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»Eine meisterhafte Interpretation Webers als auch ein dringend notwendiger Eingriff in den politischen Diskurs.« Rahel Jaeggi
Warum ist die Politik heute ein Laufsteg eitler Demagogen und die Universität ein ideologischer Kampfplatz? Und was ist dabei aus der Wahrheit geworden? In ihrem neuen Buch entdeckt Wendy Brown den modernen Nihilismus als Ursache dieser Probleme: Er entzieht allen Werten einschließlich der Wahrheit die Grundlage; er hyperpolitisiert das Wissen und reduziert die politische Sphäre auf die Zurschaustellung von Narzissmus. Der Nihilismus macht das Tiefgründige trivial, die Zukunft egal und die Korruption banal.
Auf der Suche nach Lösungen wendet sich Brown Max Webers berühmten Vorlesungen über Wissenschaft und Politik als Beruf zu, die dieser am Ende des Ersten Weltkriegs hielt. Darin beklagt nämlich schon Weber selbst die Auswirkungen des Nihilismus auf das wissenschaftliche und politische Leben in der Moderne und fordert eine Wiederherstellung der Wahrheit in der Wissenschaft und der Integrität in der Politik. Im Anschluss an Weber plädiert Brown dafür, das Wissen aus der Hyperpolitisierung zu befreien, und denkt über neue Wege verantwortlichen politischen Handelns nach. Vor allem aber fordert sie die Linke auf, ihrer Verpflichtung zu kritischem Denken gerecht zu werden, und entwirft eine radikaldemokratische Vision, die eine charismatische Führung nicht scheut.
In der heutigen Umgangssprache gilt Nihilismus als eine Einstellung, der zufolge nichts, schon gar nicht das menschliche Leben von seinem Wesen her Sinn oder Wert besitzt. Als individuelle, entweder Punks, Terrorist:innen, gelangweilten Jugendlichen, Postmodernist:innen oder manchen Depressionsformen zugeschriebene Weltanschauung* wird er auf affektiver Ebene mit trostlosen Zukunftsaussichten, Zynismus, Pessimismus, Relativismus oder Verzweiflung assoziiert. Er wird auch häufig mit Verantwortungslosigkeit, Machtanmaßung, gewissenlosem Verbrechertum und Unbarmherzigkeit gleichgesetzt. Natürlich trägt der Nihilismus alle diese Möglichkeiten in sich. Doch als - von verschiedenen Kräften im modernen Europa sowie insbesondere durch die Infragestellung göttlicher Autorität in der Aufklärung verursachter und sich in jüngerer Zeit durch die neoliberale Ökonomisierung aller Werte sowie Techniken Künstlicher Intelligenz verschärfender - Zustand ist Nihilismus etwas anderes.
Für Weber und Nietzsche ist Nihilismus ein unvermeidlicher Auswuchs der westlichen Moderne, der sich bildet, wenn Vernunft und Wissenschaft religiöse Wahrheit und die von ihr gewährleisteten Werte verdrängen. Wenn die vormoderne Autorität nicht monotheistisch, wenn das Höchste Wesen nicht allwissend und allmächtig und wenn die Vernunft nicht die Rivalin von Gott und anschließend sein Ersatz gewesen wäre, hätte die Aufklärung keine Sinnkrise ausgelöst. Die Wissenschaft hätte die religiöse und traditionelle Autorität nicht vom Sockel gestoßen und die Vernunft wäre nicht als Ersatz für religiöse Sinnquellen herangezogen worden. Doch ein solches »Wenn« ist nicht nur schwer vorstellbar, sondern auch irrelevant für die europäische Moderne, die nach Nietzsches und Webers Verständnis aus einer säkularen Transformation der religiösen Fundamente des Westens hervorging. Diese unter anderem von beispiellosen wissenschaftlichen Leistungen, kalkulatorischer und instrumenteller Vernunft, Kapital und staatlicher Macht angegriffenen Fundamente wurden bei diesem Angriff nicht nur überwunden, sondern zertrümmert und ihre Bruchstücke bestimmen nach wie vor die Landschaft. Der Nihilismus wurzelt mithin in und ergreift anschließend die Flucht vor der spezifischen, auf die anhaltende Krise des Monotheismus in der westlichen Moderne zurückgehenden misslichen Lage des Sinns.1 Dass er allerdings über dieses ursprüngliche Einfallstor hinaus auf Institutionen und Praktiken überzugreifen und in ihnen Niederschlag zu finden vermochte, trug zur Verbreitung des Nihilismus über die gesamte soziale und politische Landschaft der Gegenwart bei.
Webers Nihilismus-Auffassung knüpft an Nietzsche an, schätzt die Auswirkungen des Nihilismus aber anders ein und bereitet einem anderen Kampf gegen ihn die Bühne. Für Nietzsche ist Nihilismus ein kulturhistorischer Zustand, der sich aus dem Sturz Gottes ergibt und mit der Einsicht einhergeht, dass weder die säkularisierte Religion noch deren Cousinen, Wissenschaft und Vernunft, den Sinn menschlicher Existenz bzw. menschlicher Bestrebungen gewährleisten. Solange sie im Banne des Zustands steht, der sie hervorgebracht hat, führt diese Einsicht zu der Überzeugung, dass das Leben selbst sinn- und wertlos ist, gegen die Nietzsche sich dadurch zur Wehr setzt, dass er uns den Auftrag erteilt, außerhalb der in jenseitigen Fundamenten wurzelnden Moralsysteme Sinn zu konstruieren und zu setzen. Nihilismus ist der Zustand, in den wir geraten, nachdem die fraglichen jenseitigen Fundamente erschüttert worden sind, noch bevor die säkulare Aufgabe, Werte zu erschaffen und zu »setzen«, in Angriff genommen worden ist. Deshalb bezeichnet Nietzsche den Nihilismus als »einen pathologischen Zwischenzustand«, wobei das Pathologische in der »ungeheure[n] Verallgemeinerung« besteht, aus dieser speziellen Sinnkrise, »auf gar keinen Sinn« zu schließen.2 »Eine Interpretation gieng zu Grunde; weil sie aber als die Interpretation galt«, schreibt Nietzsche, »erscheint es, als ob es gar keinen Sinn im Dasein gebe, als ob alles umsonst sei.«3
In solch einer historisch-kulturellen Lage zu akzeptieren, dass wir »wertsetzende« Geschöpfe sind, fällt Gläubigen genauso schwer wie Atheisten. Nietzsche schreibt:
Die Frage des Nihilism »wozu?« geht von der bisherigen Gewöhnung aus, vermöge deren das Ziel von außen her gestellt, gegeben, gefordert schien - nämlich durch irgend eine übermenschliche Autorität. Nachdem man verlernt hat an diese zu glauben, sucht man doch noch nach alter Gewöhnung eine andere Autorität, welche unbedingt zu reden wüßte, Ziele und Aufgaben befehlen könnte. Die Autorität des Gewissens tritt jetzt in erste Linie (je mehr emancipirt von der Theologie, um so imperativischer wird die Moral); als Schadenersatz für eine persönliche Autorität. Oder die Autorität der Vernunft. Oder der sociale Instinkt (die Heerde). Oder die Historie mit einem immanenten Geiste, welche ihr Ziel in sich hat und der man sich überlassen kann. [.] Endlich: Glück, und, mit einiger Tartüfferie, das Glück der Meisten.4
Heute lassen sich weitere Stellvertreter der Autorität von ehedem ausfindig machen - zum Beispiel der Glaube an die transzendente Wahrheit von Märkten, sozialer Gerechtigkeit, Natur, Heteropatriarchat, Humanismus oder Antihumanismus. Doch möchte ich für den Augenblick bei Nietzsches weitreichenderer Behauptung bleiben, dass diese Stellvertreter zwar darauf abzielen, nihilistische Schlussfolgerungen abzuwehren, tatsächlich aber auf geradezu symptomatische Weise eine Welt zum Ausdruck bringen, die ihren Halt im Gegebensein von Sinn verloren hat. Eine von Nietzsches dichtesten Schilderungen dieses Phänomens lautet folgendermaßen:
Das Gefühl der Werthlosigkeit wurde erzielt, als man begriff, daß weder mit dem Begriff »Zweck«, noch mit dem Begriff »Einheit«, noch mit dem Begriff »Wahrheit« der Gesammtcharakter des Daseins interpretirt werden darf. Es wird nichts damit erzielt und erreicht; es fehlt die übergreifende Einheit in der Vielheit des Geschehens: der Charakter des Daseins ist nicht »wahr«, ist falsch ., man hat schlechterdings keinen Grund mehr, eine wahre Welt sich einzureden .
Kurz: die Kategorien »Zweck«, »Einheit«, »Sein«, mit denen wir der Welt einen Werth eingelegt haben, werden wieder von uns herausgezogen - und nun sieht die Welt werthlos aus .5
Dass die Welt wertlos erscheint, ergibt sich, wie gesagt, aus einer konkreten, sich durch den Zusammenbruch einer spezifischen Theologie auszeichnenden Geschichte. Ein solcher Anschein entspricht weder dem wahren Dasein noch wahren Werten, sondern ist eher eine Folge dieses Vorgangs. Deshalb fährt Nietzsche fort:
Gesetzt, wir haben erkannt, in wiefern mit diesen drei Kategorien [Zweck, Einheit, Sein] die Welt nicht mehr ausgelegt werden darf und daß nach dieser Einsicht die Welt für uns werthlos zu werden anfängt: so müssen wir fragen, woher unser Glaube an diese 3 Kategorien stammt - versuchen wir, ob es nicht möglich ist, ihnen den Glauben zu kündigen. Haben wir diese 3 Kategorien entwerthet, so ist der Nachweis ihrer Unanwendbarkeit auf das All kein Grund mehr, das All zu entwerthen.6
Daran erkennt man die Wichtigkeit der Umwertung für das Verfolgen der Genealogie unserer moralischen Grundsätze und um herauszufinden, wie wir uns nach Abschluss einer solchen Genealogie vom Nihilismus erholen...
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