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Subjektives Vorwort
Im November 1989 fiel die Berliner Mauer. Obwohl ich damals noch etwas zu jung war, um die ganze Tragweite dieses Ereignisses zu erfassen, sah ich doch klar, dass es sich um etwas Erfreuliches handelte: Die Menschen jubelten und tanzten. Im selben Jahr stürzten auch die finsteren Ceausescus. Kurz gesagt, mit dem Niedergang des sowjetischen Imperiums hielt die große Geschichte Einzug bei uns zu Hause, und wir hatten Gelegenheit, selbst Zeuge des historischen Geschehens zu werden. Zugleich gab es da eine gewisse Melancholie, denn wie manche behaupteten, würden wir so etwas nicht noch einmal erleben. Zu ihnen gehörte Francis Fukuyama, der vor kaum dreißig Jahren ein Buch veröffentlichte, das in der ganzen Welt Aufmerksamkeit erregen sollte: Das Ende der Geschichte. Dieses Buch des jungen Politikwissenschaftlers, das einen 1989 in der Zeitschrift The National Interest veröffentlichten Aufsatz weiter ausarbeitete, galt manchen als einer der wichtigsten Texte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Darin konnte man lesen, der Untergang des kommunistischen Imperiums kündige die Monopolstellung des Ideals der liberalen Demokratie an. Fukuyama wusste sehr wohl, dass Gewalt und Wirren damit durchaus nicht verschwinden würden, aber er glaubte zumindest, dass kein ideologisches System mehr mit der liberalen Demokratie konkurrieren könnte, die von nun an den einzigen möglichen Horizont des politischen Denkens bilden werde.
Irgendetwas gefiel mir nicht an der allgemeinen Befriedung, die man uns da prophezeite. War das die Laune eines verwöhnten Kindes? Sollte das Leben für uns nun wirklich einen ruhigen und langweiligen Lauf nehmen? Wer so dachte, hatte offenbar nicht die Schrecken der Geschichte erlebt, doch mit diesem Gefühl endete für mich das vergangene Jahrhundert. Ich bemerkte auch, dass die moralische Empörung, die damals schon zu einem Dauerzustand wurde, meiner Generation als Deckmantel diente, auch wenn sie nicht weniger mutig als die anderen war, aber keine Gelegenheit zu wirklichen Heldentaten fand. Ging die Geschichte tatsächlich ihrem Ende entgegen? Meine intellektuelle Bildung hätte schon sehr unvollkommen sein müssen, wenn ich an solche Märchen geglaubt hätte. Die Geschichte kommt niemals an ein Ende.
Drei Jahrzehnte später scheint die Geschichte zu galoppieren. Ihr Lauf hat solch eine Geschwindigkeit erreicht, dass es fast unmöglich ist, sie ordentlich zu denken. Es gibt zahlreiche politische Systeme, die sich als Ersatz für das Modell der liberalen Demokratien anbieten: die autoritäre Marktgesellschaft wie in China, eine Demokratur wie in der Türkei oder in Russland, der politische Islam oder auch die gesellschaftlichen Veränderungen, wie sie die verschiedenen politischen Zweige der ökologischen Bewegung vorschlagen, die sich zum Teil gegen ein weiteres Wachstum wenden, während andere sich dem Antispeziesismus verschreiben.
Unter all den Eigenheiten dieser leidenschaftlichen und beunruhigenden Zeit ist mir besonders in Erinnerung geblieben, dass die ersten zwei Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts eine massive Deregulierung des kognitiven Marktes herbeiführten, den man auch als Markt der Ideen bezeichnen könnte. Diese Deregulierung lässt sich einerseits durch die ungeheure, in der Geschichte der Menschheit beispiellose Masse verfügbarer Information und andererseits durch die Tatsache erfassen, dass jeder seine eigene Darstellung der Welt in dieses Meer einfließen lassen kann. Die neue Situation schwächte die Rolle der traditionellen Gatekeeper, die hinsichtlich dieses Marktes eine regulierende Funktion ausübten (Journalisten, akademische Experten, kurz alle, die als gesellschaftlich legitimiert galten, sich an der öffentlichen Debatte zu beteiligen). Heute kann jeder, der über einen Account in einem sozialen Netzwerk verfügt, seine Ansichten, zum Beispiel über Impfstoffe, direkt gegen die eines Medizinprofessors stellen - und sich dabei möglicherweise noch mit einem größeren Publikum brüsten.
Es ist nicht das erste Mal in der Geschichte, dass Glaube und methodisches Denken in Wettstreit miteinander treten, wenngleich der Glaube dem methodischen Denken oft ganz buchstäblich verbieten konnte, seine Positionen zum Ausdruck zu bringen. In manchen Gesellschaften wurden Menschen, die sich dennoch für die aufkommende Wissenschaft und das methodische Denken einsetzten, mit dem Tode bestraft. Der Glaube vermag also dem Wissen zu verbieten, seine Argumente zur Geltung zu bringen, etwa unter Androhung des Todes auf dem Scheiterhaufen. Er bemüht sich jedoch meist um Arrangements, die es ihm erlauben, eine direkte Konfrontation mit für ihn abträglichen Argumenten zu vermeiden. Als man zum Beispiel in der Scholastik nach den Verbindungen zwischen Gott und der Natur fragte, fühlten sich die Denker der Zeit zwischen Glaube und Vernunft hin- und hergerissen. Das 13. Jahrhundert war von Krisen an den Universitäten geprägt, und so erfand man jene doppelte Wahrheit, die der Historiker Alain de Libera als «mittelalterliche Schizophrenie» bezeichnet hat.[1] Danach vermag ein und dieselbe Person als Philosoph das eine und als Christ etwas ganz anderes zu glauben. Das ist einer der Auswege, die Menschen in der Geschichte ersannen, um einer Konfrontation aus dem Wege zu gehen. Diese Lösung hielt jedoch nur eine begrenzte Zeit, und die Fortschritte der Erkenntnis traten oft in direkte Konkurrenz zu wörtlichen Auslegungen der religiösen Schriften oder zu all den anderen Aussagen aus dem Bereich des Übernatürlichen, der Magie und der Pseudowissenschaften.
Hier nur ein Beispiel von vielen. Die in der Bibel (Genesis 1,20-?30 und 2,7) dargestellte Sicht, wonach die Tiere und der Mensch von Gott erschaffen wurden, und zwar jede Art getrennt von den anderen, hat viel von ihrem Ansehen verloren. Der dort vertretenen These, unsere Erde sei in sechs Tagen erschaffen worden (Genesis 1,1-?31) und sei 6000 Jahre alt, ergeht es kaum besser angesichts der Entdeckung der Fossilien, ihrer Datierung und allgemein der wissenschaftlichen Fortschritte insbesondere des 19. Jahrhunderts. All das ist höchst unbequem für das biblische Weltbild, das jahrhundertelang die Vorherrschaft besaß, und man kann sagen, dass die von der Wissenschaft vorgeschlagenen geistigen Modelle in eine feindliche Konkurrenz zu den von der Religion behaupteten getreten sind.
Angesichts solcher Widersprüche bleiben dem Gläubigen mehrere Möglichkeiten. Er kann seinen Glauben aufgeben und einräumen, dass die Bibel, auf die er seinen Glauben stützt, aus erfundenen Geschichten bestehe; oder er kann daran festhalten, dass Darwins Theorie falsch sei. Und tatsächlich wird die zweite Option häufiger gewählt als die erste. Nur selten gibt ein Gläubiger seinen Glauben allein wegen widersprechender Fakten auf, so gut sie auch begründet sein mögen. Vielmehr wird er versuchen, deren Befürworter in Misskredit zu bringen, die Methoden, die zu diesen unliebsamen Erkenntnissen geführt haben, bis ins Unendliche zu zerlegen und Fehler in der zugrundeliegenden Argumentation ausfindig zu machen. Kurz, er wird sich nicht geschlagen geben, sondern bis zum Ende kämpfen, um die Darstellung zu bewahren, die ihn entfremdet, ohne dass er sich dessen bewusst wäre.
Genau diese Strategie wird heute zum Beispiel noch in der Türkei eingesetzt, wo der Rat für höhere Bildung 2017 beschloss, Darwins Theorie aus den Biologielehrbüchern zu entfernen, weil sie mit den Werten des Landes nicht vereinbar sei. Seither dürfen nur über Achtzehnjährige in die Erkenntnisse eingeweiht werden, die den wissenschaftlichen Zugang zum Rätsel des Lebens bilden. Die Evolutionstheorie wird dort also als jugendgefährdend eingestuft, desgleichen in Saudi-Arabien. In den Vereinigten Staaten von Amerika wird die Evolutionstheorie zwar nicht aus den Schulen verbannt, aber sie findet kein großes Publikum. Man kann sich natürlich über den Befund des Gallup Instituts freuen, wonach in diesem Land die Zustimmung zu Darwins Thesen noch nie sie groß war wie 2019, aber die Begeisterung dürfte nachlassen, wenn man erfährt, dass nur 22 Prozent der Ansicht waren, dass «die Lebewesen sich über Millionen von Jahren aus weniger fortgeschrittenen Lebensformen entwickelt haben und Gott mit diesem Phänomen nichts zu tun hat». 1983 hatte dieser Anteil nur 9 Prozent betragen. Dennoch glauben mehr als 70 Prozent der Einwohner der Weltmacht Nr. 1 auch heute noch den religiösen Thesen zur Biologie.
Und noch eine dritte Strategie bietet sich dem Gläubigen an, wenn der Fortschritt des Wissens seine Vorstellungen bedroht: die Ansicht, dass es sich um einen Scheingegensatz handele. Diese Strategie beobachten wir seit dem 19. Jahrhundert. Sie...
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