1. Die Versammlung oder Gemeinde
"Siehe, wie gut und wie lieblich ist es, wenn Brüder einträchtig beieinander wohnen! Wie das köstliche Öl auf dem Haupte, das herabfließt auf den Bart, auf den Bart Aarons, das herabfließt auf den Saum seiner Kleider; wie der Tau des Hermon, der herabfällt auf die Berge Zions. Denn dort hat Jehova den Segen verordnet, Leben bis in Ewigkeit" (Psalm 133).
Das Wort "ekklesia" im Neuen Testament
Es darf heute als allgemein bekannt vorausgesetzt werden, daß das Wort "Versammlung" oder "Gemeinde" die Übersetzung des griechischen Wortes ekklesia ist. Dieses, von dem Zeitwort ekkalein = herausrufen, berufen gebildet, bezeichnet zunächst eine Versammlung von Leuten, welche in den griechischen Städten Bürgerrecht hatten, gegenüber solchen Einwohnern, die desselben ermangelten und paroikoi genannt wurden.[1] Vergl. Apostelgeschichte 19,39: "Wenn ihr aber wegen anderer Dinge ein Gesuch habt, so wird es in der gesetzlichen Versammlung erledigt werden". Weiterhin bezeichnet es eine Volksversammlung im allgemeinen Sinne, eine zusammengeströmte Volksmenge: "Und als er dies gesagt hatte, entließ er die Versammlung" (V. 41; so auch V. 32). Dann wird die Gemeinde Israels in der Wüste ekklesia genannt (Apg 7,38). Und schließlich wird das Wort angewandt auf die Versammlung der aus Juden und Heiden berufenen Gläubigen (oder Heiligen; 1. Kor 14,33), sowohl in allgemeiner, alle Gläubigen umfassender Bedeutung, als auch in begrenztem Sinne nur die Gläubigen an irgendeinem Orte bezeichnend. Zuweilen liest man auch von einer Versammlung in irgendeinem Hause, wie z.B. in 1. Korinther 16,19: "Es grüßen euch ... Aquila und Priscilla, samt der Versammlung in ihrem Hause" (vgl. Röm 16,5; Kol 4,15; Phlm 2). Aber daraus geht keineswegs hervor, daß in den Häusern der an den verschiedenen Stellen genannten Gläubigen besondere, selbständige Versammlungen bestanden hätten. Im Gegenteil schreibt der Apostel "der Versammlung Gottes, die in Korinth ist", "der Versammlung der Thessalonicher"; er redet von "der Versammlung der Laodicäer" und von "der Dienerin der Versammlung in Kenchreä". Lukas redet in der Apostelgeschichte immer wieder von "der Versammlung in Jerusalem", obwohl schon bald die Zahl der Gläubigen dort auf viele Tausende anwuchs und deshalb wohl niemals an dem nämlichen Orte versammelt sein konnte, von "der Versammlung in Antiochien, in Ephesus" (vgl. Kap. 2,47; 13,1; 14,27; 15,3.4; 18,22; 20,17).
Die Einheit der Versammlung an einem Ort
Von mehreren, nebeneinander bestehenden Versammlungen an einem Orte weiß die Schrift nichts. Wohl aber werden die Gläubigen eines Ortes, wenn die wachsende Zahl es nötig machte, in mehreren Häusern zusammengekommen sein, oder auch, durch mancherlei Umstände, Verfolgungen usw. gezwungen, ihre Versammlungsstätten häufig gewechselt haben. Doch dadurch wurde nichts an der Einheitlichkeit des ganzen an einem Orte durch die Gnade Gottes errichteten Zeugnisses geändert. Auch wurde, wenn es sich um außergewöhnliche Angelegenheiten, ernste Entscheidungen und dergleichen handelte, die ganze Versammlung zusammengebracht. (Apg 14,27; 15,22; vgl. auch 1. Kor 14,23).
So war es im Anfang, und so entsprach es den Gedanken Gottes. Er selbst tat, wie wir in Apostelgeschichte 2,47 lesen, in Jerusalem täglich "zu der Versammlung" hinzu, die gerettet werden sollten. Von der Errichtung mehrerer Versammlungen oder Gemeinden an einem Orte finden wir, wie gesagt, nirgendwo eine Spur. Steht das Wort in der Mehrzahl, so sind immer entweder alle Versammlungen oder diejenigen einer Provinz, eines Landes usw. gemeint. (So z.B. Apg 9,31; 15,41; 16,5; Röm 16,4.16; 1. Kor 7,17; 11,16 u.a.St.) Wenn man, um das Bestehen verschiedener christlicher Körperschaften oder Gemeinschaften an einem Ort zu rechtfertigen, zu beweisen sucht, es sei im Anfang der Geschichte der Kirche auch schon so gewesen, so kann man nur sagen, daß der Wunsch der Vater des Gedankens ist. Man will es so, darum ist es so.
Andererseits bedarf es kaum einer Erwähnung, daß es nicht nur eine große Anmaßung, sondern auch eine völlige Verdrehung der Wahrheit sein würde, wenn irgendeine Gemeinschaft von Gläubigen, mag ihre Zahl groß oder klein sein, sich den Namen "die Versammlung" oder "die Gemeinde" beilegen wollte. Sie würde damit ja alle übrigen Gläubigen als nicht zur Versammlung oder Gemeinde gehörend ausschließen. Nein, die Versammlung im weiteren Sinne besteht aus allen wahren Gläubigen auf der ganzen Erde, und die Versammlung im begrenzten örtlichen Sinne aus allen wahren Gläubigen an dem betreffenden Orte, mögen sie stehen und sich nennen, wie sie wollen, ja mögen sie in noch so viele größere oder kleinere Körperschaften und Benennungen zerteilt sein. Nach Gottes Wort und Gedanken gibt es an einem Orte nur eine Versammlung, nur eine Gemeinde, und wir sollten doch bemüht sein, mit Gottes Gedanken zu denken, und alle eigenen Gedanken und Meinungen fahren lassen.
Trennungen in der geschichtlichen Entwicklung
Aus der durch die Untreue des Menschen entstandenen Verwirrung und aus jenen eigenen Gedanken und Meinungen heraus kommen alle solche Fragen wie: "Wie nennst du dich?" - "Wozu gehörst du?" - "Wo hast du dich angeschlossen?" usw. Niemand wird behaupten wollen, daß in der Zeit der Apostel irgendein Christ den anderen so gefragt haben könne. Nun, wenn es damals nicht richtig war, so zu fragen, kann es dann heute richtig sein? Ganz gewiß nicht, oder man müßte die sogenannte "geschichtliche Entwicklung" der christlichen Kirche betrachten als von Gott gewollt und von Ihm anerkannt. Wenn man das nicht tut - und welcher einfältige, dem Wort und Willen Gottes unterworfene Christ könnte es? - kann man die vielen verschiedenartigen Körperschaften nicht als Gott wohlgefällig anerkennen.
Aber, fragt man, sind denn nicht reiche Segensströme von vielen dieser Gemeinschaften nach nahe und fern hin ausgeflossen? Haben nicht treue, wackere Gottesmänner an ihrer Spitze gestanden, oder stehen heute noch da? Haben nicht viele ihrer Glieder bis aufs Blut gelitten und gestritten für ihren Herrn? Werden sie nicht reichen Lohn empfangen für ihre Treue bis in den Tod, für ihren Fleiß, ihre Liebe, ihr Ausharren? Wieder antworten wir: Ganz gewiß! Wer könnte, wer wollte das in Frage stellen? Wer es verkleinern oder neidisch gar leugnen? Aber so laut die genannten Dinge Zeugnis geben mögen von der richtigen Herzensstellung jener treuen Männer zu Jesu, ihrem Herrn, beweisen sie doch nichts für die Richtigkeit ihrer Stellung zu ihren Mitgläubigen oder, besser gesagt, von dem Erfassen und Verwirklichen der Gedanken Gottes über "Christum und die Versammlung", die Sein Leib ist, in welchem keine Spaltung sein sollte (1. Kor 12,25). Man mag demgegenüber einwenden: Die Trennungen und Spaltungen sind einmal da, man kann sie nicht mehr hinwegschaffen, man muß sich darum, so gut oder so schlecht es gehen mag, mit ihnen abfinden; andere mögen sie sogar zu entschuldigen oder selbst zu rechtfertigen und als nützlich und segenbringend hinzustellen suchen - aber ein zartes Gewissen, das in allem den Willen des Herrn zu tun bereit ist, wird sich dabei nicht beruhigen können.
Man sagt auch oft: Der Herzenszustand eines Gläubigen ist viel wichtiger als seine äußere christliche Stellung, seine Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit zu irgendeiner religiösen Körperschaft. Aber ohne die Grade der Wichtigkeit dieser beiden Dinge gegeneinander abwägen zu wollen, ist das Wort des Herrn doch jedenfalls auch in dieser Hinsicht wahr: "dies hättet ihr tun und jenes nicht lassen sollen." Falsch ist es jedenfalls, das eine auf Kosten des anderen abzuschwächen.
Das schriftgemäße Heilmittel
Aber um auf die oben angeführten Fragen zurückzukommen, ist es allerdings, nachdem einmal die große Verwirrung eingetreten ist, bei dem besten Willen oft schwer, sich richtig auszudrücken, um so schwerer, weil der Gedanke, irgendeiner religiösen Körperschaft angehören, "Anhänger" irgendeines Mannes, eines Lehrsystems oder eines Bekenntnisses sein zu müssen, den meisten Christen (echten und unechten) so in Fleisch und Blut übergegangen ist, daß sie sich eine andere Möglichkeit gar nicht denken können. "Das Kind muß doch einen Namen haben!" sagt man. So redet man sogar von "Anhängern der Versammlung" oder der "Versammlungen"! Nun ist es ganz gewiß wahr, daß Gott nicht will, daß Seine Kinder ein jedes für sich allein stehen. Im Gegenteil, wir sind ermahnt, Gemeinschaft miteinander zu pflegen und unser Zusammenkommen nicht zu versäumen. Christus ist gestorben, "auf daß Er die zerstreuten Kinder Gottes in eins versammelte" (Joh 11,52). Aber wird jener Ermahnung oder dieser Liebesabsicht des Herrn in Seinem Tode dadurch entsprochen, daß man je nach Belieben oder vermeintlichem Bedürfnis selbständige, unabhängige Gemeinden mit Namen, Glaubensbekenntnis und eigener Verfassung gründet? Oder wird dadurch etwas gebessert, daß man diese Gemeinden "biblische Gemeinde" nennt? Sind sie wirklich biblisch? In dem vorliegenden Sinne gewiß nicht. Denn wenn Christus gestorben ist, um die zerstreuten Kinder Gottes in eins zu versammeln, kann es nicht biblisch sein, wenn die Kinder Gottes an einem und demselben Orte sich in zehn, zwölf oder gar noch mehr Gruppen mit verschiedenen Benennungen, Bekenntnissen usw. aufgelöst haben. Wo ist da die Einheit, von welcher in Johannes 17,21 die Rede ist, infolge derer die Welt glauben soll, daß der Vater den Sohn gesandt hat? Die Einheit, von welcher der Herr sagt: "gleichwie du, Vater, in mir und ich in dir"?
Indem ich dies schreibe, denke ich keineswegs daran, die Schuld an diesem traurigen Zustand...