Schweitzer Fachinformationen
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Clare
1911
Die Farben in Frankreich waren vollkommen verkehrt.
Ich war an das schottische Grau gewöhnt. Die Granitblöcke von Fairbridge, den bleiernen Himmel, den dunstigen Regen, die schnurgeraden Steinmauern, die die Felder voneinander trennten. Und Vaters stählernen Blick.
Natürlich war Schottland nicht nur grau. Im Sommer trugen die Hügel von Perthshire ein gedämpftes Grün, im Frühling waren sie mit gelbbraunem Ginster gesprenkelt und im Herbst einfach braun. Doch alles war mit Grau überzogen. Diese Farbe war mir am vertrautesten.
In letzter Zeit sah ich jedoch vor allem Schwarz. Es hing über dem Knauf der Haustür, säumte meine Taschentücher, hing als bescheidene Reihe neuer Kleider in meinem Schrank. Sechs Wochen Trauer. Sechs Wochen lang mitfühlende Blicke, blasse wächserne Lilien, flüsternde Unterredungen, was nun aus mir werden solle. Doch dann rauschte Madame Crépet ins Haus, nach Veilchen duftend und in einem Kleid, das die Farbe von Honigwaben hatte, und schickte sich an, alles zu richten. Die Hausangestellten überließen mich ihr nur allzu gerne. Sie wussten ohnehin nicht, was sie mit mir anfangen sollten. Und sobald Madame meine neuen schwarzen Kleider eingepackt hatte, brachen wir nach Frankreich auf.
Frankreich war von Anfang an zu leuchtend. Vom Blaugrün des Kanals, der bei Calais ans Ufer schwappte, über Häuser mit orangefarbenen Dächern und gelben Rapsfeldern bis hin zu einem Château, das sich weiß aus einer smaragdgrünen Wiese erhob. Ein Automobil brachte uns über eine Auffahrt von der Farbe gebrannter Siena, vorbei an golden blühenden Linden und Veilchentupfen im Gras. Madame Crépet beugte sich zu mir und sagte: »Willkommen in Mille Mots, Clare.«
Die Leute, die vor dem Haus warteten, waren auch nicht anders. Zwei junge Hausmädchen, die grün geblümte Kleider statt dunkel Grobgestricktes trugen. Der Butler hatte einen herabhängenden orangefarbenen Schnurrbart. Um den Kopf der Köchin war ein Paisley-Tuch gebunden. Ich hörte das französische Stimmengewirr und fürchtete mich auf einmal, aus dem Wagen zu steigen.
Doch dann ergriff Madame Crépet meine Hand. »Dies hier ist dein Zuhause, solange du es brauchst, ma chère.« Ihre Worte ließen einen Kloß in meiner Kehle wachsen, den ich mühsam hinunterschluckte. Sie nahm die Decke vom Schoß. »Bist du bereit?«
War ich das? Ich wusste es nicht. Noch vor einer Woche war ich in Fairbridge gewesen, im selben Winkel Schottlands, wo ich die vergangenen fünfzehn Jahre verbracht hatte. Als ich mit Madame Crépet aufbrach, hatte ich an ein Abenteuer geglaubt. Ich hatte vergessen, dass artige Mädchen aus gutem Hause keine Abenteuer erleben durften.
Mein Kopf schmerzte vor lauter Farben und Licht und fremd klingenden Worten, denen meine Ohren angestrengt lauschten. Es roch nach Rosen - üppig und träge. War es nicht zu früh dafür? Ein Mann, dessen Weste blau gefleckt war wie ein Rabenei, näherte sich dem Wagen. Er lächelte breit und öffnete die Arme.
»Kann das denn die petite princesse sein? Ich weiß noch, wie du mir bis an die Knie reichtest und uns alle mit deinem Lächeln verzaubert hast.« Er sprach ganz selbstverständlich Englisch, und durch seinen französischen Akzent schimmerte dann und wann ein wenig Glasgow hindurch. »Kannst du dich nicht an mich erinnern?«
Die Frage war nicht fair. Aus der Zeit, in der ich ihm bis an die Knie gereicht hatte, war mir außer dem Kinderzimmer nicht viel in Erinnerung geblieben. Ich stieg aus dem Wagen und lugte unter der Hutkrempe hervor auf den Mann. Er hatte einen weichen braunen Bart, der ihm bis über die Krawatte reichte, und seine Augen waren dunkel wie Rosinen. Vielleicht erinnerte ich mich doch an ihn.
»Sind Sie Monsieur Crépet?«
Sein Grinsen wurde breiter. »Oui!« Er ergriff meine Hände. »Willkommen in meiner Picardie, Mademoiselle.« Er beugte sich vor und drückte mir einen kitzelnden Kuss auf beide Wangen. Vater hatte immer nach Rowlands Makassar-Öl gerochen und leicht holzig wie die Späne eines Bleistifts, doch bei Monsieur Crépet roch ich Kaffee und Knoblauch, Terpentin und Tabak. Seine Krawatte war mit grüner und gelber Farbe bespritzt.
»Ihre Picardie?«
Madame Crépet hakte ihren Mann unter. »Cher Claude, er würde am liebsten die schönsten Teile Frankreichs ganz für sich beanspruchen.«
»Nur lange genug, um sie zu malen.« Er küsste ihren Handrücken, worauf sie wie ein Schulmädchen errötete.
»Und morgen lernst du den noch fehlenden Teil unserer Familie kennen. Unser petit Luc kommt von der Universität nach Hause. An ihn kannst du dich vermutlich auch nicht erinnern.«
Madame war uns jedes Frühjahr in Perthshire besuchen gekommen und hatte zwei Wochen lang die mit rosafarbenem Moiré ausgestattete Gästesuite in Fairbridge bewohnt. Nur einmal, erinnerte ich mich, war ihre Familie mitgereist. Ich hatte ganz vergessen, dass sie einen Sohn hatte.
Eine gefleckte Katze strich aus der offenen Haustür, dicht gefolgt von einem Hund. Die beiden schossen zwischen unseren Beinen hindurch, bevor sie über den Rasen jagten. Ein Hausmädchen schrie auf und sprang beiseite, Madame lachte, und der Butler ließ seine Brille fallen, wobei er etwas ausstieß, das gewiss ein französischer Fluch war.
Auf einmal fühlte ich mich erschöpft. Hier war alles zu hell, zu laut, zu anders. Ich drückte die Hände gegen den kratzigen Krepp meines Rocks. Vor diesem schmerzhaft weißen Château war ich der einzige schwarze Fleck.
Das Schlafzimmer war in einem stillen, verblichenen Blau gehalten.
Es befand sich ganz oben in einem Turm. Runde Steinmauern mit schlaffen Wandteppichen, die aussahen, als hingen sie seit der Zeit von Ludwig XVI. dort; staubige Idyllen mit Schafen und Jungen und übertrieben gekleideten Schäferinnen. Mitten im Raum thronte ein schweres altes Himmelbett mit azurblauen Vorhängen. Es hing in der Mitte durch und war mit Spitze und zu vielen Kissen überhäuft, aber sauber. Ich ließ meinen Koffer darauf fallen und wünschte, ich wäre allein.
Doch die Crépets ließen sich Zeit. Madame jammerte wegen des Handtuchs am Waschtisch, der nicht zur Waschschüssel passte, und Monsieur rückte die schiefen Wandteppiche zurecht.
»Ich schicke Yvette, damit sie deinen Koffer auspackt.«
Monsieur Crépet ließ den Wandteppich los. »Rowena, ich glaube, das Kind möchte sich ausruhen.«
»Gewiss doch, gewiss.« Sie rieb die Hände aneinander. »Und das Abendessen . Soll ich dir ein Tablett hochschicken?«
Ich nickte. »Vielen Dank.«
Bevor sie das Zimmer verließen, hielt Madame auf der Schwelle inne. »Ich hoffe, du wirst Mille Mots so lange wie nötig als dein Heim betrachten, mein Kind. Deine Eltern waren liebe Freunde von uns, und wir trauern mit dir.«
»Vielen Dank, aber ich bleibe nur, bis sie meine Mutter gefunden haben.«
Madame und Monsieur wechselten einen Blick, so, wie Erwachsene seit sechs Wochen über meinen Kopf hinweg Blicke wechselten.
»Vater hat immer gesagt, sie werde für mich zurückkommen.« Da war er wieder, der Kloß in meiner Kehle, den ich seit dem Abend spürte, an dem er gestorben war.
Madame zögerte, und so war es Monsieur, der schließlich sagte: »Das wird sie sicher.«
Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, warf ich mich aufs Bett und weinte.
Als ich später aufwachte, taten mir die Augen weh. Die Kerze auf dem Nachttisch war fast heruntergebrannt, daneben stand ein Tablett mit dem Abendessen. Ich rieb mir mit einem verknitterten Ärmel über die Augen und zog mich vom Bett hoch. Auf dem Tablett befanden sich einige Scheiben kalte gebratene Ente, die mit Kräutern und schwarzem Pfeffer gewürzt war, ein Stück knuspriges Brot und ein weicher, streng riechender Käse. Miss May, meine Gouvernante, hatte immer gesagt, dass Pfeffer den Körper zu sehr errege. Ich riss das Brot in kleine Stücke und ließ den Rest liegen.
Ich trat kauend ans Fenster und stieß es auf. Wie spät mochte es sein? Der mit Sternen gesprenkelte Himmel war so schwarz wie in Schottland. Vielleicht war Frankreich doch nicht so anders. Im Dunkeln wirkte es weniger einschüchternd.
Nachdem Mutter weggegangen war, hatte ich mich oft aus meinem Schlafzimmer aufs Dach von Fairbridge geschlichen, um mir den nächtlichen Himmel anzusehen. Dann fragte ich mich, wo sie sein mochte. Eines Abends entdeckte ich meinen Vater, als ich auf dem Dach war.
Er trug eine ausgebeulte Strickjacke und Pantoffeln, seine Haare waren ungekämmt. Er beugte sich aus seinem Fenster, die Augen auf den dunklen Himmel gerichtet, so, wie auch ich es jede Nacht tat. Ich wollte schon in mein Zimmer zurückschleichen, doch er fragte, ohne den Kopf zu drehen: »Kennst du die Sternbilder?«
Ich blieb, wo ich war, die Knie unter meinem Nachthemd hochgezogen. »Nein, Sir.«
Er holte tief Luft. »Das da drüben ist Pegasus.« Er deutete auf eine schwache Ansammlung von Sternen. »Siehst du? Dort sind die Vorderbeine. Das Rechteck ist sein Körper. Und ein Stück darüber erkennst du Hals und Kopf.« Er fuhr die Umrisse mit dem Finger nach. Ich konnte sie nicht erkennen, vertraute aber darauf, dass sie da waren.
Ich rutschte näher heran. »Was sonst noch?«
»Neben Pegasus ist Perseus mit seinem Schwert. Dort und dort.«
Ich wollte nicht, dass er hineinging und das leise Gespräch beendete, denn wir hatten seit langer Zeit nicht richtig miteinander gesprochen. »Mir gefallen die...
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