Alina Bronsky
Menschen kennenlernen
Neben den vielen Lesungen, die ich in Buchhandlungen, Bibliotheken, Schulen, Kirchen, Scheunen und Cafés erlebt habe, waren auch eine oder zwei dabei, die als »Hausbesuch« überschrieben waren. Die Gastgeber gaben ihre Wohnung für die Veranstaltung frei, und das Publikum kam über eine geheimnisvolle Gästeliste zusammen. Die Zuhörer mussten ihre Straßenschuhe an der Türschwelle ausziehen. Besonders Erfahrene hatten Hausschuhe in Stofftüten mitgebracht, der Rest saß in Socken da.
Ich durfte damals meine Stiefel anbehalten und bekam zum Vorlesen den besten Wohnzimmersessel. Die Stehlampe leuchtete mir ins Gesicht, ein Mikro fehlte naturgemäß, und die Hälfte der Zuhörer hatte, fürchte ich, nur wenig von meinem Vortrag verstanden. Gesehen auch nicht, weil das Wohnzimmer um die Ecke ging. Als anschließend in der Küche das Buffet eröffnet wurde, flüchtete ich. Eine Lesung gehört auf neutralen Boden, dachte ich in jenem Moment, für mich jedenfalls.
Hausbesuch, schloss ich daraus, ist eher nicht mein Format. Diese Haltung bewährte sich einige Jahre. Dann kam eine E-Mail vom Goethe-Institut, die das Wort Hausbesuch in der Betreff-Leiste hatte. E-Mails von Goethe-Instituten liebe ich sehr, vor allem die Visitenkarten der Absender. »39 rue de la Ravinelle« - das hat was. Die Einladung zu einem Hausbesuch hörte sich plötzlich gut an, vielleicht, weil es diesmal nicht nach Nordhessen ging. Ich dürfe mir zwei europäische Städte aus der Liste aussuchen und den Zeitraum bestimmen. Das Konzept hatte ich nicht ganz verstanden, aber ich sagte sofort ja. Auf Deutsch im Ausland zu lesen, würde mein Fremdeln auf die Spitze treiben - was mir in der Konsequenz schon wieder gefiel.
Ich kann nur mutmaßen, wie oft die einladende Seite im weiteren Verlauf mit den Zähnen knirschte und sich wünschte, eine pflegeleichtere Kandidatin als mich ausgewählt zu haben: Ich wollte nach Turin und Frankfurt - die erstgenannte Stadt kannte ich noch nicht, der Besuch der anderen ließ sich gut in meinen Kalender einbauen. Mein erster Terminwunsch war sehr kurzfristig, der zweite lag in den Sommerferien. Ich reiste grundsätzlich mit Kleinkind. Bei den zahlreichen Vorbereitungstelefonaten klagte ich, ich sei die Autorin mit den klassischen Lesungen und wisse nicht, wie ich bitteschön die Hausbesuche gestalten solle. Kreative Auftrittskonzepte und Performances seien nicht meine Sache. Man fragte mich, auf wen ich denn treffen wolle, in Turin? Buchaffin und im Ansatz deutschsprachig wäre schon gut, sagte ich, und die Gegenseite reagierte höflich: »Hm. Okay.«
Sollten die Turiner Gastgeber jemals verzweifelt gewesen sein, so ließen sie sich das mir gegenüber nicht anmerken. Keine Ahnung, wer von uns die Idee zuerst hatte, aber plötzlich redeten wir über Rezepte. Man könne doch gemeinsam kochen, italienisch und deutsch. Das sei weder eine Performance noch besonders kreativ - genau mein Ding. Aus der Palette der von mir am Telefon aufgezählten Gerichte suchte die Institutsleiterin Frau Kraatz Magri den Rübli- und den Zwiebelkuchen aus. Mein Einwand, Letzterer sei ein Herbstgericht und werde in meiner hessischen Interims-Wahlheimat mit dem angegorenen Traubensaft, dem Federweißen, getrunken, kam wohl zu kleinkariert daher und fand deshalb kein Gehör. Die russische Küche meiner Kindheit ließen wir, um weitere Verwirrung zu vermeiden, ganz aus dem Spiel. »Schicken Sie uns bitte die Rezepte, damit wir die Zutaten besorgen können«, bat mich Frau Kraatz Magri ein, zwei, schließlich drei Mal per Mail.
Mein Problem: Ich hatte keine Rezepte, ich koche nie nach Rezept. Schließlich kopierte ich irgendetwas von Chefkoch.de. Mein Vorschlag, im Koffer Magerquark für meine Drittwahl und mögliche Alternative Käsekuchen mitzubringen, wurde dankend abgelehnt. Turin im Mai wirkt auf einen verfrorenen Berliner klischeehaft paradiesisch. Die Sonne scheint, alle Cafétische sind besetzt. An jeder Ecke eine Eisdiele, die zu den besten Italiens gehört. Das Kind schreit nach dem ersten Eis seines Lebens. Ich frage mich, wie es Menschen schaffen, sich in dieser Umgebung überhaupt auf so etwas wie Arbeit zu konzentrieren.
Meine erste Gastgeberin ist die Teilnehmerin eines Deutschkurses. Eine Goethe-Praktikantin holt mich mit dem Taxi ab, wir verlassen das historische Stadtzentrum. Weitere Deutschschüler (und weitere Goethe-Praktikanten) werden heute Abend meine Gesprächspartner sein. Hier soll ich noch nicht kochen, sondern reden - über mein Schreiben, über Bücher und Sprachen.
Wir sind alle ein bisschen schüchtern, als wir mit unseren Sektgläsern in der Wohnung der Gastgeberin rumstehen. Alle haben ihre Schuhe noch an. Dann ruft Elena an, die, wenn ich es richtig verstanden habe, einen Parkplatz sucht. Plötzlich wird die Sache heiter. Elena suche immer einen Parkplatz, sagen die Frauen, die mit ihr zusammen beim Goethe-Institut Woche für Woche Deutsch lernen und die zudem die Tafel dieses Abends mit Antipasti, Hummus und Gnocchi bestückt haben. Nun haben alle gute Laune, was sich noch steigert, als Elena ankommt - eine blonde Frau im Clownskostüm, die Hand an der Gurgel eines Gummihuhns. Passe sehr gut zu dem Roman, aus dem ich vorlesen wolle, sagt sie, das Huhn beim Eintreffen in die Höhe hebend und Textkenntnis beweisend. In der Tat kommt in meinem jüngsten Buch gleich zu Beginn ein Hahn zu Tode. Das gemeinsame Foto mit Elena und ihrem Huhn poste ich stolz auf Instagram.
Der Deutschkurs hat die ersten Seiten meines Romans bereits gemeinsam gelesen, aber gnadenlos trage ich sie ein weiteres Mal laut vor, um meiner Rolle als Vertreterin der deutschsprachigen Literatur gerecht zu werden. Dass die Zuhörer meine Sprache fließend sprechen, während ich von der ihren nur ein paar Brocken beherrsche, macht mich verlegen. Es stellt sich heraus, dass die meisten Deutschschülerinnen im bürgerlichen Beruf selbst an Schulen unterrichten, nur Elena mit dem Huhn arbeitet bei einer Bank. »Aber dort ziehe ich mich anders an«, raunt sie mir ins Ohr.
Als ich erzähle, dass in Deutschland gerade die so genannte »leichte« oder »einfache« Sprache an Bedeutung gewinne, eine abgespeckte Version des Hochdeutschen, die auf Nebensätze und Fremdwörter verzichtet und sich an alle richtet, die sonst am geschriebenen Wort scheitern, schütteln sämtliche Lehrerinnen den Kopf. Die institutionelle Vereinfachung der Sprache lehnen sie ab - schon jetzt seien ihre Schüler zu weniger komplexen Gedankengängen und Formulierungen in der Lage als noch vor zehn Jahren, wo solle das bloß enden. »Meinen Schülern unterlaufen in ihrer Muttersprache Fehler, die ich im Deutschen mache«, sagt eine der Italienerinnen in makellosem Deutsch. Ich nicke beeindruckt - auch wenn mich kulturpessimistische Äußerungen sonst automatisch zum Widerspruch reizen.
Als eine der Teilnehmerinnen laut nach dem deutschen Wort für imitazione sucht (»Nachahmung!« flüstert es von allen Seiten), beschließe ich, zu Hause einen Italienischkurs zu besuchen. Der Entschluss, sofort der Runde mitgeteilt, wird mit freundlicher, teils skeptischer Zustimmung aufgenommen. Den Rest des Abends reden wir über Russisch und Japanisch, Sprachen, die die anwesenden Praktikanten des Goethe-Instituts lernen. Zum Essen komme ich kaum.
Als ich drei Stunden später, aber noch vor dem Nachtisch aufbreche, wird mir eine doppelte Portion einer süßen Köstlichkeit samt Löffel in die Hand gedrückt. Im Taxi auf dem Weg ins Hotel wiederhole ich das italienische Wort für Quittung - scontrino - , wie es mir die Goethe-Praktikantin Marion eingeschärft hat.
Am nächsten Nachmittag stehe ich, mit Schürze und Kochlöffel ausgestattet, am Profi-Gasherd im Casa del quartiere in der Via Baltea, dem Gemeinschaftszentrum eines ziemlich durchmischten Viertels, und rühre die kleingehackten Zwiebeln um. Die italienische Küche wird von Grazia vertreten - »einer echten italienischen Mamma«, wie Praktikantin Marion stolz erzählt. Im Hause Grazia werden sowohl die Pasta1 als auch der Limoncello grundsätzlich selbst gemacht. Marion muss es wissen, schließlich ist sie Grazias Schwiegertochter.
Grazia sieht skeptisch zu, wie ich nach Gefühl Mehl mit Hefe vermenge. Der warum auch immer als anspruchsvoll geltende Hefeteig gehört zu den wenigen Dingen, die mir immer ...