Schweitzer Fachinformationen
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Birmingham, 1966: William feiert gerade seinen Abschluss als Einbalsamierer, als ihn die Nachricht erreicht, dass im walisischen Aberfan ein Haldenrutsch unzählige Menschen unter sich begraben hat und freiwillige Helfer gesucht werden. Er macht sich umgehend auf den Weg, und während er gemeinsam mit den Bestattern vor Ort arbeitet, ruft ein Musikstück im Radio schmerzhafte Erinnerungen in ihm wach: Erinnerungen an seine Zeit als Chorknabe in Cambridge, die er versucht hatte, zu vergessen. Damals hatte er nur einen Wunsch gehabt: in der King's College Chapel das berühmte Solo in Allegris Miserere zu singen, das in ihm schon als kleines Kind die Liebe zur Musik entfacht hatte. Doch an dem großen Tag kommt es zu einem tiefen Zerwürfnis mit seiner Mutter und einer Entscheidung, die seinen weiteren Weg bestimmen wird.Als er nun aus Aberfan nach Birmingham zurückkehrt, mit Bildern im Kopf, die ihn sein Leben lang nicht loslassen werden, ist er bereit, sich seiner Vergangenheit zu stellen und sich mit seiner Mutter, mit der ihn einst eine liebevolle Beziehung verband, zu versöhnen.
Ein bewegender Coming-of-Age-Roman über die fragilen Bande, die uns mit geliebten Menschen verbinden - darüber, dass es möglich ist, die Vergangenheit und die eigene Schuld zu überwinden und Vergebung und Trost zu finden.
Es ist kurz vor fünf Uhr morgens, und der Himmel färbt sich violett; ein müdes Licht, als widerstrebe es ihm, den dritten Tag von Aberfans Leid anbrechen zu lassen. Unablässig ist der Motorlärm der Lastwagen zu hören, die den Abraum aus dem Dorf transportieren, und William spürt den Luftzug, als einer davon an ihm vorbeidröhnt.
Die Wartenden - zumeist sind es Frauen - richten sich auf, als William auf sie zukommt. Er kämpft gegen den Drang, das Hemd zusammenzuknüllen und hinter dem Rücken zu verstecken. Er mag es nicht, wenn er beobachtet wird. Und noch nie zuvor, nicht mal als Solist in Cambridge, hat er sich so beobachtet gefühlt. Doch in dem Moment hat er plötzlich das seltsame Gefühl, leer zu werden, als würde alles, was bisher wichtig war, durch seine Schuhsohlen in das schlackig-schmierige Pflaster rinnen. An diesem Tag geht es einzig und allein um diese Menschen: um die Frau im Tweedmantel mit den zerrissenen Strümpfen, den Mann mit dem schmutzigen Hemd und den angsterfüllten Augen und den kleinen Jungen drinnen auf dem Tisch mit den zertrümmerten Beinen. William ist hier, weil er eine Fähigkeit besitzt, die niemand brauchen möchte. Doch sie brauchen sie, und er wird sie einsetzen.
Sein Atem stockt, als er Luft holt, als wäre seine Kehle mit einem Mal zu eng. Er hält das Hemd hoch und versucht mit allen Mitteln, die er je gelernt hat, seine Stimme zu beherrschen.
»Welcher Junge hatte Freitagmorgen dieses -«
»Owen!«
Ein dumpfer Schlag und ein Knacken ertönen, als die Frau mit den Knien auf das Pflaster sackt. Andere eilen zu ihr, fassen sie an den Armen und ziehen sie hoch. Ein Regentropfen schlägt gegen Williams Wange. Eine Frau wendet sich von der Kapelle ab und ruft: »Holt Evan Thomas!« Eine Reihe männlicher Stimmen trägt den Ruf weiter zu dem Berg, aus dem das Schuldach ragt.
Die Mutter löst sich aus dem Pulk von Eltern, als träte sie durch einen Vorhang. Sie kommt mit ausgestreckten Armen auf William zu, und es dauert einen Moment, bis er versteht, dass sie nicht nach ihm greift, sondern nach dem Hemd. Lange Sekunden vergehen, während sie es an ihre Wange drückt. Ein Mann erscheint keuchend, die Ärmel hochgekrempelt, das Weiß seiner Augen seltsam grell im Gegensatz zur dreckverschmierten Haut. Er legt seinen schmutzigen, starken Arm um die Schultern der Frau. Sie ist jetzt ganz ruhig. Das Gesicht ausdruckslos, das eine Knie blutig. Die beiden blicken sich nicht an, sondern an William vorbei zur Kapelle. Sie wollen ihren Jungen sehen.
»Kommen Sie«, sagt William leise, als sie nah genug sind, und öffnet die Tür.
Er ist es. Es ist ihr Sohn.
»Owen Elgar Thomas«, antwortet der Vater auf Harrys Frage. Schweigend und mit trockenen Augen berührt die Mutter sanft die Hand, den Kopf und die Brust des kleinen Jungen. Harry erklärt ihnen, dass sie ihren Sohn noch einmal sehen werden, wenn er einbalsamiert und in einen Sarg gebettet ist.
»Vielleicht sollten Sie versuchen, sich ein wenig auszuruhen«, sagt William, während er sie aus der Sakristei und durch die Kapelle führt, vorbei an den übrigen, noch in Decken gehüllten Leichnamen. Er hält ihnen die Tür auf. »Ich verspreche Ihnen, wir kümmern uns um Owen.«
»Gut gemacht, William«, sagt Harry leise, als er an den Tisch zurückkehrt.
In dem Maße, wie die Stunden vergehen, verschlechtert sich der Zustand der Leichen. Immerhin hat die Feuerwehr rechtzeitig vor der früh einsetzenden Dämmerung für Strom und Licht gesorgt. Manchmal kann William nur einen Fetzen Stoff, eine Haarspange, einen Schuh mit hinausnehmen. Doch es braucht nicht viel, damit eine der Wartenden auf ihn zustürzt, gerettet und zerstört zugleich. Diese adleräugigen, herzenshungrigen Mütter könnten ihre Kinder anhand eines Fingernagels identifizieren.
Als William auf die Straße gehen und fragen muss, wessen kleines Mädchen blondes Haar hat, treten zwei Frauen und ein Paar vor. Und das sind vielleicht die schlimmsten Momente, wenn sie sich voller Angst, die William schmecken kann, dem Leichnam nähern und sehen, dass es doch nicht ihre Tochter ist. Nach den letzten sieben Stunden versteht er, wie erleichternd und tröstlich es sein kann, endlich zu wissen, wo ihr Kind ist und dass ihm nichts Schlimmes mehr zustoßen kann. In was für einer schrecklichen Welt ist er hier, in der diejenigen glücklich zu nennen sind, die den Leichnam ihres Kindes identifizieren können.
Es regnet wieder. Die Straße zischt unter den Rädern der Lastwagen. Die Tropfen schlagen wie Schrotkugeln auf das Dach der Kapelle. Neunzehn Jahre alt, frisch vom Thames College of Embalming, mit Bestnoten in sämtlichen praktischen und theoretischen Fächern, blickt William auf die Überreste des kleinen Mädchens, das, wie er gerade erfahren hat, Valerie heißt, und ihm wird klar, dass all das überhaupt nichts zählt, wenn er es hier und jetzt nicht schafft, seine Arbeit zu tun und den zerstörten Körper dieses Kindes für dessen Eltern herzurichten, die da draußen im Regen auf dem Gehweg stehen.
Normalerweise ist der Raum, in dem er sich befindet, eine Sakristei, aber nichts ist mehr normal, und William nimmt nichts von seiner Umgebung wahr, weder den Haufen schwarzer Bibeln in der Ecke noch die abgewetzten Kniepolster, die neben der Tür gestapelt sind, den schweren Geruch nach altem Holz, der mit dem stechenden des Formaldehyds ringt, oder die kleinen Särge, die sich an der Rückwand türmen. Nichts davon dringt zu ihm durch, denn mit einem Mal taucht eine Erinnerung auf, scharf wie das Skalpell in seiner Hand.
Vom buttrigen Duft nach Gebackenem, der die Wohnung erfüllt, aus seinem Mittagsschlaf geweckt, tapst William mit seiner Decke in die Küche, kuschelt sich in den alten Sessel und sieht seiner Mutter zu. Wärme wallt über seine Beine, als sie das verzogene alte Backblech aus dem Ofen nimmt und auf dem Resopaltisch abstellt. Sie schiebt den Tortenheber unter den größten Keks, legt ihn auf eine Untertasse und schneidet ihn in der Mitte durch. Gemeinsam sehen sie zu, wie der Dampf kräuselnd in die Luft steigt. »Für Seine Lordschaft.« Sie macht einen tiefen Knicks und reicht ihm die Untertasse mit beiden Händen. Der Goldrand funkelt ihm zu, und Williams verschlafenes Gesicht verzieht sich zu einem Lächeln, als er die Hand danach ausstreckt. »Verbrenn dir nicht den Mund«, sagt sie leise.
In dem Moment bemerkt William Valeries unversehrte linke Hand. Nichts abgerissen oder zerschmettert, kein Blut, kein blauer Fleck, nicht mal ein Kratzer. Das verdrehte Bein, die fehlenden Zehen und die eingedrückte Schädelseite sind jetzt unwichtig. Wenn ihre Eltern sich erinnern müssen, werden sie sich an ihre unversehrte Hand erinnern.
Vorsichtig löst er die Schlagader aus dem sauberen Schnitt an ihrem Hals und legt sie flach auf den Separator aus Edelstahl, wobei er die winzigen Kapillaren bemerkt, die sich zart durch das Blutgefäß winden. Anschließend führt er die kleine Arterienkanüle in die Öffnung ein und wiederholt das Ganze dann an der inneren Drosselvene. Nachdem er die erste Kanüle an den Kanister mit der Formaldehydlösung und die zweite an einen Schlauch angeschlossen hat, der zu einem Eimer neben seinen Füßen führt, ergreift William die Handpumpe. Drücken - loslassen, drücken - loslassen, drücken - loslassen. Der künstliche Herzschlag treibt die Flüssigkeit durch die Arterien des Mädchens und das Blut in den Eimer. Williams Hand schmerzt vom vielen Pumpen, und sein Rücken schmerzt von der vornübergebeugten Arbeit an den toten kleinen Körpern, doch er lässt nicht nach, streckt sich nicht, lockert nicht seine Finger.
Als das Blut vollständig durch die Einbalsamierungslösung ersetzt ist und die Schnitte vernäht sind, atmet William tief durch. Er nimmt die linke Hand des Mädchens, massiert sie und bewegt die Gelenke, um die Flüssigkeit bis in die Fingerspitzen zu transportieren, damit sie wieder rosig aussehen.
»So, Valerie«, sagt er. »Jetzt sind wir fertig.«...
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