Schweitzer Fachinformationen
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UNTER DER DACHSCHRÄGE im Wohnzimmer sitzt mein Mann in einem Sessel auf einem Rentierfell, das unsere Tochter zur Taufe bekommen hat. Er hält sich ein Buch vors Gesicht. Das Rentier hat meine Schwester auf einer Jagd im Suldal erlegt, wo sie und ich aufgewachsen sind. Es muss ein schönes Tier gewesen sein, das Fell ist zu gleichen Teilen weiß und grau. Oben auf der Galerie spielen die Jungs am Fernseher FIFA, unsere Tochter liegt auf dem Wohnzimmerboden und streckt die rechte Hand nach einem orangefarbenen Äffchen aus. Sie ist ganz in einer Dschungelwelt vertieft, aber mein Mann ist krank. Sein Gesicht ist geschwollen und schief. Er hat Schmerzen, die durch den Körper wandern. Wo tut es dir jetzt weh, fragte ich anfangs. Im Oberschenkel, in den Händen, in den Waden, antwortete er. Aber meistens sind es die Knie, oft sind die Schmerzen so stark, dass er kaum gehen kann. Zumindest längere Strecken. Die Krankheit hat einen Namen: Borreliose. Zeckenbiss. Für eine Behandlung ist es zu spät. Er hätte früher zum Arzt gehen sollen, inzwischen hat er zwei intensive Antibiotika-Behandlungen hinter sich. Keinerlei Besserung, jetzt geht es nur darum, mit Tabletten die Schmerzen zu lindern. Man muss auf die Zeit hoffen und jeden Tag nehmen, wie er kommt.
Morgens sagt er den Jungen Tschüss und Habt einen guten Tag. Sie laufen zur Schule, ihre Ranzen hüpfen auf den Rücken. Unsere Tochter sitzt festgeschnallt in ihrem Stuhl, isst kleine Brotstückchen und trinkt Milch aus einer Kindertasse mit Tülle und zwei Griffen. Drei Elsa Beskow-Wichtelkinder im Blaubeerland, Drillinge mit Fliegenpilzmützen und blauen Pullovern. Ich nehme den Deckel von der Tasse, schütte die restliche Milch ins Becken. Öffne den Wasserhahn, spüle sie weg. Stelle den Milchkarton und den Aufschnitt in den Kühlschrank, die schmutzigen Gläser und Teller in die Spülmaschine, wische den Tisch ab. Dann trage ich unsere Tochter ins Wohnzimmer, lege sie unter den Spielbogen, gehe ins Bad, wo ich versuche, mich nicht im Spiegel anzusehen.
Durch die angelehnte Badezimmertür dringen Dschungelgeräusche vom Spielbogen. Vogelzwitschern, Elefantenrufe und Affenbrüllen. Unsere Tochter spricht mit den Dschungeltieren, sie fragt und antwortet den Affen und Vögeln in einer Sprache, die vielleicht weder Tiere noch Babys verstehen. Ga-ga-ga, sagt unsere Tochter im Dschungel, noch einmal, mehrmals. Ich hole das türkise Kleid mit den grünen Pailletten, das ich während der Schwangerschaft getragen habe. Ziehe es über den Kopf und bin nicht sicher, ob mit dem Kleid oder mir etwas nicht stimmt, überzeuge mich aber leicht von Letzterem. Ich bin nicht schön. Ich bin eine Maschine. Ich bin ein Stauwerk aus morschem Holz. Ich bin ein Baum, der ein Stein sein sollte. Ich habe eine Stimme, die spricht, doch sie spricht von einem Ort, der ihr nicht gehört. Sprechen ist nicht handeln. Sprechen ist nie genug. Ich schreibe nicht. Ich bemühe mich, Dinge von mir fort oder auf Abstand zu halten, dabei rückt, was ich auf Abstand zu halten versuche, ständig näher. Ich versuche, an das Leben zu denken, muss aber ständig an den Tod denken. Ich putze mir die Zähne. Ich fühle mich, als würde ich mitten durchgesägt. Mein Kopf wird heiß, ich sage mir, bei all den Jahresringen im Holz, dass jetzt ein kühler Kopf bewahrt werden muss. Was ich denke, dreht sich im Kreis, bevor es irgendwo im Körper in Form von Sätzen vertrocknet, die nie ausformuliert wurden. Die Sätze existieren im Körper, in Kopf und Mund, sind aber ohne Wert, solange sie weder formuliert noch niedergeschrieben werden. Ich bin ein Baum. Ich bin der Baum, der ausspuckt und runterspült. Hier werden keine Worte wachsen oder sich miteinander verweben, das Leben hat schon genug aufgewühlt.
Unsere Tochter weint. Oder lacht. Ich bin nicht mehr sicher. Sie tut beides immer noch oft. Ich bin hin und her gelaufen. Ich habe getragen und besänftigt. Gestillt und getröstet, weiß aber immer noch nicht, ob ich genug getröstet habe. Ich bin einkaufen gegangen. Ich habe gekocht. Ich habe versucht, eine Routine strukturierender Rituale aufrecht zu halten, während mein Mann ruhig dasaß. Er saß im Sessel auf dem Rentierfell mit einem Buch vor dem Gesicht und machte keine Anstalten, das Buch wegzulegen oder unsere Tochter hochzuheben. Sein Gesicht war hinter tausend Sätzen versteckt. Sein Kopf war in einer anderen Welt. Sein Universum und unseres waren getrennt, und zwar durch ein klares, physisches Grenzschild: Das Buch, das er hochhielt. Wir mussten vor die Tür. Ich schaltete die Batterie des Spielbogens aus, die Tierstimmen verstummten. Ich hob unsere Tochter hoch. Trug sie ins Bad, legte sie auf den Wickeltisch und wechselte die Windel. Ich ging ins Wohnzimmer, beugte mich unter die Dachschräge zu meinem Mann hinunter, unsere Tochter auf dem Arm. Mach's gut, sagte ich und küsste ihn auf die Wange. Willst du dem Papa Tschüss sagen?, fragte ich unsere Tochter und sah ihn an, von der anderen Seite des Buches. Mmh, sagte er und küsste sie auf die Stirn. Wir gehen jetzt, sagte ich. Ist gut, sagte er unter der Wohnzimmerdecke, die sich über das Leben neigt, das sich zwischen uns abspielt. Ich trug unsere Tochter die Treppe hinunter, legte sie in den bereitstehenden Wagen, wendete ihn und drückte uns beide, den Rücken zur Tür, ins Freie.
Es war ein schöner Tag. Unsere Tochter lag im Wagen. Sie lächelte und sah in die Bäume, in die grünen, gelben und roten Laubkronen, an denen wir vorbeirollten. Es war eine schöne Zeit. Dann kam der Winter. Alles wurde weiß. Nein. So war es nicht. Unsere Tochter weinte im Wagen, ich nahm sie hoch. Sie wollte getragen werden, daher schob ich oft einen kleinen Wagen, unsere Tochter im Arm. Es hatte etwas Lächerliches, aber wenn ich sie trug, drehte sie den Kopf hin und her. Sie musste schauen, wollte alles mitbekommen. Erst wenn ich sie hochhob und sie die Welt rundum sehen konnte, wurde sie ruhig. Wir waren zusammen. Ich trat die Steine aus dem Weg. Die stabilen Wagenräder rollten leicht, aber einen Platten konnten wir uns nicht erlauben. Wir rollten weit, wir rollten weiter als weit. Wir rollten die Straße entlang, am Fluss über die Brücke, die Treppe zum Park hinunter, in das Geschäft am Stadtrand. Wir rollten aus der Stadt hinaus, vorbei am Hafen und den Baracken, wo die Bauarbeiter wohnten. Wir rollten durchs Frühjahr, durch Schneematsch und Schnee. Wir kamen zu einem Hafen, dort lag ein Schiff. Wir lösten einen Fahrschein und rollten an Bord. An Bord des Schiffes waren einige andere Mütter mit kleinen und etwas älteren Babys. Es gab Sturm und hohe Wellen. Es gab Böen und scharfe Winde, aber an spiegelglatten Tagen schaukelte das Schiff unter einer großen, strahlenden Sonne. Das Meer öffnete sich und sagte komm! Sieben Tage und sieben Nächte fuhren wir über das Meer, und plötzlich war ein halbes Jahr vergangen.
Die Jungs öffneten die Tür. Unsere Tochter strampelte mit den Beinen. Ich umarmte die Jungs und sagte, endlich zu Hause. Wie groß das Schwesterchen geworden ist, sagten sie und strichen ihr über Haar und Wangen. Wir gingen zusammen ins Wohnzimmer, wo mein Mann immer noch mit dem Buch vor dem Gesicht im Sessel saß. Hallo, sagte ich. Hallo, hallo? Ich klopfte an die Decke über ihm. Hörte er uns nicht? Sah er nicht, dass wir endlich zu Hause waren? Wir traten näher, umringten seinen Sessel, in dem er auf dem Rentierfell unter der Dachschräge saß, mit dem Buch als Schild. Was liest du jetzt? Immer noch keine Antwort. Ich sah auf den Buchrücken, in dem Buch hatte er schon gelesen, als wir gingen. Madame Bovary! Ich wurde wütend auf das Buch, wütend auf Gustave Flaubert, wütend auf meinen Mann und dachte, jetzt will ich auch in das erstbeste Buch verschwinden. Nein, lieber will ich in das Manuskript zurück, an dem ich arbeitete. Ich wollte schreiben. So dachte ich. Die Tage vergingen. Der Sommer kam, bald wurde es Herbst.
Ich machte die Wäsche, setzte mich unter Druck, und als die Maschine fertig war, trug ich die Wäsche auf den Balkon, um sie aufzuhängen. Ich wäre gern ein anderer und besserer Mensch gewesen, aber jemand musste sich auch um den Alltag kümmern. Der Wäscheständer war zu klein, die Wäsche hing zu dicht, Socken lagen auf Strumpfhosen, Strampelhosen, Unterhosen, Jeans, alles hatte zu wenig Luft. Nichts davon ist morgen trocken, dachte ich, drehte mich um und blickte durch das große Balkonfenster in die Wohnung. Oben auf der Galerie saßen die Jungs auf dem Sofa, jeder mit seinem Wii-Controller. Der Fernseher leuchtete blau, in einer an der Decke aufgehängten Wiege aus weißem, strapazierfähigem Stoff schlief unsere Tochter. Durch die große Scheibe wirkte das alles idyllisch. Ich drehte mich zum Balkongeländer, an das metallene Blumenkästen geschweißt waren. Die einzige Überlebende war eine kräftige Pfefferminze, groß wie ein kleiner Strauch oder eine kräftige Faust. Über dem Hausdach war der Himmel rötlich, die Sonne ging gerade unter. Ich kletterte auf den Stuhl. Von hier aus hatte ich einen weiten Blick, wenn ich mich weit nach oben streckte, meinte ich, das Meer sehen zu können.
Im Wohnzimmer, in der Wiege unter der Zimmerdecke, schlief unsere Tochter: Ich wusste, dass sie träumte. Im Traum hörte ich das Meer nach ihr rufen, es rief nach ihr und mir. Was war mit den Jungen? Was mit meinem Mann? Ich hielt den Atem an. Ich machte Inventur, speicherte. Bald kam der Nachtfrost. Ich stieg vom Stuhl, öffnete die Tür und ging hinein. Schloss die Balkontür. Ich ging zu den anderen ins Wohnzimmer, blieb mitten im Zimmer stehen, sah mich um. Nun gut, sagte ich. Das Meer antwortete...
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