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Vorwort von Elke Heidenreich
Edith Hope, Heldin dieses Romans, der Anita Brookners vierter war und 1984 völlig überraschend mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde, hat einen in den Augen ihrer Freunde fürchterlichen Fauxpas begangen und muss für einige Zeit aus ihrem gemütlichen englischen Haus verschwinden, bis sich die Empörung gelegt hat. Sie fährt in die Schweiz, in das eher mittelklassige Hotel du Lac, zieht ihre lange Strickjacke an, stopft die Hände in die Taschen und denkt auf einsamen Spaziergängen darüber nach, was warum so grauenhaft schiefgegangen ist. Wir als Leser rätseln selber lange, erst weit nach der Hälfte des Romans wird das Elend, diese andere Sache, diese unglückliche Entgleisung nach und nach enthüllt.
Edith Hope ist Schriftstellerin, sie will hier in der Abgeschiedenheit nach einem persönlichen Skandal auch einen Roman fertig schreiben, aber stattdessen beginnt sie, die paar Gäste im Hotel zu beobachten und zu analysieren und sich ihre Leben und Lebensgeschichten auszumalen, und dabei liegt sie so unglaublich falsch, dass uns Leser eine Ahnung beschleicht: Wer so wenig Menschenkenntnis hat wie Edith, der kann vielleicht herrlich verzwickte Romane schreiben, wird aber im eigenen Leben nichts als Unheil anrichten. Edith machte sich voller Demut bewusst, dass sie keine gute Menschenkennerin war. Sie konnte einen Charakter erfinden, aber die im wirklichen Leben konnte sie nicht entziffern. Für das Leben brauchte sie jemanden, der es ihr erklärte.
Anita Brookner, die uns all das erzählt, ist immer klüger als ihre Protagonistinnen, die sie nicht ohne Sympathie und Mitgefühl, aber doch erbarmungslos seelisch seziert. Und die Schraube dreht sich noch ein Stück weiter: Alle ihre Frauenfiguren lesen leidenschaftlich gern und finden in Büchern oft das Leben, von dem sie träumen, in das sie aber selbst den Schritt nicht wagen, oder sie zerbrechen an diesen Träumen, weil alles nur Illusion war. Ach, wir kennen das doch - Emma Bovary, Anna Karenina - zu viele romantische Gefühle aus zu vielen Büchern, die der Realität nicht standhalten! Brookner benennt es im Roman einmal als Literatur, die altbewährte Trösterin der sich unbehaglich Fühlenden. In Anita Brookners Romandebüt Ein Start ins Leben von 1981, bei Eisele 2018 erstmals auf Deutsch erschienen, liest sich Ruth Weiss weg aus ihrem grässlichen Elternhaus, sie weiß alles von und über Balzac, sie promoviert sogar über ihn, sie ist ja nicht dumm, aber plötzlich ist sie vierzig und wird alt und ist vollkommen allein im falschen Leben. Wie konnte das denn passieren?
Mich erinnert das an Puccinis Tosca in der gleichnamigen Oper, die erschüttert singt Vissi d'arte, vissi d'amore, ich habe doch nur für die Kunst und die Liebe gelebt, ja, und dabei hatte sie das Leben aus den Augen verloren und nicht gemerkt, dass in den Kellern gefoltert wurde und dass unter der Folie des Normalen eine grauenhafte Brutalität lag. So stark beschreibt Anita Brookner das nicht, ihre Romane haben keine ausgesprochen politische Dimension, aber wir haben beim Lesen immer das Gefühl, dass die Romanheldinnen auf sehr dünnem Eis gehen. Und nicht nur sie: alle, auch die paar Gäste im einsamen Hotel du Lac. Da ist die stets glücklich lachende, enorm aufgeputzte Mutter mit ihrer dicken, ergebenen Tochter, reich und einsam und in ein völlig sinnloses Dasein eingebunden, das nur aus Lügen besteht; da ist die vornehme Baronin mit dem Mopsgesicht, die sich bemüht, sich ihr Elend und ihre Armut nicht anmerken zu lassen, bis es einfach nicht mehr zu übersehen ist; da ist die schöne Monica, die ihr Mann hierher verbannt hat, weil sie keine Kinder kriegen kann und magersüchtig ist, sie soll endlich essen und gesund genug für einen Stammhalter werden, als wäre Essen das, was ihr fehlt. Und da ist der von seiner Frau verlassene Mr. Neville, ganz Gentleman der alten Schule, aber ironisch und scharfsichtig, der Ediths Leben fast eine komplett andere Richtung gibt - aber wieder mal hat sie sich geirrt. Wieder mal hat sie die Zeichen nicht früh genug erkannt.
Natürlich möchte ich in einem Vorwort nicht verraten, was genau passiert, aber spürbar ist die ganze Zeit: Es könnte im Grunde alles gut gehen, aber irgendetwas läuft falsch, bloß was? Es ist wie in Ediths Romanen, ein nicht zu entwirrendes tägliches Pensum von Phantasie und Lüge. Mr. Neville erscheint darin wie der Abgesandte eines zynischen Teufels, der der unglücklichen Edith einredet: »Sie brauchen nicht mehr Liebe, Sie brauchen weniger. Die Liebe hat Ihnen nicht besonders gut getan. (.) Was Sie brauchen, ist eine gesellschaftliche Position. Die Ehe.«
Ach, so einfach wäre das? So einfach ist es natürlich nicht, schon gar nicht für eine Frau des ausgehenden 20. Jahrhunderts, die durchaus selbst für sich sorgen kann. Und doch . Irgendetwas nagt und lockt, aber Edith ist trotz aller Sehnsucht nach einer Art von bürgerlicher Ordnung klug genug, um vorsichtig zu sein: Und in ihrem Kummer fühlte sie sich in höchstem Grade gefährdet. Sie beobachtet die Menschen, die in diesem Hotel gestrandet sind wie sie, sie irrt sich fundamental, was deren Hintergründe betrifft, und sie denkt verwirrt: Ich finde alles, was ich sehe, so verschieden von dem, was ich denke, dass ich meinem Urteil nicht mehr traue. Und wenn man erst so weit ist, wie kann man dann im eigenen Leben Entscheidungen treffen, ohne sich fürchterlich zu irren und an diesem Irrtum dann für immer tragen zu müssen? In ihrer Verlassenheit begreift sie etwas, das ihr vielleicht in Zukunft wird helfen können, nämlich:
Hoffnungen und Wünsche müssen laut und zäh verkündet werden, sonst wird sich keiner gezwungen sehen, davon Notiz zu nehmen, geschweige denn, sie zu erfüllen.
Eine spezielle Art von Feminismus ist das, was da ganz langsam unter der Oberfläche von Anita Brookners Erzählen brodelt, ohne jeden Zeigefinger, einfach nur ein leises »Tu es doch endlich!«, was die Wünsche von Frauen betrifft.
Seht mich an, (Look at me), so heißt einer der 23 Romane von Anita Brookner, und wir sehen sie an, diese Frauen, die an der Unvereinbarkeit ihrer Wünsche und Gefühle schier verzweifeln: Da ist die Sehnsucht nach etwas Wildem, Ungezügeltem oder auch nur nach einem eigenen Leben - und auf der anderen Seite die Anpassung an das, was Gesellschaft, Eltern, Ehemänner erwarten: die brave Einordnung. Und wenn eine Frau zu klug ist, um sich einfach zu ergeben, dann muss sie sehr aufpassen, an dieser Diskrepanz nicht zu zerbrechen.
Fast alle Romane von Anita Brookner beschreiben solche Zustände. Das heißt: Wir haben es mit relativ sparsamen Aktionen zu tun, dafür umso mehr mit geradezu atemberaubend spannenden Innenwelten, in denen es kocht und explodiert.
Und wie grandios sie erzählt, mit welcher von Eleganz und exquisiten Bildern geprägten Sprache! Landschaften und Interieurs beschreibt sie mit eindrucksvoller, ironisch gefärbter Genauigkeit - wie Ediths Hotelzimmer, das in der Farbe von zu lange gekochtem Kalbfleisch gehalten war. An den Wänden schien eine ferne Erinnerung an schwere Mahlzeiten zu haften. Oder die dicke Tochter namens Jennifer Pusey, die den Speisesaal betritt, nach rechts und links hin lächelnd, als sammelte sie (.) Blumensträuße ein. Wenn Brookner einen Markt, eine Landschaft, ein Café beschreibt, spürt und riecht, hört und sieht man die Atmosphäre, und da zählt das, was ist, nicht das, was scheint. Mit dem Schein quälen sich ihre Figuren herum, die ganz langsam ausbleichen, die völlig unbemerkt alt, traurig, dick, enttäuscht werden und nicht begreifen, wie ihr Leben so misslingen konnte und wo das angefangen hat. Brookner sieht mit sehr klarem Verstand, dass die Guten unglücklich leben bis ans Ende ihrer Tage. Das ist ein Zitat aus ihrem Roman Tugend und Laster (1985), in dem zunächst ausnahmsweise mal ein Mann im Mittelpunkt steht, aber einer, an dem wieder eine Frau letztlich zerbricht. In Seht mich an (1983) gesteht die Bibliothekarin Frances: Ich wäre gern schön, träge, verwöhnt und unzuverlässig. Kurz gesagt, ich hätte es gern etwas leichter. Und: Wenn ich nicht sehr achtgebe, werde ich mich zu einem grässlichen alten Drachen entwickeln.
Auch Edith hat ähnliche Gedanken. Sie versucht, mit etwas Gewöhnlichem zufrieden zu sein, weil etwas Ungewöhnliches sie verletzt hat. Aber natürlich rumort es innerlich weiter, und offenbar haben die Frauen nicht die Gabe, ihre Sehnsüchte völlig zu begraben, wie es die Männer bei Anita Brookner können: Thomas Hartmann in Nachzügler (1988) hatte vor langer Zeit gelernt, wie viel Vergnügen es bereiten konnte, mäßig zu sein, Wesentliches zu erkennen, etwas zu erreichen und zu vervollständigen, anstatt sich abzumühen und zu scheitern. Bewundernswert, wie Anita Brookner solche filigranen Vernetzungen des Inneren beschreibt, und sie tut das mit einem immensen Sprach- und Bilderreichtum. Das liest sich fabelhaft und macht die Lektüre ihrer eher handlungsarmen, aber an Gedanken und Impressionen so reichen Romane zur reinen Freude. Eigentlich geschieht nichts, und doch ändern sich Gegebenheiten und Zustände wie in Zeitlupe, das aber so gründlich, dass plötzlich ein ganz anderer Weg als der eigentlich eingeschlagene und geplante sichtbar wird. Wann war die Abzweigung und wo? Man weiß doch noch, wann eine Liebe anfing, aber warum weiß man nie, wann und wo sie endete?
Brookner ist eine geniale Alltagsbeobachterin mit viel versteckter Bosheit, feiner Ironie und einer...
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