone Park, am Crater Lake in Oregon, den die Entdecker den >sehr blauen See< nannten, immer sagte sie: »Es kommt noch schöner, Chris!« Bis wir dann am Grand Canyon standen, da sagte sie: »Ich glaube, jetzt wird es nicht mehr schöner.«
Je weiter wir nach Westen gelangten, um so jünger wurden wir; oft waren wir die Jüngsten. Das lag an den anderen. Das gesellschaftliche, kirchliche und kulturelle Leben spielt sich unter Frauen ab, die jenseits der Sechzig sind, pensioniert und verwitwet, meist beides. Alle priesen sich glücklich, mir begegnet zu sein, aber eine Journalistin statt einer Schriftstellerin hätte sie noch glücklicher gemacht. Fiction war ihnen nicht geheuer, non-fiction lieber. Immer wieder wurde ich gefragt, ob die >Blechtrommel< ein typisch deutsches Buch sei, es war wichtig, daß man das Typische las. Kleine Gespräche, keine Diskussionen. Man sprach ungeniert über sex, aber nicht über Gefühle. >I like him<, hieß es, aber das heißt es von jedem. Neue Tabus. Niemand wünschte mit mir über den Tod Kennedys oder das Rassenproblem zu sprechen. Aber es hat mich auch niemand nach Auschwitz gefragt.
Wenn man durch Nordamerika reist, kann man sicher sein, daß man irgendwo in einen Blizzard, einen Tornado oder Hurrikan gerät. Den Hurrikan bekam ich auf der Rückreise. >Elise< hieß er, und die >Bremen< wich ihm bis zu den Neufundland-Inseln aus; unseren Tornado bekamen wir im Staate Michigan. >Gefährliche Wirbelstürme in Nordamerika, örtlich und zeitlich begrenzt<, meine Erfahrungen bestätigen diese Angaben. Wir saßen beim Dinner in einem kleinen Cottage unter riesigen Bäumen am Green Lake, verängstigt, aber lächelnd, wie unsere Gastgeberin. Der Tag wurde plötzlich zur Nacht, der Wind zerriß Blätter, zerbrach Äste, peitschte das Wasser des Sees auf, entwurzelte einen Baum, der das benachbarte Cottage in zwei Teile zerlegte. Es war unbewohnt. Heiliger Sankt Florian! Eine halbe Stunde später badeten wir bei Sonnenschein im See, sahen dem Kolibri zu, der flügelschwirrend am Honigtopf nippte. Tornados, aber auch Kolibris. Übertreibungen und Widersprüche.
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