Schweitzer Fachinformationen
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1. Zuständigkeiten I
»Die g'hört fei euch!«, schmähte der Kollege, auf die Leiche deutend.
»So? Und wer sagt das?« Renans Ton verriet Angriffslust.
»Kommissar Nothaft, Kriminalinspektion Fürth!«
»Müller, K11 Nürnberg« - Renan blickte sich auf der gesperrten A73 um - »und ich glaube nicht, dass wir hier auf Nürnberger Gebiet sind.«
»Auf Fürther jedenfalls auch nicht.« Nothafts Züge hatten etwas Dachsartiges. »Der Frankenschnellweg ist hier die Stadtgrenze, und das da ist die Fahrspur Richtung Bamberg, und die liegt näher an Nürnberg.«
»Muss ich erst das Stadtvermessungsamt anrufen oder was?« Renan hielt drohend ihr Handy hoch.
»Das kannst du machen, wie du willst«, der Dachs zuckte mit den Schultern, »wir nehmen die jedenfalls nicht mit!«
»Abwarten«, knurrte Renan und setzte sich in ihren Dienstwagen. Es war bereits zehn Uhr nachts. Natürlich konnte man um diese Uhrzeit niemanden vom Vermessungsamt erreichen. Im Handschuhfach fand sie einen Stadtplan. Sie schlug ihn auf und folgte dem Verlauf der Stadtgrenze mit dem Finger. Die beiden Städte gingen an den meisten Stellen nahtlos ineinander über. Meist wurde die Grenze durch Straßen markiert, im Süden auch ein Stück weit durch den Kanal. Im Norden verlief sie gezackt an Feldwegen entlang. Nur hier, zwischen der Fürther Straße und der Herderstraße, fiel sie auf knapp einem Kilometer mit der A73 zusammen, dem Frankenschnellweg. Renan blickte über ihre Schulter hinauf zu der Fußgängerbrücke, von der die Frau offensichtlich gekommen war. Dem Plan konnte sie entnehmen, dass es sich dabei um den »Mainausteg« handelte. Renan atmete tief durch und ließ die nächtliche Kulisse ein paar Minuten auf sich wirken. Auf der Gegenfahrbahn donnerte der Verkehr vorbei, doch sie empfand fast so etwas wie Ruhe. Die Fahrspur Richtung Norden war kurz nach dem Vorfall total gesperrt worden. Der Widerschein von acht Blaulichtern zuckte auf den Brückenpfeilern und Böschungen am Straßenrand. Renan fühlte sich mit der Situation ein klein wenig überfordert und rang sich schließlich dazu durch, ihren Kollegen Alfred anzurufen. Sollte der alte Kripo-Hase doch mal vorturnen, wie mit so einer Situation umzugehen war. Sie zückte ihr Handy. Alfred leistete keinen großen Widerstand, im Gegenteil, die Tote auf der Stadtgrenze schien ihn richtiggehend anzuspornen. Sie schaltete das Radio ein. Es war Bayern 5 eingestellt. Soeben wurde vermeldet, dass die Arbeitslosenzahl im September weiter gesunken sei.
»Entschuldigung, Frau Kommissarin«, meldete sich ein Kollege von der Verkehrspolizei, »aber können wir die Leiche nicht langsam wegschaffen? Wir möchten die Totalsperrung gern irgendwann wieder aufheben.«
»Das muss jetzt warten!« Renan schlug die Fahrertür zu.
Auf der gesperrten Autobahn standen sich eine Nürnberger und eine Fürther Streifenwagenbesatzung, zwei Löschzüge der Nürnberger Feuerwehr und drei Rettungswagen aus Fürth gegenüber. Die Kollegen von der Spurensicherung waren auch schon vor einer halben Stunde eingetroffen, wollten aber nicht so richtig anfangen, bevor die Kriminalbeamten sich nicht einig waren, wem der Fall und damit die Leiche nun gehörte. Zu tun gab es für die verschiedenen Professionen genug. Die tote Frau war vom Mainausteg aus auf die Autobahn gestürzt oder gestoßen worden. Das nächste heranrasende Fahrzeug bremste scharf, überfuhr sie aber noch mit etwa 60 Stundenkilometern. Der Wagen war daraufhin nach links gegen die Leitplanke geschleudert und hatte eine Karambolage von vier weiteren Fahrzeugen verursacht, darunter ein Tanklastzug, der aber zum Glück leer unterwegs war. Im ersten Fahrzeug, einem schwarzen Passat, saß ein Kugellagervertreter aus Schweinfurt, der sich auf der späten Heimreise befand. Der Mann war nur leicht verletzt, stand aber unter Schock und wurde bereits von einer Psychologin betreut. In den drei anderen Autos gab es auch nur leichte Prellungen und Schürfwunden. Das eine oder andere Schleudertrauma würde aber sicher noch hinzukommen. Der Blechschaden war beträchtlich. Alles in allem konnte man froh sein, dass der Vorfall sich so spät ereignet hatte. Wäre er statt um neun um sechs oder sieben passiert, hätten sie sicher mehr als nur eine Tote zu beklagen. Renan war sich der Absurdität der Situation durchaus bewusst. Sie war Kommissarin bei der Mordkommission und da draußen lag eine tote Frau, die offensichtlich unter Fremdeinwirkung von einer Brücke auf die A73 gestürzt war. Sie müsste sich eigentlich mit Feuereifer an die Arbeit machen, aber Renan war auch schon etliche Jahre Polizistin und kannte die ungeschriebenen Regeln ihres Berufsstandes genau. Man ließ sich nicht ohne Widerstand so einfach Mehrarbeit aufhalsen. Es musste immer zuerst die Frage nach der Zuständigkeit gestellt werden. Renan stimmte nicht mit allen traditionellen Gepflogenheiten bei der Polizei überein, aber diese hatte sie doch verinnerlicht. Sie traute sich aber auch nicht, den Tatort einfach so zu verlassen. Ebenso wie der Fürther Dachs, der rauchend an der Leitplanke lehnte und mit einem der Fürther Verkehrspolizisten sprach. Das Risiko, sich quasi unerlaubt vom Unfallort zu entfernen, wollte keiner eingehen. Daher belauerten sie sich gegenseitig, wer als erster die Nerven verlieren würde. Derweil versorgten die Sanis die leichten Blessuren der anderen Unfallbeteiligten, und zwei Nürnberger Verkehrspolizisten deuteten den potentiellen Gaffern auf der Gegenspur mit deutlichen Gesten an, dass sie weiterfahren sollten. Der Notarzt war einer der ersten am Unfallort gewesen. Er konnte nur noch den Tod der Frau feststellen. Auch er wusste nicht so recht, wie mit der Patt-Situation umzugehen war. Er stand neben seinem Notarztwagen und hob immer wieder hilflos die Arme.
Schließlich traf Alfred mit seinem roten Alfa ein. Er war für seine Verhältnisse mit einer Jeans, einem Poloshirt und einer hellgrauen Schimanski-Jacke eher leger gekleidet. Er quälte sich etwas mühsam vom Fahrersitz hoch, grüßte zwei der Streifenpolizisten mit Handschlag und versprühte mit seinem angegrauten Haupthaar sofort eine seniore Souveränität, um die ihn Renan immer noch manchmal heimlich beneidete. Da Renan den Fürther Dachs auf höchstens 45 schätzte, war Alfred wahrscheinlich der ranghöchste, auf jeden Fall aber der dienstälteste Beamte vor Ort. Renan war nun gespannt, wie er die Situation lösen würde. Sie versammelten sich um die Leiche, über die bereits ein weißes Laken gedeckt war, das sich an mehreren Stellen rot färbte.
»Also, was haben wir hier?«, fragte Alfred.
»Tote Frau«, erklärte der Dachs, »ist von da gekommen.« Er deutete schräg nach oben in Richtung des Mainaustegs.
»Da fällt man nicht so einfach runter«, stellte Alfred fest.
»Nicht wirklich«, stimmte Renan zu.
»Sie war wohl gerade beim Joggen.« Alfred hatte sich Latexhandschuhe übergezogen und das Laken zurückgeschlagen. Die Frau trug handelsübliche Laufkleidung, nun größtenteils zerfetzt. Eine knöchellange, eng anliegende Hose, ein atmungsaktives Shirt. In den Oberkörper und die Unterschenkel hatten die Autoreifen brutale Gräben gezogen. Die Augen waren geöffnet und blutunterlaufen, das Gesicht ebenfalls mit Blut und Straßendreck verkrustet. Der linke Arm war unnatürlich verdreht, die Finger der Hand sichtbar gebrochen. Die Haut war großflächig aufgeschürft, lediglich die Laufschuhe von Reebok waren unversehrt geblieben. Sie schien etwa Mitte dreißig gewesen zu sein.
»Das hat sie um den Hals getragen.« Der Notarzt hatte sich zu ihnen gesellt und hielt einen MP3-Player hoch. Als Renan und der Dachs zögerten, das Fundstück anzunehmen, griff Alfred zu und steckte das Gerät in ein durchsichtiges Plastiktütchen.
»Also Mord oder Selbstmord«, schloss er. »Irgendwelche Auffälligkeiten, Doktor?«
»Nichts Ersichtliches«, sagte der Notarzt. »Hören Sie, die Leiche muss schleunigst in die Rechtsmedizin. Ich bin hier jedenfalls fertig!« Er entfernte sich in Richtung seines Wagens.
»Mord oder Selbstmord ist die eine Frage«, sagte Renan, »die andere wäre: Nürnberg oder Fürth.«
»Hm«, Alfred musterte den Fürther Kollegen, der schweigsam rauchend neben ihm stand, »haben Sie vielleicht Feuer?«
»Wie meinen?«
»Feuer«, wiederholte Alfred lächelnd. »Auch in Nürnberg gibt es noch Raucher.« Der Dachs zog ein Feuerzeug aus der Tasche und gab es Alfred, der sich eine Selbstgedrehte anzündete.
»Danke«, nahm Alfred das Gespräch wieder auf. »Also, ich würde vorschlagen, dass die Sanis die Tote erst mal zur Gerichtsmedizin fahren. Die ist in Erlangen, womit wir zunächst nichts falsch machen können.«
»Meinetwegen«, erwiderte Nothaft.
»Und dann .«, Alfred nahm einen tiefen Zug, »der Frankenschnellweg ist auf dieser Höhe die Stadtgrenze, nicht wahr?«
»Eine ziemlich breite«, sagte Nothaft, »und weil die östliche Fahrbahn näher an Nürnberg liegt und die westliche näher an Fürth, gehört die da euch!« Er deutete mit der Zigarette auf die Leiche.
»So einfach ist das nicht«, erklärte Alfred. »Das ist eine Bundesautobahn, die gehört weder zu Nürnberg noch zu Fürth.«
»Aha«, antwortete der Dachs abfällig, »sollen wir dann den Bundesgrenzschutz holen?«
»Das würde wahrscheinlich nichts bringen« - Alfred kratzte sich am Kinn - »es gibt aber kommunale Gepflogenheiten in solchen Fällen .«
»So?« Nothaft wurde misstrauisch. »Welche denn?«
»Im Zweifelsfall entscheidet der Wohnort des Opfers.«
»Das ist...
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