Schweitzer Fachinformationen
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Mein Vater tanzt ausgelassen, beinahe ekstatisch. So habe ich ihn noch nie erlebt, immer wieder fordert er neue Frauen auf, die Braut, die Brautmutter oder die Freundin des jüngeren Bruders des Bräutigams, er tanzt wie ein Derwisch, wirft sich voll hinein, singt mit bei den Refrains der Lieder, ganz gleich, ob er die Cover-Songs kennt oder nicht, Beatles, Stones, Elvis, aber auch neuere Sachen, die der dunkelhaarige, Mitte vierzigjährige Alleinunterhalter hinter dem Keyboard spielt, Michael Jackson, a-ha und frühe Eurodance-Nummern, die ich aus dem Radio oder von Mittelstufenpartys kenne, Right Said Freds Don't Talk Just Kiss, eine Keyboardpolkaversion von Please Don't Go von Double You, Don't goo-ohohoho, don't go away, singt mein Mitte sechzigjähriger, vollbärtiger, glatzköpfiger, mir damals schon eher klein vorkommender Vater, deutlich übergewichtig, vermutlich rund fünfundneunzig oder achtundneunzig Kilo schwer bei einem Meter siebzig Körpergröße, während er eine ungefähr gleich alte Frau mit Perlenkette herumwirbelt. Wenn er mit meiner Mutter auf Festen ist, beginnt er immer, mit ihr zu tanzen, fordert sie auf, meine Mutter lässt sich mit gequältem Blick darauf ein, für einen, maximal zwei Walzer, man kann sehen, wie schlecht sie auf der Tanzfläche harmonieren, und mein Vater lässt dann auch bald wieder ab vom Tanzen, nicht aber an diesem Abend. Keiner der anderen Gäste tanzt so wild. Betrunken kenne ich meinen Vater nur dumpf versunken am Tischende sitzend, oft auch dann, wenn meine Eltern Gäste haben, oder konträr dazu, aber das nur im engen Familienkreis, verbal leicht übergriffig, seine Sprache ebenso verschlurt wie seine nach außen gekehrte, unspezifische, übertriebene Emotionalität, bis hin zu der offenen Aggressivität seiner in meiner frühen Kindheit etwa halbjährlichen, den ganzen Abend und die halbe Nacht andauernden Wutanfälle. Es befremdet mich, meinen Vater hier so rauschhaft ausgelassen zu erleben, und ebenso befremdet mich, dass alle Menschen in dieser uns beiden fast völlig unbekannten Umgebung so ungebrochen positiv darauf reagieren - seine Rauschzustände werden in der Familie immer mit kollektiver Verachtung und gleichzeitig mit Angst hingenommen, etwas, was man ertragen und überstehen muss wie einen Sturzregen auf einer Wanderung, morgen ist es vorbei. Hier auf der Hochzeit kommentieren die Söhne des Schulfreundes meines Vaters seine alkoholisierte Beschwingtheit geradezu bewundernd, schön, dass Onkel August so viel Spaß hat, sagen sie völlig ironiefrei. Wir sind auf der Hochzeit seines einzigen Patenkindes, des Sohns eines Schulfreundes. Es ist eine der ganz wenigen Reisen, die ich mit ihm zu zweit mache, nach F., südlich von Köln. Der Schulfreund meines Vaters hat dort ein Taxiunternehmen, seine Söhne sind beide als Fahrer angestellt, die Familie leistet sich privat einen kleinen rot-schwarzen Alfa Romeo und einen grazilen fuchsroten Windhund, der in Schönheitswettbewerben Preise ergattert, sie besuchen uns einmal etwa zwei Jahre zuvor zusammen mit dem Hund in Flensburg. Mein Vater und ich essen auf der Hinfahrt zu der Hochzeit gemeinsam im ansonsten leeren Speisewagen des Intercityzuges, es ist das erste Mal, dass ich überhaupt in einem Speisewagen sitze, wir bestellen zwei Teller Erbsensuppe, aber die Kellnerin rät uns von der Suppe ab, die sei sauer, sagt sie und verzieht leicht das Gesicht. Wir bleiben drei Nächte in F., tauchen ein in den Taxifahrerkosmos, gehen am Vorabend der Hochzeit essen, meine Eltern gehen nie mit uns essen, außer auf Reisen.
-?Wollt ihr zum Griechen, zum Italiener oder zum Chinesen?, fragt uns einer der Söhne des Schulfreundes meines Vaters.
Ich bin beeindruckt von so viel Kosmopolitismus, der Klarheit dieser Lebensform - der wunderschöne, nie einen Laut von sich gebende, melancholische Windhund, Auto fahren, essen gehen, Manschettenknöpfe, gestärkte Oberhemden, all das scheint mir irgendwie beneidenswert, am Nachmittag vor dem Hochzeitstag werde ich Kaffee kaufen geschickt, in den um die Ecke liegenden Supermarkt, ein Pfund Dallmayr prodomo, dieser Markenname klingt für mich wie eine märchenhaft fremde Losung, ich muss zweimal nachfragen, ehe ich verstehe, um was es sich dabei überhaupt handelt, und mir die seltsame Formel einprägen kann, bei uns zu Hause gibt es ausschließlich Albrecht Gold Kaffee. Außerdem darf ich auf dem Amiga des älteren Sohnes stundenlang Computer spielen, auch im Haus meiner Eltern gibt es Rechner, einen Commodore 64 mit Floppy-Disk-Laufwerk, einen Atari und einen 286er, den sich meine älteste Schwester, Sigrid, Mitte der Achtziger vom Preisgeld eines Bundesschülerwettbewerbs kauft, das sie für ihre Facharbeit in Chemie erhält, aber für alle diese Rechner gibt es bei uns im Haus so gut wie keine Spielesoftware - hier darf ich am Vorabend des Festes bis tief in die Nacht hinein Ports of Call spielen und Frachtschiffe in alle Überseehäfen der Welt dirigieren. Auf dem Fest dann trinke ich erst Wein und später Bacardi Cola, es ist das erste Mal, dass ich überhaupt in Anwesenheit meines Vaters Alkohol trinke, er selbst trinkt sehr viel, wie bei ihm damals bei solchen Gelegenheiten, aber durchaus auch an normalen Wochentagen üblich, ich hingegen kippe verstohlen, als das Tanzen schon im Gange ist oder die Braut gerade entführt wird, oder ist es irgendein anderes Hochzeitsspiel, die Tische stehen überwiegend verwaist da, jedenfalls kippe ich nach und nach verstohlen Reste aus den noch herumstehenden Weingläsern in mich hinein, während ich im Verlauf des Essens allen mir angebotenen Wein neben meinem Vater sitzend strikt abgelehnt habe.
-?Ich trinke keinen Alkohol!, sage ich.
Später lungere ich dann bei der Bar herum, bis mich die Braut fragt, ob ich noch etwas möchte, ich könne an der Bar alles bestellen, woraufhin ich mich für ein unverräterisches Mixgetränk entscheide und so also zu meiner ersten Rum Cola komme.
Und dann, am letzten Abend in unserem Ferienhaus in D., ich mache über einige Tage hinweg Interviews mit meinem Vater, die Kinder schlafen, meine Mutter ist ebenfalls schon ins Bett gegangen, ich habe eigentlich nicht mehr damit gerechnet, dass mein Vater und ich noch weitersprechen, gießt mein Vater mir und sich selbst noch etwas Rotwein ein und bringt seinen Ahnenpass an den Tisch, jenes Dokument, das 1943 für ihn angefertigt wird und seine, wie es damals heißt, arische Abstammung nachweisen soll, wegen seines Eintritts als Zehnjähriger in die Nationalpolitische Erziehungsanstalt in Stuhm. Ein halbes Jahr zuvor erzählt er mir vollkommen aus dem Nichts, dass er eine jüdische Großmutter habe, wir sitzen in Berlin im Auto, ich bringe meine Eltern zum Bahnhof, wir haben den Tag über den ersten Geburtstag unserer Tochter Anouk gefeiert und das Fest zum Anlass genommen, Judiths und meine Eltern miteinander bekannt zu machen, der Tag im Garten verläuft entspannt, es gibt Kaffee und Kuchen, Geschenke für Anouk, die Kinder laufen herum und genießen sichtlich, dass alle vier Großeltern gleichzeitig da sind, wir zupfen Unkraut, pflanzen zwei Blumen ein, Peter, Judiths Vater, erklärt mir, wie ich die drei Rosenstöcke, die noch von unserem Vorgänger im Garten stehen, im Frühjahr zurückschneiden könne, gegen sechzehn Uhr breche ich mit meinen Eltern auf, sie wollen nach S., am nächsten Tag wird dort ein anderes Enkelkind von ihnen eingeschult, der älteste Sohn meiner Schwester Uta, und mein Vater fängt also im Auto sitzend plötzlich an, in einem stockenden, beinahe beichtenden Tonfall zu erklären, dass seine Großmutter eine geborene Salamon gewesen sei.
Vor dem Fenster der Baum, an den Enden der Zweige die blassgrünen Knospen, darunter jeweils die abgestorbenen, aber noch nicht herabgerieselten Riste der Ahornsamen des Vorjahres, trocken und brüchig, hinter dem Baum die Brücke über den Landwehrkanal mit einer Handvoll Touristen, die den Sonnenuntergang betrachten, jenseits des Kanals in der Glogauer Straße die sich über den Asphalt beugenden Straßenlaternen, das noch schwach grünliche Neonlicht der gerade erst aufglühenden Leuchtkörper, die blattlose Krone des Baumes scheint greifbar nah, am Fenster stehend beim Blick nach unten die zum Stamm hin zusammenlaufenden Äste und unter der braunen, von Pflaster- und Kantsteinen eingefassten Baumscheibe, die reichen muss, den Baum mit Regenwasser zu versorgen, ...
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