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Der Neoliberalismus bestimmt spätestens seit dem Ende des Kalten Krieges alle Gesellschaften der westlichen Welt. Aber was ist Neoliberalismus? Die amerikanische Politikwissenschaftlerin Wendy Brown zeigt in ihrem scharfsinnigen Buch, dass er mehr ist als eine Wirtschaftspolitik, eine Ideologie oder eine Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft. Vielmehr handelt es sich um eine Neuordnung des gesamten Denkens, die alle Bereiche des Lebens sowie den Menschen selbst einem ökonomischen Bild entsprechend verändert - mit fatalen Folgen für die Demokratie. Ein kritisches, ein aufwühlendes Buch.
Dieses Buch ist eine theoretische Betrachtung der verschiedenen Möglichkeiten, wie der Neoliberalismus, eine eigentümliche Form der Vernunft, die alle Aspekte des Lebens in ökonomischen Begriffen faßt, stillschweigend Grundelemente der Demokratie aufhebt. Diese Elemente umfassen Begriffsinventare, Gerechtigkeitsprinzipien, politische Kulturen, staatsbürgerliche Gewohnheiten, Herrschaftspraktiken und vor allem demokratische Vorstellungsgebilde. Mein Argument ist nicht bloß, daß Märkte und Geld die Demokratie korrumpieren oder schwächen, daß politische Institutionen und Ergebnisse zunehmend vom Finanzwesen und Unternehmenskapital beherrscht werden oder daß die Demokratie durch die Plutokratie - die Herrschaft durch und für die Reichen - ersetzt wird. Vielmehr wandelt die neoliberale Vernunft, die heute in der Staatskunst und am Arbeitsplatz, in der Jurisprudenz, Bildung, Kultur und einem riesigen Bereich von Alltagstätigkeiten allgegenwärtig ist, den eindeutig politischen Charakter, die Bedeutung und Tätigkeit der wesentlichen Bestandteile der Demokratie in etwas Ökonomisches um. Liberal-demokratische Institutionen, Praktiken und Gewohnheiten werden diese Umwandlung vielleicht nicht überleben. Radikal-demokratische Träume vielleicht ebenfalls nicht. Daher verzeichnet dieses Buch sowohl einen beunruhigenden zeitgenössischen Zustand als auch die potentielle Unfruchtbarkeit zukünftiger demokratischer Projekte, die in dieser problembehafteten Gegenwart enthalten sind. Die Institutionen und Prinzipien, deren Ziel die Absicherung der Demokratie ist, die Kulturen, die für ihre Erhaltung erforderlich sind, die Energien, die zu ihrer Belebung notwendig sind, und die Bürger, die sie praktizieren, sich um sie kümmern oder sich nach ihr sehnen - all diese Dinge werden von der »Ökonomisierung« des politischen Lebens und anderer bislang nicht-ökonomischer Bereiche und Tätigkeiten in Frage gestellt.
Worin besteht der Zusammenhang zwischen der Aushöhlung der zeitgenössischen liberalen Demokratie durch den Neoliberalismus und seiner Gefährdung radikalerer demokratischer Vorstellungswelten? Liberal-demokratische Praktiken und Institutionen bleiben fast immer hinter ihrem Versprechen zurück und kehren dieses manchmal sogar auf grausame Weise um, doch liberal-demokratische Prinzipien erhalten Ideale von universell geteilter Freiheit und Gleichheit sowie der politischen Herrschaft durch und für das Volk aufrecht, und sie halten diese Ideale auch durch. Die meisten anderen Formulierungen von Demokratie teilen diese Ideale, wobei sie sie unterschiedlich interpretieren und sie häufig auf substantiellere Weise zu realisieren versuchen, als es der Formalismus, Privatismus, Individualismus und die relative Selbstzufriedenheit des Liberalismus mit Bezug auf den Kapitalismus gestattet. Wenn jedoch die neoliberale Vernunft, wie dieses Buch nahelegt, diese Ideale und Sehnsüchte aus den wirklich existierenden liberalen Demokratien vertreibt, von welcher Grundlage aus sollten dann ehrgeizigere demokratische Projekte gestartet werden? Wie würde der Wunsch nach mehr oder besserer Demokratie aus dem Aschehaufen ihrer bürgerlichen Form wieder angefacht werden? Warum würden Völker die Demokratie wollen oder anstreben, wenn sogar ihre dünne liberal-demokratische Realisierungsform fehlt? Und was würde sich in entdemokratisierten Subjekten und Subjektivitäten nach dieser politischen Herrschaftsform sehnen, eine Sehnsucht, die weder ursprünglich ist noch durch diesen historischen Umstand kultiviert wird? Diese Fragen erinnern uns daran, daß die Frage, welche Arten von Völkern und Kulturen eine Demokratie anstreben oder aufbauen würden, weit entfernt davon, hauptsächlich für den Nicht-Westen angemessen zu sein, im heutigen Westen von zunehmender Bedeutung ist. Demokratie kann aufgelöst, von innen ausgehöhlt und nicht nur von Antidemokraten gestürzt oder behindert werden. Und die Sehnsucht nach Demokratie ist weder gegeben noch unzerstörbar; tatsächlich erkennen selbst demokratische Theoretiker wie Rousseau und Mill die Schwierigkeit an, aus dem Material der europäischen Moderne einen demokratischen Geist zu formen.1
Jeder Versuch, die Beziehung zwischen Demokratie und Neoliberalismus theoretisch zu fassen, wird von den vielen Bedeutungen und Mehrdeutigkeiten beider Wörter in Frage gestellt. »Demokratie« gehört zu den umstrittensten und verworrensten Begriffen unseres modernen politischen Vokabulars. In der volkstümlichen Vorstellungswelt steht »Demokratie« für alles von freien Wahlen bis zu freien Märkten, von Protesten gegen Diktatoren bis zu Recht und Ordnung, von der zentralen Bedeutung von Rechten bis zur Stabilität von Staaten, von der Stimme der versammelten Menge bis zum Schutz der Individualität und der Falschheit von Maximen, die von der Maasse aufgezwungen werden. Für manche ist die Demokratie das Kronjuwel des Westens; für andere ist sie das, was der Westen niemals wirklich besaß, oder sie ist hauptsächlich eine Politur für die imperialen Ziele des Westens. Die Demokratie gibt es in so vielen Spielarten - soziale, liberale, radikale, republikanische, repräsentative, autoritäre, direkte, partizipatorische, deliberative, plebiszitäre -, daß solche Behauptungen häufig aneinander vorbeigehen. In der Politikwissenschaft versuchen empirische Wissenschaftler, den Begriff durch Metriken und Bedeutungen zu stabilisieren, die von Politiktheoretikern angefochten und problematisiert werden. Innerhalb der politischen Theorie sind die Wissenschaftler in unterschiedlichem Maße zuversichtlich oder unglücklich über das zeitgenössische Monopol in Bezug auf die »Demokratietheorie« aufgrund einer einzigen Formulierung (der liberalen) und Methode (der analytischen).
Sogar die griechische Etymologie von »Demokratie« bringt Mehrdeutigkeiten und Streit hervor. Demos/kratia wird übersetzt mit »Volksherrschaft« oder »Herrschaft durch das Volk«. Aber wer war das »Volk« des antiken Athens? Die Besitzenden? Die Armen? Die Ungezählten? Die vielen? Dieser Streit herrschte in Athen selbst, weshalb für Platon die Demokratie der Anarchie nahesteht, während sie für Aristoteles die Herrschaft der Armen ist. In der zeitgenössischen Theorie des Kontinents beschreibt Giorgio Agamben eine konstante Mehrdeutigkeit - die »nicht zufällig sein [kann]« - im Hinblick auf den Demos, der sich sowohl auf die gesamte politische Instanz als auch auf die Armen bezieht.2 Jacques Rancière argumentiert (anhand von Platons Gesetzen), daß der Demos sich auf keines von beiden bezieht, sondern auf jene, die zur Herrschaft ungeeignet sind, auf die »Ungezählten«. Für Rancière ist die Demokratie daher immer eine Eruption desjenigen »Teils, der keinen Anteil hat«.3 Étienne Balibar steigert Rancières Behauptung und macht geltend, daß die Signatur der Demokratie, nämlich Gleichheit und Freiheit, »durch den Aufstand der Ausgeschlossenen aufgezwungen«, aber anschließend immer »von den Bürgern selbst in einem endlosen Prozeß ausgebaut« wird.4
Das Akzeptieren der offenen und umstrittenen Bedeutung von Demokratie ist für diese Arbeit zentral, weil ich die Demokratie von der Eingrenzung durch jede besondere Form befreien, zugleich aber auf ihrem Wert für die Konnotation politischer Selbstbestimmung durch das Volk beharren möchte, wer auch immer das Volk ist. In diesem Sinne steht die Demokratie nicht nur im Gegensatz zu Tyrannei und Diktatur, zu Faschismus oder Totalitarismus, zu Aristokratie, Plutokratie oder Korporatokratie, sondern auch zu einem zeitgenössischen Phänomen, bei dem die Herrschaft sich zur Steuerung und zum Management der Ordnung verwandelt, die die neoliberale Rationalität hervorbringt.
Auch »Neoliberalismus« ist ein lockerer und changierender Signifikant. Es ist ein wissenschaftlicher Gemeinplatz, daß der Neoliberalismus keine festen oder festgelegten Koordinaten hat, daß es in seinen diskursiven Formulierungen, seinen Implikationen für die Politik und seinen materiellen Praktiken zeitliche und geographische Spielarten gibt.5 Dieser Gemeinplatz geht über die Anerkennung der vielen und unterschiedlichen Ursprünge des Neoliberalismus oder auch über die Erkenntnis hinaus, daß »Neoliberalismus« ein Begriff ist, der hauptsächlich von seinen Kritikern verwendet wird, und daß deshalb seine eigentliche Existenz fragwürdig ist.6 Der Neoliberalismus als Wirtschaftspolitik, Regierungsmodalität und Ordnung der Vernunft ist zugleich auch ein globales Phänomen, doch unbeständig, differenziert, unsystematisch, unrein. In Schweden überschneidet er sich mit der anhaltenden Legitimität der Wohlfahrtspolitik, in Südafrika mit der Erwartung der Post-Apartheid-Ära eines demokratisierenden und ausgleichenden Staats, in China mit dem Konfuzianismus, Post-Maoismus und Kapitalismus, in den Vereinigten Staaten mit einem sonderbaren Gebräu aus seit langem etablierten Anti-Etatismus und einem neuen Managerialismus. Die neoliberale Politik tritt auch durch verschiedene Portale und Agenturen in Erscheinung. Während der Neoliberalismus ein »Experiment« war, das Chile von Augusto Pinochet und den chilenischen Ökonomen aufgezwungen wurde, die nach ihrem Sturz Salvador Allendes im Jahr 1973 als »die Chicago-Jungs« bezeichnet wurden, war es der Internationale Währungsfonds, der der südlichen Halbkugel für die nächsten beiden Jahrzehnte »strukturelle Anpassungen« auferlegte. Während Margaret...
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