Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Nun fuhren sie schon drei Tage. Über Viehwege, auf denen so manche alte Kuh lieber zusammengebrochen und gestorben war, als ihrem Treck zu folgen. Vom Sommerregen ausgewaschene Wege, deren Rillen vom Staub des Winters wieder zugeweht waren. Die Stöße brachen Annie Madureira beinahe das Rückgrat, sie mußte sich am Griff festhalten, die Augen schließen und die Zähne zusammenbeißen. Hin und wieder warf sie einen verstohlenen Seitenblick auf ihren Mann. Doch bei seinem Anblick hatte sie jedesmal stärker das Gefühl, völlig allein und in der Fremde zu sein.
Das Gesicht Jacinto Madureiras und die kahle, freudlose Gegend, die sie durchquerten, begannen einander zu gleichen, so ungewohnt, so sonderbar unzugänglich waren beide. Seine Züge, das eckige Kinn, die buschigen Brauen, die Habichtsnase schienen ihr schärfer geworden zu sein durch den heftigen Fahrtwind und die vornübergebeugte Haltung, die Verbissenheit, mit der er den Jeep fuhr, als sei er ein lebendes Wesen, das sich zur Eile antreiben ließ. Staub puderte sein Haar, machte seinen borstigen Schnurrbart noch verwegener, vertiefte die Höhlen, aus denen seine Augen funkelten. Und diese Augen richteten sich mit der verbohrten Hartnäckigkeit eines Besessenen auf ein einziges Ziel: den Weg.
Großer Gott, und sie hatte ihn für elegant gehalten, in seinen gut geschneiderten Ivy-League-Anzügen, die auf seinem dunklen, mageren Körper nie so recht hatten sitzen wollen. Woher hätte sie ahnen sollen, daß er sich in diesen Fanatiker verwandeln würde, in khakifarbener, schlampig um die Taille geschnallter, ausgefranster Hose, die ihm aus den abgelatschten Stiefeln hing - in diesen Wilden, der sich über das Lenkrad krümmte und darüber Hunger, Durst und eine zum Platzen gefüllte Blase vergaß. Hätte sie sich nicht manchmal leise beklagt, er wäre sicherlich nonstop weitergefahren, die Nächte durch, tollkühn, verwegen, um das quälende, letzte Stück Heimfahrt hinter sich zu bringen.
Vielleicht würde er wieder der werden, den sie gekannt hatte, wenn sie «zu Hause» waren, wenn erst diese Weite und Leere, vor der er sie gewarnt hatte, hinter ihnen lag. Es lag an diesem Land, dieser Umgebung - so herb, gleichgültig, so unendlich enttäuschend. Sie blickte von ihm fort, geradeaus, mit brennenden Augen. Und dann kam seine Hand, groß und eckig und schmutzig, schweißnaß vom Umgreifen des Steuerrades, und legte sich sanft auf die ihre. Ich bin noch da, hieß das wohl, ich, Jacinto Madureira, hast du das vergessen? Und dann wußte sie, daß sie nicht allein war.
Als sie zum erstenmal - damals vor Monaten - gemerkt hatte, daß er sie ansah, hatte sie diesen borstigen Schnurrbart als albern empfunden, die dunkel glänzenden, abschätzenden Augen als Kränkung. Sie hielt sich zwar für die geborene Rebellin, doch ihre Art zu reagieren war noch nicht auf die Probe gestellt worden. Und es erhob sich in ihr etwas, das sie fast schon mit der Muttermilch eingesogen hatte: «Wie kann dieses Halbblut es wagen .» Doch er hatte sie weiterhin unverhohlen und offen bewundert, als kennten seine Augen die feine Zeichnung ihrer Gesichtszüge, ihre langbeinige, hochbrüstige, rassige Figur besser als sie selbst. Er hatte sie verfolgt, hatte sie während der Vorlesungen und zwischen den Vorlesungen in der Halle beobachtet, ihr genau zugesehen, wie sie entschlossen, sehr gerade aufgerichtet, sehr unbekümmert die breite Universitätstreppe zur Straße hinunterstieg.
Tagelang hatte sie die Freude nicht wahrhaben wollen, die ungewohnte, verheerende Wärme, die ihren ganzen Körper überflutete und sich zwischen ihren Schenkeln festsetzte, die Freude daran, so begehrt zu werden. Es war barbarisch, unerhört und primitiv. Doch ganz abgesehen davon war es die aufregendste Erfahrung, die sie als Frau je gemacht hatte. Ihm war dies alles natürlich nicht entgangen, und er war im rechten Moment gekommen und hatte seine Forderung angemeldet.
Mancher hätte das durchaus nicht für den richtigen Moment gehalten, es vielmehr anmaßend und unsportlich gefunden. Doch Jacinto hatte - zumindest damals - genau gewußt, was er tat. Es war bei einer Abschiedsparty gewesen, in der Wohnung von Ched Harrington in der Madison Avenue - er ging schon das dritte Jahr auf die Columbia-Universität und wurde von der netten Clique aus Brookhaven, Connecticut, allgemein für Annie Bancrofts festen Freund gehalten. Nicht daß es wichtig gewesen wäre, wessen Party es war. Es waren sowieso immer die gleichen Leute da. Die «Clique» aus Brookhaven war zu gleicher Zeit geboren, erzogen und zur Schule geschickt worden und wie Fischlaich, der an der gleichen Plazenta hängt, auch gleichzeitig zur Ivy League abmarschiert. Als die Abschlußexamen vorüber waren, versammelten sie sich zu einer «Abschiedsparty» in New York, nur um am folgenden Tag per Eisenbahn nach Hause zu fahren - zu einer «Willkommensparty» in Brookhaven. Es waren stets die gleichen intelligenten, wohlerzogenen Gesichter, die zusammenkamen, um an Gläsern zu nippen, zu nicken, eifrig zu diskutieren, und stets die richtige Anzahl von Exoten darunter - lateinamerikanische Studenten, hie und da auch einmal ein Asiat und ein, zwei Berufsbohemiens, die für den unerläßlichen, verwegen-liberalen Akzent zu sorgen hatten.
Ched hatte Annie etwas über «experimentellen Sozialismus» vorgeschwafelt, sich zu ihr geneigt und sie angeblickt, durch seine Hornbrille, die ihn weniger wie einen Intellektuellen als vielmehr wie ein unausstehliches, verzogenes Kind aussehen ließ. «Es wird nicht leicht sein.»
«Was wird nicht leicht sein?»
Er hatte geseufzt und war ihr noch etwas näher gerückt, hatte verzweifelt mit den Händen gefuchtelt, als könnte er ihre Begeisterung dadurch erwecken, daß er ihr Angst machte. «Dein trübes Innenleben vom verfluchten, egozentrischen Individualismus zu befreien.»
Annie hatte nicht anders gekonnt, sie hatte gegähnt: ein langes, üppiges Gähnen, bei dem sie, wäre sie eine Katze gewesen, einen Buckel gemacht und die Krallen herausgestreckt hätte. Im vorliegenden Fall wurde das Gähnen, das sie halb hinter ihren langen, schlanken Fingern verbarg, in einen reizvoll geneigten Hals hinuntergeschluckt und endete mit einem entzückend respektlosen kleinen Lacher.
«Entschuldige!»
«Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Sie gähnen sehr nett.» Eine Stimme, ein Akzent, der entschieden nicht Ched gehörte, hatte sie jäh aufblicken lassen. Ched war weg, er stolzierte beleidigt an die Bar. An seiner Stelle stand der «Mischling». Er sah ganz ordentlich und respektierlich aus, und in seiner Stimme hatte genau die richtige Portion Gelächter mitgeklungen, als er sagte: «Ich glaube, ich habe Sie schon irgendwo mal gesehen!»
Ihre Stimme war fast schon ein Theaterflüstern gewesen. «Wie kommen Sie denn hierher?»
«Ganz einfach. Man hat mich eingeladen, damit die Zusammenkunft farbenfroher wird. Sie wissen doch: Das ist Jacinto Madureira, der Brasilianer: Symbol der Harmonie zwischen Nationen, Rassen, Hautfarben und Konfessionen, Sinnbild des Ineinanderfließens von Sprachen, Gedanken und Welten. Übrigens, Miss Ani», er streckte ihr die Hand hin, «es ist hübsch, Sie nach so langer Zeit wiederzusehen!»
Das warme Strömen in ihrem Körper hatte wieder eingesetzt, das Gefühl, das sie damals empfunden hatte, als sie die Freitreppe hinunterstieg. Es war widersinnig. Wußte dieses Mannsbild denn nicht, daß er Exote war? Eben erst hatte er sich so weit überwunden, selbst zuzugeben, daß er nur auf das wohlwollende Geheiß der hier war.
Es schien ihm nichts auszumachen. «Sind Sie mit irgend jemand hier?»
Unglaublich, sie hatte, unnatürlich laut, so daß Köpfe herumfuhren, geantwortet: «Nein, mit niemand.»
«Dann sehe ich keinen Grund, warum wir nicht weggehen. Ich finde, Sie sehen gelangweilt aus, Sie schlafen ja fast im Stehen ein. Wie wäre es mit ein bißchen frischer Luft.»
Durch das offene Fenster hatte ein warmer Wind hereingeblasen und das Zimmer mit dem frischen Geruch von Ozon und nassem Pflaster erfüllt. Annie kam es vor, als hätte außer ihr ihn niemand bemerkt, als hätte er nur ihre Wange gestreift und nur ihr zugeflüstert.
«Wo sollen wir denn hingehen?»
«Ach, ich weiß nicht, einfach ein Stück spazieren. Ich habe kein besonderes Ziel. Finden Sie nicht, daß das gerade das Nette ist, daß man nicht weiß, wohin man geht?»
Sie waren nicht weit gekommen und, wie sich später erwies, auch nirgends hin, wo Annie nicht schon einmal gewesen wäre. Es endete schließlich damit, daß sie in einem altbekannten Studentencafé am Rande des Parks einkehrten. Sie hatte wesentlich mehr Wein getrunken, als sie gewohnt war, und ihr Essen kaum angerührt - und feststellen müssen, daß sie unaufhörlich auf diesen Unbekannten einredete, ihm Dinge erzählte, die sie weder Ched Harrington noch sonst jemand erzählt haben würde, Dinge, die sie sich ausdachte, die ihr plötzlich einfielen. Über Brookhaven, und wie ihr Leben immer schon genauestens festgelegt gewesen war, ihre Kleider, die Parties, zu denen sie ging, die Schulen, die sie besuchte, der Typ Mann, den sie heiraten, das Haus, das sie bewohnen, Anzahl, Gestalt, Haarfarbe und Intelligenzquotient der Kinder, die sie haben würde. Wie sie gemeint hatte, an der Columbia-Universität würde sie die endlich loswerden, und dann einsehen mußte, daß alles nichts nutzte. Ihr bliebe nur übrig, abzugehen und nach Kalifornien zu ziehen, etwas, was in ihren Plänen immer ernsthafter Gestalt annähme.
Während sie sprach, hatten die dreisten, respektlosen Augen des Brasilianers zunächst verblüfft, später lächerlich betroffen geblickt. «Ist das Ihr Ernst,...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.