Zander
Blut.
So viel Blut. Meine Hände sind voll davon, und es dringt nass und klebrig durch meine Schlafanzughose - die Scooby-Doo-Hose mit dem Loch am Knie von der netten Frau mit der komischen Brille bei der Heilsarmee.
Lieber denke ich an sie, an ihre komische Brille, und nicht an das viele Blut.
Es ist überall. Und es kommt immer mehr, immer mehr.
Es hört einfach nicht auf.
Was soll ich nur machen?
Staub tanzt in der Luft. Winzige Partikel wirbeln in den Lichtstreifen, die durch den Spalt zwischen Jalousien und Fensterrahmen ins Hotelzimmer dringen. Meine Sicht ist verschwommen. Mein Hirn erschöpft.
Und benebelt.
Weil Alkohol die Träume, die einfach nicht aufhören wollen, erträglicher macht. Träume, die keine echten Träume mehr sind. Die eingesetzt haben, als ich vor drei Wochen den Karton geöffnet habe und das Stück Papier fand, das meine Welt in ihren Grundfesten erschüttert hat.
Erneut setze ich die Flasche Jameson an und nehme einen tiefen Schluck. Kein Brennen mehr in der Kehle, die Wärme nur flüchtig. Und doch reicht der Alkohol aus, um meinen Verstand zu betäuben. Damit die Träume verblassen.
Damit die Wahrheit in einem anderen Licht erscheint.
Die Pflaster. Hastig klebe ich eins nach dem anderen auf; die Schachtel ist fast leer. Aber sie helfen gar nicht. Das Blut läuft und läuft. Es hört einfach nicht auf.
Was soll ich nur machen?
Noch einen Schluck. Und noch einen.
Ich bin so müde. Aber ich hab's auch so satt. Ich hab's satt, mich fragen zu müssen, ob meine Adoptiveltern Bescheid wussten. Natürlich wussten sie es. Warum mich also anlügen? Hatte ich kein Recht darauf, zu wissen, was in diesem Bericht steht? Sodass ich mich damit hätte auseinandersetzen können? Um es zu verarbeiten?
Verdammt, doch! Verdammt, nein. Ich weiß es einfach nicht.
Noch einen Schluck. Und gleich noch einen hinterher.
Die Schere. Ein silbernes Glänzen an ihrem Hals. Das dunkle Rot, das durch meine Finger quillt, als ich versuche, sie wieder heil zu machen. Ihr zu helfen. Sie zu retten. Das Blut zu stoppen.
Der Geschmack nackter Angst. Mein Wimmern und Flehen. Was soll ich nur machen?
An all das kann ich mich erinnern, warum also nicht daran, ob ich es getan habe oder nicht? Aber offenbar habe ich es. So steht es in dem Bericht. Warum sollte der lügen?
Moment mal. Die Sonne scheint. Ich sehe den Staub tanzen. Es ist Tag? Seit wann denn das?
Ich hebe die Flasche an. Leer. Hole tief Luft. Lasse mich im Sessel zurückfallen. Keine Chance mehr, zu vergessen. Verdammt.
Ich fahre zusammen, als jemand an meine Tür hämmert. Dabei hätte ich damit rechnen müssen. Ich weiß schließlich, dass ich gerade wieder Mist baue. Nur interessiert mich das bei allem, was mich sonst so umtreibt, überhaupt nicht.
Ich weiß, wer draußen steht, noch ehe ich die Stimme höre. War schon klar, dass er irgendwann hier aufkreuzen würde. Und natürlich ist er stinksauer - was sonst?
Soll er doch.
»Zander!« Seine Faust hämmert gegen die Tür und dröhnt wie Donner in meinem Kopf. »Mach auf.« Wieder das Dröhnen. »Mach verdammt noch mal die Tür auf.«
Und als ich schließlich gehorche, ist das Licht im Flur, passend zum Donner, grell wie ein Blitz. Schützend halte ich mir den Unterarm vor die Augen, doch es bringt nicht viel, bis er das Licht mit seinem Körper abschirmt.
Colton. Mein Mentor. Mein Chef. Der Mensch, der mich besser kennt als jeder andere.
Mein Vater. Okay, Adoptivvater, aber spielt das eine Rolle?
Wir sehen einander an. Sein Blick verrät Sorge, aber auch Verärgerung, als er meine verknitterte Kleidung mustert - noch die von gestern - und betont in der Luft schnuppert, um mir klarzumachen, dass er den Schnaps riechen kann, der mir wahrscheinlich aus allen Poren dringt.
Doch. Es spielt eine Rolle.
Lügen spielen eine Rolle. Vor allem, wenn sie von Leuten stammen, die dich angeblich lieben.
»Hast du nicht etwas vergessen?«
Sein Tonfall ist beißend, und ich habe zu viele Promille im Blut, um meine Worte mit Bedacht zu wählen.
»Ich wüsste nicht, was«, antworte ich und will ihm die Tür vor der Nase zuschlagen.
Er rammt seine flache Hand dagegen, und mit einem ohrenbetäubenden Krachen prallt die Tür im Zimmerinneren gegen die Wand. Ich habe seinen Zorn verdient, das weiß ich, aber in meinem trunkenen Zustand fällt es mir schwer, auch nur einen feuchten Kehricht darum zu geben.
Seine Schulter stößt mir gegen die Brust, als er eintritt und das Licht einschaltet, und es kostet mich meine ganze Kraft, nicht die Beherrschung zu verlieren und mit den Fäusten auf ihn einzuprügeln, um Frust, Wut, Unglaube und alles, was sich noch in mir aufgestaut hat, an ihm auszulassen.
All den Kram, den ich selbst zu verantworten habe, aber lieber auf ihn schiebe. Und auf Rylee, meine Adoptivmutter. Auf die ganze verdammte Welt.
Und plötzlich wird mir beinahe übel von meinen eigenen Gedanken. Wie kann ich ausgerechnet den Mann angreifen wollen, dem ich alles verdanke? Und doch tauchen prompt wieder die Bilder auf: das Blut. Die Pflaster. Die Schere.
Meine Mom.
Die Wahrheit, die mein Hirn vor mir verborgen hat.
Die Wahrheit, die es vor mir hat verbergen wollen.
Die Fäuste geballt und am ganzen Körper bebend, bleibe ich stehen, wo ich bin, und kämpfe den Zorn zurück, der seit ein paar Wochen in mir tobt, ohne ein Ventil zu finden.
»Weißt du, was ich nicht kapiere?«, fragt er wie beiläufig, als er die leere Whiskeyflasche vom Boden aufhebt und mit einem kleinen, freudlosen Lachen auf das unberührte Bett wirft. »Warum?«
Eine echte Fangfrage. Die so viel Ballast mit sich bringt, dass ich gar nicht erst anfangen will, es ihm zu erklären. Obwohl es mich in den Fingern juckt. Ich weiß nur nicht, ob ich mit dem, was ich damit auslöse, umgehen kann.
Also antworte ich nicht. Die Frage hängt in der abgestandenen Luft des Hotelzimmers, und die Stille lastet auf mir, während er sich umsieht. Nach ein paar Sekunden begegnet er meinem Blick erneut. »Warum?«, wiederholt er die Frage. Und ich beschließe, auch weiterhin das Arschloch zu geben. Das ist so viel einfacher, als laut auszusprechen, was ich selbst noch immer nicht glauben will.
»Warum was?«, kontere ich mit vor Sarkasmus triefender Stimme, die impliziert, dass es ihn einen Dreck angeht.
»Das hier ist kein Witz, Junge.« Er zieht missbilligend eine Augenbraue hoch und schüttelt wieder den Kopf.
Seine Enttäuschung ist auch etwas, womit ich mich nicht auseinandersetzen will. Fragen steigen in mir auf. Schwären wie eine Wunde. Brennen sich in mich, bis ich die Bitterkeit nicht mehr unterdrücken kann.
»Schon klar. In letzter Zeit bin der Witz ja ich.« Der Autopsiebericht blitzt erneut vor meinem geistigen Auge auf und schürt meinen Zorn noch.
Seine Augen werden schmal. Meine Feindseligkeit muss ihm wehtun. »Damit hast du verdammt noch mal recht«, sagt er schließlich.
Erst jetzt nehme ich sein T-Shirt und die Trainingshose wahr. Es ist sein Glücksoutfit, das er gewöhnlich unter dem Rennanzug trägt.
Und endlich kapiere ich auch, dass ich tatsächlich Mist gebaut habe - und wie! Es ist Tag. Ich sollte ganz woanders sein und etwas anderes tun, als mich bis zur Bewusstlosigkeit zu betrinken.
Er sieht mir offenbar an, dass es mir dämmert. »Ah. Dir ist es also entfallen? Die Trainingsfahrt für die letzten Anpassungen? Oder ist dir vielleicht sogar das komplette Rennen morgen entfallen? Na ja, nach dem gestrigen Abend würde ich an deiner Stelle auch am liebsten alles vergessen, was mich an Alabama erinnert.«
Bei seiner letzten Bemerkung blitzen Erinnerungen auf: laute Musik, die fette Rechnung aus dem VIP-Bereich der Bar, Groupies, die etwas von mir wollen. Alle wollen was von mir.
Viele Hände, Gedränge, ein Handgemenge. Alle schubsen und schieben.
Genug!
Smitty, der mich zurückhält, meine Arme mit eisernem Griff umklammert. Aber wieso? Was zum Henker ist geschehen? Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass er mich hier abgesetzt hat. Im Hotel. Meinem Zuhause für diese Woche.
»Ich hab einfach ein bisschen Spaß gehabt«, sage ich verächtlich, um die Lücken in meiner Erinnerung zu überspielen. »Was geht dich das an?«
Mit einem Satz ist er bei mir und drückt mich gegen die Wand. Er ist schnell. Das hätte ich nicht erwartet, aber bisher hatte ich ihn auch noch nie herausgefordert.
Wir starren einander an - Vater und Sohn, Mentor und Schützling, Chef und Angestellter, und doch nur zwei Männer -, und einen Moment lang erkenne ich in seinem Blick, wie sehr ich ihn gekränkt habe.
»Was es mich angeht? Was es mich angeht?«, knurrt er und wird mit jedem Wort lauter. »Wo genau soll ich anfangen? Zu Hause zu spät zum Training zu kommen ist eine Sache, Zander. Aber deine Sponsoren lächerlich zu machen, indem du sie bei dem aufwendigen Abendessen, das sie nur für dich organisiert haben, einfach versetzt, um nebenan in der Bar zu sitzen und so laut zu lachen, dass sie dich hören können, ist unverzeihlich! Und dann der endlose Strom mehr als fragwürdiger Frauen, mit denen du dich überall blicken lässt - Herrgott,...