Vorwort
Das Thema Sexualität ist in vielen ihrer Facetten heute allgegenwärtig. Die Bandbreite der Diskussionen reicht von weiterer sozialer Anerkennung der Vielfalt sexueller Ausdrucksformen bis hin zum besseren Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Pornografie, von der Aufhebung der binären Geschlechtsdefinition in »männlich-weiblich« bis hin zu Fragen, was in der Reproduktionsmedizin möglich ist und erlaubt sein soll. Die Liberalisierung und die gewonnenen Freiheiten sind selbstverständlich zu begrüßen. Dem steht aber das menschliche Bedürfnis nach Sicherheit, Halt und Zugehörigkeit gegenüber. Dabei kann die Orientierung des Einzelnen verloren gehen und seine Verunsicherung wird groß. Wo grundsätzlich vieles erlaubt ist, wird einiges zudem zum (neuen) Anspruch. Muss ich Oralsex mögen? Bin ich verklemmt, wenn ich keinen Analsex mag? Ist es normal, wenn .? Die Frage nach dem, was normal ist oder sein sollte, ist eine der häufigsten im klinischen Alltag. In einer Partnerschaft will fast immer ein Partner häufiger Sex als der andere. Ist jetzt einer gestört? Wessen Bedürfnisse sind nun normal? Ist es nicht normal, dass Partner unterschiedliche Bedürfnisse haben?
Hilft überhaupt eine solche Polarisierung zwischen normal und gestört für unser Verständnis der komplexen Wechselwirkungen, in denen Menschen ihre Sexualität erleben? Nach wie vor leben die meisten Menschen ihre Sexualität in verbindlichen Partnerschaften, die meist aus Liebe eingegangen werden. Liebe und Sexualität sind also eng verknüpft. In der ersten Phase der Verliebtheit ist meist die sexuelle Anziehung und das Begehren groß. In einer verbindlichen Beziehung spielen später häufig weitere Bedürfnisse eine größere Rolle. Dazu zählen etwa der Wunsch nach Sicherheit, Wertschätzung, Zugehörigkeit, Zuverlässigkeit oder Unterstützung.
Die Bedeutung der gemeinsamen Sexualität verändert sich im Laufe einer Beziehung. Die Sexualität ist über die Zeit nicht mehr nur von der Neugierde bestimmt, sondern sie bestätigt die Exklusivität der Beziehung und grenzt sie von anderen, wie z. B. Freundschaften, ab. Damit treten aber auch Ängste (wieder) auf, den anderen verlieren zu können. Partner bemühen sich dann stärker, auf die Bedürfnisse des anderen einzugehen. Vermehrt Rücksicht auf den anderen zu nehmen, heißt aber oft, die eigenen Wünsche hintanzustellen. Die Sexualität läuft Gefahr, sich in Routine und Vorhersehbarkeit zu verlieren. Risikobereitschaft, Neugierde und Offenheit, ja die Bereitschaft, sich »zu zeigen«, und die Fähigkeit, für eigene Bedürfnisse einzustehen, auch wenn der andere darauf negativ reagieren könnte, sind aber wesentliche »Zutaten« einer lebendigen Sexualität.
Am Anfang ist es für viele Menschen einfacher, sie selbst zu sein, weil sie »noch nichts zu verlieren haben«. Manchmal ist sogar die Fantasie der Ungebundenheit sexuell stimulierend. Eine Patientin hat es einmal so ausgedrückt: »Ich habe so lange mit einem Partner guten Sex, solange ich das Gefühl habe, ich kann jederzeit gehen. Nun habe ich den besten Mann der Welt. Er ist fürsorglich und trägt mich auf Händen. Ich bin endlich angekommen. Aber ich habe keine Lust, mit ihm Sex zu haben.« Zum Verständnis dieses Erlebens ist es wichtig, herauszufinden, welche anderen Bedürfnisse und eventuellen Ängste diese Frau mit einer verbindlichen Beziehung in Zusammenhang bringt. Es könnte sein, dass sie Angst davor hat, in einer engen Beziehung erdrückt zu werden, so lieb ihr die Zuwendung ihres Mannes auch ist. Oder sie unterdrückt Gefühle wie Ärger oder Wut gegenüber ihrem Mann, weil sie ihn gar nicht immer so selbstlos erlebt, er aber Kritik nicht verträgt. So kann die sexuelle Lustlosigkeit ihre Möglichkeit sein, zu sagen: »Ich brauche Luft zum Atmen und dazu, ich selber sein zu dürfen.«
Wir Menschen leben unsere Sexualität in einem Spannungsfeld verschiedener, oft auch gegensätzlicher emotionaler Bedürfnisse. Dies anzuerkennen ist ein wichtiger erster Schritt. Dann lässt sich fragen: Welches Verhalten, welche Einstellungen und Werte helfen dabei, Lösungen im Umgang mit den Dilemmata der Sexualität zu finden? Und was kann man von einer Sexual- oder Paartherapie erwarten?
Ich bin Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Paar- und Sexualtherapeutin in eigener Praxis. Die Menschen, die meine Hilfe suchen, leiden unter ihren sexuellen Problemen als Individuen und/oder als Partner in ihren Beziehungen. Die Beeinträchtigung der Lebensqualität durch das Problem ist oft groß. Das gilt es zu würdigen. Patienten haben meist schon vieles versucht. Mit Respekt, Interesse und Wertschätzung soll ihren Anliegen begegnet werden. In der Therapie begeben sich Therapeut und Klienten auf die gemeinsame Suche nach einem vertieften Verständnis ihres Leidens. Erst damit lassen sich neue Lösungswege erschließen.
Im vorliegenden Band werden zuerst die häufigsten klinischen sexuellen Störungsbilder beschrieben. Dies geschieht nicht ohne eine kritische Reflexion darüber, wann ein Problem zur Störung wird. Denn sexuelle Schwierigkeiten treten regelhaft im Lauf des Lebens auf und sind nicht per se als Störung zu bezeichnen. Dennoch ist es hilfreich zu erkennen, wann ein vorübergehendes Problem zur ernsthaften Störung wird. Das Störungsverständnis spiegelt dabei den gesellschaftlichen Wandel im Umgang mit Sexualität wider und schließt wissenschaftliche Erkenntnisse ein. Schließlich ist auch nicht außer Acht zu lassen, dass die Definition eines Leidens als Krankheit eine Voraussetzung dafür ist, dass die Abklärung und Behandlung von Krankenversicherungen übernommen werden kann.
Im Kapitel »Sexualstörungen verstehen« werden hilfreiche Konzepte vorgestellt, die zum Verständnis der Sexualität und ihrer Störungen beitragen. Der größte Teil des Bandes ist im Kapitel »Sexualstörungen lösen« den Interventionen gewidmet, wie sie sich in der praktischen Arbeit bewährt haben und von den Klienten als hilfreich erlebt wurden. Zahlreiche Interventionen entstammen der therapeutischen Arbeit mit Paaren. Die Zusammenstellung erhebt selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Die Liberalisierung der letzten Jahrzehnte hat zwar grundsätzlich zu einer breiteren gesellschaftlichen Akzeptanz von Homosexualität und anderen sexuellen Orientierungen geführt. Dennoch bleibt unbestritten, dass homosexuell orientierte Menschen es nochmals schwerer haben, ihre Sexualität unbeschwert, offen und sicher leben zu können. Allein schon das Coming-out stellt je nach Lebenskontext eine große Herausforderung dar. Nach wie vor sind Homosexuelle mit Vorurteilen konfrontiert oder erleben Gewalt aufgrund ihrer Homosexualität. Diese besonderen äußeren Rahmenbedingungen als erschwerende Faktoren mitzubedenken, gehört zur therapeutischen Sorgfalt.
Die Konflikte rund um Lust und Sexualität bei homosexuellen Paaren, die in einer verbindlichen Partnerschaft leben, ähneln aber denen bei heterosexuellen Paaren. Die Probleme betreffen den Verlust der Lust, unterschiedliche Wünsche der Partner, das Ausbalancieren von Nähe und Distanz, Verletzungen durch Außenbeziehungen, die Bewältigung schwerer Erkrankungen oder die Angst, den Partner zu verlieren. Es geht um Fragen der offenen Kommunikation, der Konfrontationsbereitschaft, der Sehnsucht nach Zugehörigkeit und der Angst davor, jemanden zu verlieren. Insofern kann das, was im Folgenden für heterosexuelle Paare dargestellt wird, immer auch ein Thema homosexueller Paare sein.
Dieses Buch ist für Sie als Interessierte und Betroffene geschrieben. Mein Ziel ist es, Ihnen Wissen im Kontext sexueller Probleme zu vermitteln, Richtungen für Lösungswege zu skizzieren und eine Vorstellung davon zu ermöglichen, was Sie in einer systemisch orientierten Sexualtherapie, sei es im Einzel- oder im Paarsetting, erwarten können.
Viele Betroffene suchen in meiner Praxis einerseits Hilfe in einer Paartherapie. Andererseits fokussiert die Systemische Therapie weniger auf das Leiden des Individuums an sich als vielmehr auf die Bedeutung der Störung für eine gelingende und glückliche Beziehungsgestaltung.
Sie werden als Leser und Leserin an einigen Stellen im Buch direkt mit Fragen, die zum jeweiligen Kapitel passen, angesprochen. Die Stellen sind eingerahmt. Bitte verstehen Sie diese direkte Anrede als Einladung, innezuhalten und sich über Ihr eigenes Erleben und Ihre Befindlichkeit Gedanken zu machen.
Alle Patientendaten sind so anonymisiert, dass keinerlei Rückschlüsse auf die Identität der Personen möglich sind. In den Fallbeispielen habe ich den Klienten zur besseren Lesbarkeit fiktive Vornamen gegeben. In der Praxis sieze ich meine Patientinnen und Patienten selbstverständlich....