Schweitzer Fachinformationen
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Nicht lange vor Floras Flug hatte Liebe sich in Venedig materialisiert, einer Stadt, die durch die Tatsache, dass sie zum Untergang verdammt war, nur noch an Schönheit gewann. Er stand auf dem Markusplatz vor einer kunstvoll verzierten Kirche, benannt nach dem Jünger, der nach Jesu Gefangenname nackt aus dem Garten Gethsemane geflüchtet war. Die Gebeine des heiligen Markus waren in einem Fass mit gepökeltem Schweinefleisch in die Kirche geschmuggelt worden - eine seltsame Art, das Gedenken an einen Mann am Leben zu halten. Doch was war die Menschheit schließlich, wenn nicht zutiefst seltsam?
Aus ebensolchen menschlichen Knochen hatten sie die Würfel für ihr Spiel gefertigt. Zwei Stück, handgeschnitzt und makellos glatt geschliffen, die Augen eine weinrote Mischung aus Liebes Blut und Tods Tränen. Liebe trug sie immerzu bei sich. Auch jetzt klapperten sie in seiner Tasche, während er auf den Campanile zuging, dessen Glocken geläutet wurden, um Politiker zu Sitzungen zusammenzurufen, die Mittagszeit zu verkünden oder auch um Hinrichtungen bekanntzugeben.
Gerade schlug es Mittag, als er vorbeikam und seine Schritte auf dem Steinboden einen Schwarm Tauben aufscheuchten. Gurrend und flügelschlagend stoben sie in den silbernen Himmel auf.
Liebe verbrachte einen angenehmen, wenn auch kühlen Nachmittag im nebelverhangenen Labyrinth der Gassen um die Accademia, halb in der Erwartung, jeden Moment seine Gegenspielerin hinter der nächsten Ecke auftauchen zu sehen. Bei einem Hutmacher kaufte er eine handgefertigte Melone und setzte seinen alten Hut einem dünnen Romajungen auf, der zu einem legendären Verführer von Frauen und Männern gleichermaßen heranwachsen sollte. Noch Jahre später bereute es Liebe, dem Jungen nicht auch seine Hose geschenkt zu haben.
Im Schreibwarenladen nebenan erstand er ein kleines Glas himmelblauer Tinte, weil sie ihn an die Farbe derjenigen erinnerte, mit der Napoleon seine Briefe an Joséphine verfasst hatte. Liebe wollte sich damit Notizen in das kleine Büchlein machen, das er stets bei sich trug; vielleicht würde ihm das Glück bringen. Vielleicht würde er dieses Mal, im Gegensatz zu all jenen zuvor, tatsächlich gewinnen.
Er fragte sich, ob sie ihn wohl vergessen hatte, und machte in einer Bar halt, wo er sich einen kleinen Imbiss aus hauchdünnem Parmaschinken und mildem Käse genehmigte, gefolgt von einem Glas Perlwein. Sein unsterblicher Körper benötigte zwar keinerlei Nahrung, aber er nahm sich gern die Zeit für solche irdischen Freuden. Appetit war etwas grundlegend Menschliches, und es tat ihm gut, das Gefühl zu verspüren, zu verstehen.
Als er aus der Bar trat, noch das Prickeln von Salz und Wein auf der Zunge, stand die Sonne bereits tief am Horizont, kurz davor, der Welt ihre Wärme und Farben zu entziehen. Da er befürchtete, dass Tod sich nicht mehr zu ihm gesellen würde, löste Liebe sich in Luft auf und kam in einer glänzend schwarzen Gondel wieder zum Vorschein, sehr zur Überraschung des Fahrers, der gerade seinen letzten Passagier für den Tag abgesetzt hatte. Der Gondoliere hatte sich eigentlich eine Zigarette drehen und ein Weilchen hinauf in den Himmel blicken wollen, bevor er das Boot zurück an seinen Liegeplatz ruderte. Doch nun war da auf einmal dieser neue Gast, der es sich bereits auf der schwarzgoldenen Sitzbank bequem machte.
Der Mann seufzte. »Solo voi due?«
Nur Sie beide?
Zu spät bemerkte Liebe den süßen Hauch, der über dem Kloakengeruch des Kanals schwebte. Lilien. Seine Nackenhaare stellten sich auf.
»Sì, solo noi due«, stimmte Liebe zu.
Sie stieg die schiefen hölzernen Stufen zur Gondel hinunter. In ihrem langen winterweißen Mantel sah sie aus wie ein Engel. Ihre Handschuhe und Stiefel, beides aus Lammleder, hatten dieselbe Farbe. Der einzige Farbtupfer war der Schal um ihren Hals: roter Kaschmir. Sein Herz verkrampfte sich bei dem Anblick.
»Hallo, alter Freund«, begrüßte sie ihn.
Liebe half ihr in die Gondel. Da er sie diesmal auf etwa siebzehn Jahre schätzte, passte er ihr sein eigenes Erscheinungsbild an. Seine Entscheidung, in der Gestalt eines Mannes mittleren Alters zu reisen, hatte die Erschöpfung widergespiegelt, die er seinem Schicksal gegenüber empfand. Eine Ewigkeit lang immer wieder zu verlieren, würde wohl jedermanns Verhältnis zur Zeit trüben. Doch je jünger er sich nun fühlte, desto mehr wuchs seine Zuversicht, dass Tod vielleicht doch zu schlagen war. Das musste er sich merken.
»Stört es Sie, wenn ich rauche?«, fragte der Gondoliere, die dünne Selbstgedrehte schon zwischen den Lippen.
»Nur zu«, antwortete Tod.
Und da war es, ihr Mona-Lisa-Lächeln, das den Künstler zu seinem Meisterwerk inspiriert hatte. Eine Flamme flackerte, der säuerliche Duft brennenden Tabaks stieg auf, ein Streichholz versank leise zischend im Kanal - ein weiteres Licht auf der Welt, das für immer verlosch.
Der Gondoliere, rauchend und in seine Gedanken vertieft, stieß sein Boot von der Anlegestelle ab und steuerte es weg vom Canale Grande durch die verschwiegenen schmaleren Wasserstraßen, die sich malerisch durch das Viertel schlängelten.
»Was für eine hoffnungslose Stadt«, sagte sie.
Tod wusste, wie sehr er Venedig liebte. Um ihr nicht zu zeigen, dass sie ihn verletzt hatte, verpasste Liebe sich einen prächtigen Zwirbelbart. Tod konterte mit einem hängenden Exemplar à la Dr. Fu Manchu, verzog dabei jedoch keine Miene. Liebe gab sich geschlagen und beide Schnurrbärte lösten sich wieder in Luft auf.
»Es muss dir nicht unangenehm sein«, erklärte sie in der Sprache, die nur sie beide kannten. »Deine Hingabe zu allem, was dem Untergang geweiht ist, hat durchaus ihren Reiz.«
»Vielleicht sehe ich ja Dinge, die dir nicht auffallen«, erwiderte er.
»Mag sein.« Sie zog einen Handschuh aus und fuhr mit dem Fingerknöchel durchs Wasser.
»Sie sind bereit«, sagte er und dachte an seine Spielfigur in deren weit entfernter Heimatstadt, einer Stadt, deren Uhrenturm am Bahnhof dem Venediger Campanile nachempfunden war.
»Wenn du meinst«, sagte Tod.
Die Sonne war verschwunden und mit ihr alles Licht. Morgen würde sie wieder aufgehen und die Illusion erwecken, die Welt sei neu erstanden, der Kreislauf gehe von vorn los. Aber die Zeit war kein Kreislauf. Sie bewegte sich nur in eine Richtung, vorwärts ins Dunkel, ins Unbekannte. Liebe spürte, wie seine Laune ins Wanken geriet, und konzentrierte sich auf das Geräusch des Wassers, als das Boot hindurchglitt. Ein Geräusch wie unzählige kleine Küsse.
Er blickte ins Herz des Gondoliere und fand dort die Frau, die der Mann über alles liebte. Ihr Bild legte er nun über das Boot wie eine weiche Decke. Solch ein kleiner Trost würde Tod doch sicherlich nicht stören. Der Gondoliere schnippte seine Zigarette in den Kanal und begann zu singen.
Liebes Licht breitete sich über ihnen aus, und am dunkler werdenden Himmel stieg eine Mondsichel auf, so schmal, dass sie kaum da zu sein schien. Von Menschen gemachte Lampen spiegelten sich im Wasser wie lange glitzernde Finger, die das Boot im Vorübergleiten streichelten, während sein Führer vom Strahlen der Sonne seines Herzens für seine Geliebte sang.
Liebes Puls beruhigte sich wieder. Er nahm Tods Hand, sodass sie besser in sein Inneres blicken konnte, und gemeinsam sahen sie zu der Stadt am jüngeren Ende der Welt hinüber. Seattle. Sie hatte etwas Wildes an sich. Versank in Korruption, natürlich. Aber da waren auch Fantasie und Hoffnung und Staunen, was diejenigen Menschen anzog, die etwas Größeres, Besseres aus ihrem Leben machen wollten. Unendliche Reichtümer winkten, ob aus Wäldern geschlagen oder aus Goldminen gehackt.
Und auch für die Armen gab es Aufstiegsmöglichkeiten. Die Landschaft selbst spiegelte dies wider. Stille, tiefe Seen und schäumende Flüsse. Schneebedeckte Berge, deren Schönheit über ihre explosive Entstehungsgeschichte hinwegtäuschte. Wenn es je einen Ort gegeben hatte, wo das Alte dem Neuen weichen würde, wo Liebe Tod schlagen konnte, dann war es dieser.
Er wünschte, er könnte genauso in Tods Geist blicken wie sie in seinen. Doch dieses Geheimnis blieb ihm verschlossen. Die Fahrt ging zu Ende, und Liebe entlohnte den Gondoliere fürstlich. Arm in Arm stiegen die beiden Unsterblichen aus dem Boot, die Stufen hinauf und gingen bis zum höchsten Punkt der Ponte dell'Accademia, ihre Schritte kaum hörbar über dem Schwappen des Wassers.
»Papier?« Sie streckte die Hand aus.
Liebe riss ein Blatt aus dem Notizbuch, das er immer bei sich trug.
»Du zuerst«, sagte sie.
Liebe stach sich in den Finger und streckte ihn ihr hin. Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und rieb mit der Fingerspitze über seine. Liebe reichte ihr das Blatt Papier und den Füllfederhalter, den er zuvor gekauft hatte. Sie tauchte die Feder in die gemeinsam geschaffene Tinte und schrieb damit zwei Namen nieder. Das Ritual verlief schnell, beinahe beiläufig, denn sie hatten es schon so oft durchgeführt, und vor allem kannten sie einander gut.
Sie blies die Tinte trocken. »Solange dieses Papier unversehrt ist, bleiben die Spieler am Leben. Wenn die Zeit abgelaufen ist, zerstöre ich es.«
»Nur falls du gewinnst«, erinnerte Liebe sie.
»Wenn ich gewinne. Und worin besteht ein Sieg deinerseits?«
Liebe zögerte. In der Vergangenheit hatte er einen Kuss gewählt. Oder eine vollzogene Ehe. Aber beides schien ihm nicht genug. »Sie müssen Tapferkeit beweisen«, antwortete er. »Sie müssen sich füreinander entscheiden, auch wenn es sie alles andere kostet. Wenn sie das tun, so gewinne ich.«
»Ich habe keine Ahnung, was das heißen...
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