Schweitzer Fachinformationen
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Ich erinnere mich an Folgendes: Das entsetzliche Geräusch, als der Blumentopf auf dem Boden zerschellte. Ich war fünf, stand am Wohnzimmerfenster, das helle Sonnenlicht fiel herein, und die dünnen weißen Vorhänge blähten sich im Wind. Mein Gefährte - mein einziger Freund - lächelte mich an, dabei zeigte er seine spitzen Zähne.
Ich nannte ihn »Pepper-Man«, aufgrund des starken Geruchs, der von ihm ausging und mich immer vorwarnte, bevor er eintraf. Meistens tauchte er am Fußende meines Betts auf, saß dort im Schneidersitz, kämmte sich mit einem Knochenkamm oder flocht Tiere und Kronen aus Zweigen; Geschenke für sein kleines Mädchen.
Seine Haut war grau und knotig, schwarze Warzen sprossen in Scharen aus seinen Gelenken, und sein langes weißes Haar hing ihm fast bis zu den Knien, so zottig und trocken wie altes Heu. Er war sehr groß. Seine Finger waren lang. Gerade hatten sie den frisch aufgefüllten Blumentopf vom weiß gestrichenen Fensterbrett gestoßen. Nun beobachtete er mit seinen dunklen, moosgrünen Augen erwartungsvoll die Tür - neugierig.
Pepper-Man zog die schwarzen Lippen zurück und bleckte die Zähne, als meine Mutter ins Zimmer kam. Die grauen Fetzen, in die er seinen unansehnlichen Körper kleidete, bewegten sich in dem Luftzug, der zur Tür hereinwehte.
»Oh, Cassie«, sagte meine Mutter. Sie trug ihren marineblauen Rock und stemmte die Hände in die Hüften. »Schon wieder? Warum kannst du es nicht sein lassen? Ich habe dir doch gesagt, dass du die Blumen nicht anfassen sollst.« Ihr Blick lag auf der roten Petunie, deren Blütenblätter unter der Blumenerde und den Scherben zerfetzt worden waren.
»Ich war's nicht.« Ich vergrub die schweißfeuchten Hände im Rock meines gelben Sommerkleides. »Es war Pepper-Man .«
»Ach, hör doch endlich damit auf.« Sie kam zu mir, ihre Absätze klapperten über die Dielen. »Wo ist denn dieser Pepper-Man? Wohl einfach aus dem Fenster geflogen, was?« Sie beugte sich vor und sammelte die scharfen Tonscherben auf. Mein Freund ragte über ihr auf, musterte sie immer noch voller Neugier mit dem Lächeln, das seine schwarzen Lippen umspielte.
»Nein«, hauchte ich und sah zu, wie das steife Haar meiner Mutter Pepper-Mans Körper beinahe streifte, als sie sich wieder aufrichtete.
»Du bist jetzt ein großes Mädchen, Cassie«, sagte Mutter. »Ich denke, es ist an der Zeit, dass du aufhörst, andere für deine Fehler verantwortlich zu machen. Das ist der fünfte Blumentopf diese Woche. Warum kannst du nicht einfach die Finger davon lassen? Was haben dir die armen Blumen denn getan?«
»Nichts«, murmelte ich mit zu Boden gesenktem Blick. Dort standen Mutters schwarz funkelnde Schuhe neben den verknoteten Zehen meines Freundes. Ich wollte einfach nur, dass sie schnell wieder ging, ich traute Pepper-Man nicht in der Gegenwart anderer Leute. Er war unberechenbar und manchmal grausam, immer viel zu neugierig, was Menschen anging. Er streckte die Hand nach Mutters Kopf aus, seine Finger öffneten und schlossen sich, rieben aneinander, die langen Nägel schoben sich durch die Luft. »Sie sind doof«, sagte ich hastig, um ihre Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen und sie vor Pepper-Man zu retten. »Ich hasse die Blumen! Sie sind doof! Sie sind hässlich und rot, und ich hasse sie!« Ich fuhr herum, schnappte mir einen weiteren Blumentopf vom Fensterbrett, der fluffige weiße Blumen enthielt, und schleuderte ihn zu Boden. Erde verteilte sich überall. Der Topf zerbrach nicht, sondern rollte über den Boden und blieb vor Mutters Füßen liegen. Pepper-Man zog die Hand zurück.
»Cassie!«, schrie Mutter und ließ die Scherben fallen, die sie gerade erst aufgesammelt hatte. Sie landeten auf dem Boden, mitten zwischen der Erde und dem Grünzeug. »Sieh nur, deinetwegen habe ich mich verletzt.« Sie hob einen Finger. Dicke Blutstropfen liefen über ihre weiße Haut, flossen auf ihre goldenen Ringe zu.
»Gut so«, sagte ich und stampfte mit dem Fuß auf. Pepper-Man blähte die dünnen Nasenflügel, seine schwarze Zunge zuckte hervor und leckte über seine Lippen. Er mochte Blut sehr. Er wurde dann immer ganz munter wie ein Hund, dem man ein Leckerli gibt. Es versetzte mir einen Stich, zu sehen, wie er sie so interessiert betrachtete, also rannte ich los. Mit tränennassen Wangen raste ich an ihr vorbei, warf die Tür hinter mir zu, jagte die Treppe hinauf, meine Schritte wie Trommelschläge auf den Stufen, in mein Zimmer, wo ich mich aufs Bett warf und meine Tränen die Matratze durchnässen ließ.
Pepper-Man war schon da, wie ich es mir gedacht hatte. Das war der Sinn der Scharade gewesen: ihn von Mutter fortzulocken. Er saß auf meiner gehäkelten Tagesdecke, summte eine sanfte Melodie, seine Finger flochten, drehten, formten die Birkenzweige in seinen Händen. Er sah mich nicht an, das war nicht nötig.
Wir hatten eine innige Beziehung.
Ich kann mich nicht an eine Welt ohne Pepper-Man erinnern. Er ist schon immer da gewesen. Er kam und ging oder war einfach nur da. Manchmal eine Bedrohung, manchmal reine Wonne. Pepper-Man ist sehr alt. Er erzählte mir einmal, er habe mich als Kleinkind gefunden, als ich am Flussufer spielte. Er habe sich über das Wasser treiben lassen, sagte er, als er mein schimmerndes Haar auf der Wiese erspähte. Meine Mutter und mein Vater, damals noch jung und verliebt, picknickten nicht weit entfernt. Er sagte, dass sie Sandwiches und Birnen aßen und Tee aus verzierten Porzellantassen tranken. Er saß auf einem Eichenblatt, als er mich ganz allein dort sah, ganz rund und pausbackig und mollig. Er wollte mich, sagte er, also ist er gesprungen.
Als ich sagte, ich glaubte nicht, dass er mich einfach so wollte, aus keinem ersichtlichen Grund, lachte er nur. Er erklärte mir, dass alle Wesen seiner Art Haar wie meines wollten, um es zu streicheln, zu flechten und damit zu spielen, aber vielleicht hätte ich ja recht.
In Wirklichkeit, sagte er, sei er in Gestalt einer Krähe am Himmel geflogen und habe den Boden nach Beute abgesucht. Er sei sehr hungrig gewesen und habe Lust auf Fleisch gehabt. Da habe er mich gesehen, noch ein Baby, das vor unserem Haus lag. Er sauste herab und setzte sich auf den Rand meines Korbs, hielt sich mit seinen Krallen daran fest. Er fand, dass ich die lieblichsten Augen habe, und fragte sich, wie sie wohl schmeckten. Doch da kam meine Mutter aus dem Haus und verscheuchte ihn. Er sagte, dass er aus diesem Grund bei mir geblieben sei, weil er sich immer noch fragte, wie meine Augen wohl schmeckten, wie es sich anfühlen würde, wenn sie seinen Hals hinunterglitten.
Das glaubte ich ihm auch nicht. Warum sollte er so lange warten, sie zu essen, wenn der Anblick meiner Augen ihm doch so einen Hunger bescherte? Er lachte wieder und sagte, dass ich sicher recht habe, und er erzählte mir, dass ich über einen Feenhügel gestolpert sei. Er sei gerade vorbeigekommen, als ein schrecklicher Schrei ertönte. Das sei ich gewesen, die Knie voller blauer Flecke, die Hände dreckig und das weiße Kleid ruiniert. Er habe Mitleid mit mir gehabt und mir etwas Schönes basteln wollen, einen Blumenkranz oder eine Krone aus Zweigen, doch meine Mutter und mein Vater seien herbeigerannt und hätten mich davongetragen. Sie hätten mich umarmt und geküsst und meine Wunden versorgt. Er sei mir gefolgt und ins Haus geschlüpft und macht mir seitdem Geschenke.
Es gibt noch eine andere Geschichte. Darin gleichen Pepper-Man und ich uns wie ein Ei dem anderen. Wir sind Geschwister im Geist, ewig verbunden durch ein unzerstörbares Band. Wir sind eins, er und ich, auch wenn wir nicht dieselbe DNA haben. Wir waren schon immer zusammen und werden es auch immer sein.
Von dieser Möglichkeit, die sich so schamlos während der Gerichtsverhandlung verbreitete, dass alle davon hörten, werde ich jetzt nicht sprechen. Dafür ist später noch Zeit. Diese letzte Geschichte wurde mir als Kind nie als Gutenachtgeschichte erzählt wie die anderen. Wenn ich in seinen harten Armen lag, dicht an seiner regungslosen Brust atmete, sein trockenes Haar mich wie eine Decke umgab, sein Pfeffergeruch mich tröstete und ich das papierdünne Leder seiner spitzen Ohren an meinen Fingerspitzen fühlte, während ich sie nachfuhr. Seine Stimme ertönte immer nur in meinem Kopf, ein sanftes Wispern wie Blätter im Wind. Ich schloss dann gewöhnlich die Augen und ließ mich treiben, verlor mich in den Höhen und Tiefen seiner Stimme. Es war, als wäre ich unter Wasser, als würde ich in ihn hineinfallen. Ein Zittern begann dann immer in meiner Wirbelsäule und fuhr durch meinen ganzen Körper, drückte und schob, bebte und klapperte, bis mein Körper aufriss und ich aus meiner Haut fuhr. Wie ein Blitz schoss ich durch das Dach in den Himmel, während Bilder und Geräusche an mir vorbeizischten. Ich sah Leute und Straßen, die ich noch nie zuvor gesehen hatte.
Einmal sah ich eine Frau in einem schwarzen Mantel, die etwas in ihrer Brieftasche suchte. Sie stand auf Pflastersteinen, die Gebäude um sie herum waren aus Backstein gebaut. Ein anderes Mal sah ich einen Mann mit einer senfgelben Krawatte, der hinter einem blauen Bus herrannte. Der Busfahrer warf einen Blick in den Spiegel, erblickte ihn und fuhr weiter, während der Mann mit dem Fuß stampfte und seinen Hut zu Boden warf. Ich sah Kinder mit brauner Haut auf einem Spielplatz, sie trugen graue Uniformen und kauten auf weichen Bonbons herum. Und ich sah auch andere Dinge, die sich durch die Wurzeln uralter Bäume wanden: blasse Schlangen und alte Frauen, die schwarzen Saft von den Baumstämmen leckten, Männer mit Ziegenköpfen, die durch den Wald rannten, und Mädchen mit zuschnappenden Kiefern, die in heißen, dunklen Höhlen unter der Erde Kleider aus Spinnenseide...
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