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Assar - 1948
Das Dorf machte nicht viel her. Assar würde es nicht einmal ein Dorf nennen, eher eine Ansammlung einzelner Hauswesen, die sich an den Sandhügel klammerten, der zum Fluss hin abfiel. Da gab es nichts. Nur kleine Höfe beiderseits eines Waldarms und Nachbarn, die aus Gründen, an die sich niemand mehr Titelei_03TT_Impressumerinnern konnte, einander kaum grüßten. Das Einzige, was sie vereinte, war der Sommerweg, der sich unter den Wagenrädern, aus Protest gegen das Erwachen aus dem Winterschlaf, jedes Jahr in Matsch verwandelte.
In Olsele war es schon immer karger, an allem. Die Holzhäuser waren dürftiger und die Kühe glanzloser als andernorts. Aber die Aussicht war schön und die Lage günstig, um Kartoffeln anzubauen. In kleinlichen Momenten dachte Assar, seine Eltern lebten nur der Kartoffeln wegen noch hier. Sie kannten nichts anderes als Kartoffeln und Gerstenbrei.
Assar hatte zarte Hände und einen jungenhaften Pony, den er mit der flachen Hand immer zur Seite strich. Er war auf eine Art neugierig, wie er sie von seinen Eltern nicht kannte. Die wollen nichts, dachte er. Er wollte alles.
Assar war kein bisschen darauf gefasst, als er sie zum ersten Mal sah. Sie war ihm unbekannt, ein ebenso neuer und strahlender Anblick wie die Missionskapelle vor einigen Jahren, als diese gerade erst errichtet worden war. Er sah sie flüchtig, als sie zu Sigurd hineinging, ihr im Wind flatterndes Kleid, ihr Haar, das in der Sonne wie ein frisch geputzter Kupferkessel aufblitzte. Das Licht stach ihm in den Augen. Dass das Gras auf den Heuwiesen schon so hoch war, dass es gemäht werden musste, bemerkte er überhaupt nicht, erst hinterher dann.
Bei Sigurd war es leicht schummrig. Der Raum, in dem er sein Ladenlokal hatte, lag am Ende eines langen Flurs, wo stets die Lampen gelöscht waren. Die Wände waren mit Regalen und Waren bedeckt, und er hatte eine ordentliche Kaufmannstheke. Es sah wie ein richtiger Dorfladen aus, auch wenn er in einem gewöhnlichen Wohngebäude untergebracht war. Es roch eigen dort. Nach Wurst und Veilchenpastillen.
Sie stand mitten im Raum. Obwohl es dunkel war, konnte Assar sie deutlich sehen. Als er eintrat, schaute sie kurz zu ihm, aber ihr Blick huschte nur über ihn hinweg, bevor sie sich wieder zu Sigurd umdrehte, der ihm einen Gruß zunickte. Nett war er, der Sigurd. Hatte ihm immer ein oder zwei Bonbons zugesteckt, wenn er vorbeigekommen war. Es war noch nicht lange her, dass Sigurd aufgehört hatte, ihm Bonbons anzubieten, Assar hielt sich für zu alt dafür und lehnte dankend ab, wenn er es versuchte.
Sie war auffallend groß, fast so groß wie Assar, der in den letzten zwei Jahren ziemlich in die Höhe geschossen war. Ihr Haar lockte sich im Nacken. Er betrachtete die weiche Linie ihres Kinns, den langen Hals, den Schatten des Schlüsselbeins, der im Ausschnitt des Kleids verschwand, die Rundung ihres Busens. Als sie Sigurd anlachte, erschien auf ihrer linken Wange ein tiefes Grübchen. Es war ein Leuchten um sie herum, ein Strahlen im Raum.
Assar konnte den Blick nicht von ihr wenden. In dem hellen Flaum auf ihrer Oberlippe saßen kleine Schweißperlen. Er wusste noch nicht, wer sie war, aber er wollte diese Perlen mit der Zungenspitze ablecken.
»Ja also, es ist jedenfalls schön, Hebbe wieder hier zu haben«, sagte Sigurd und nahm das nächste Paket in Angriff. »Man hat ihn vermisst.«
Sie sah Sigurd abwartend an, nickte nahezu unmerklich, wie um ihn zum Weiterreden aufzufordern.
»Wir haben schon alle gedacht, dass der Hof nicht überlebt, nachdem der Anders sich umgebracht hat. Haben Sie ihn gekannt, Margareta?«
Als sie den Kopf schüttelte, geriet der Rotschimmer in Bewegung, sie verlagerte das Gewicht von einem Bein aufs andere. Lange, weiße Beine waren das. Sie trug keine Strümpfe unter ihrem gewöhnlichen Baumwollkleid.
Assar flatterte innerlich so sehr, dass es fast unangenehm war. Jetzt wusste er, wer sie war. Die neu zugezogene Nachbarin. Vater hatte früher viel von ihnen gesprochen: Den Geschwistern, die den elterlichen Hof und das Heimatdorf verlassen hatten, um ihr Glück woanders zu suchen. Zwei von ihnen waren ausgewandert, der dritte in den Süden des Landes gezogen. »Der war doch ein Träumer«, sagte Vater immer, und dann war da noch der vierte, der starb. Der Hof war seither heruntergekommen, weil Anders die Arbeit nicht schaffte. Das hat jetzt getaugt, sagte sein Vater und schnaubte, nachdem Titelei_03TT_ImpressumAnders sich im Schuppen erhängt hatte. Vater hatte nicht viel übrig für sie. Ihm rückte das zu nahe: Bei ihnen war nur noch Assar da, dessen Eltern beide kränkelten.
»Nein, das hat sich nicht ergeben.« Sie hatte eine dunkle und tragende, aber angenehme Stimme. Eine Stimme, der man lange zuhören wollte. »Wir sind erst kurz nach der Beerdigung hergekommen.«
»Ach so, wir freuen uns jedenfalls. Dass da jemand weitermacht«, sagte Sigurd und verschnürte das Paket vor sich.
Wenn sie lächelte, tanzten ihre Grübchen. Im Unterschied zu Assar hatte sie noch eigene Zähne und zwischen den Schneidezähnen eine Lücke.
»Strömsund sagten Sie?« Diesmal sah Sigurd nicht auf.
»Ja, stimmt. Aufgewachsen bin ich aber in Hoting.«
»Und wie sind Sie in Strömsund gelandet?«
»Papa ist gestorben.« Sie brach ab und presste die Lippen Titelei_03TT_Impressumzusammen. Die Grübchen verschwanden.
Im Gespräch trat eine Pause ein, und das Einzige, was man hörte, war das Geraschel des Wachspapiers, in das ihre Sachen eingeschlagen wurden. Assar tat einen Schritt zurück und trat gegen irgendetwas, das zu Boden fiel. Wieder huschte ihr Blick zu ihm, blieb diesmal aber an ihm hängen. Ein forschender, abschätzender Blick, hinter dem etwas aufschien, was Assar erst viel später deuten konnte: ihr Hunger. Sigurd warf beiden einen raschen Blick zu und beugte sich dann über die Quittung, die er ihr ausstellte. Er schrieb langsam und umständlich.
»Jedenfalls«, sagte Sigurd und wies auf Assar: »Nehmen Sie sich vor dem in Acht. Er ist einer von den Sjögrens. Das waren noch nie Freunde von den Larssons.«
Assar schritt normalerweise weit aus, diesmal aber war es zu warm, und sie holte ihn gleich hinter Saxnäsby ein. Sie sagte nichts, hielt nur mit ihm Schritt. Er streckte die Hand aus, und sie gab ihm die Tasche mit den Einkäufen und der Post. Sie Titelei_03TT_Impressumsahen einander an, und sie lächelte. Er hatte das Gefühl, alles würde sich von selbst lösen, wenn sie nur lächelte.
»Danke, dass ich mich dir anschließen darf«, sagte sie. Sie sagte tatsächlich Du.
»Ich dachte, Sie wollten das vielleicht nicht. Nach dem, was Sigurd gesagt hat«, erwiderte er und artikulierte die Worte sorgfältig. Sie sprach gepflegtes Schwedisch.
»Ich habe nichts damit zu tun«, sagte sie und zuckte die Achseln. »Außer es macht dir etwas aus, meine ich.«
Er schüttelte entschieden den Kopf, traute sich aber den Mund nicht mehr aufzumachen. Er befürchtete, dass ihm die Stimme versagte. Diese hatte zwar schon ihre tiefe Lage gefunden, doch kam es immer noch vor, dass sie instabil und hell wurde. Wenn da etwas war, was er unbedingt haben wollte. Wie jetzt.
Assar spürte, wie ihre Körperwärme ihn durch den karierten Kleiderstoff hindurch betatschte. Hin und wieder stieß ihre Hüfte mit seiner zusammen, weich gegen seine kantige. Einmal streifte ihr bloßer Arm den seinen, sodass er, trotz der Hitze, eine Gänsehaut bekam. Mag sein, sie gingen etwas zu dicht nebeneinander, aber das sagte er nicht.
Acht Kilometer, so weit hatten sie zusammen zu gehen. Sie gingen langsam und still nebeneinander her, so nahe sie konnten, ohne dass es unanständig wurde. Die Luft flimmerte vor Hitze, und die Schotterstraße staubte. Die Kiefern wuchsen hoch, schienen sich über sie zu beugen, wie sie da so gingen. Kein Vogel zwitscherte, sie versteckten sich wohl in den Schatten im Wald, dafür zirpten die Grillen am Grabenrand.
Die Straße war verschlungen, führte rauf und runter, schlängelte sich in sanften Kurven dahin wie eine sich windende KreuzTitelei_03TT_Impressumotter, es war unmöglich vorherzusehen, was kommen würde.
So warm, obwohl es noch früh im Juni war. Und dieser Schotterstaub. Assar machte der Geruch durstig.
»Wie alt bist du?« Sie sah ihn nicht einmal an, stellte die Frage einfach so ins Blaue.
Assar räusperte sich.
»Ich bin gerade siebzehn geworden, bin seit ein paar Jahren mit der Schule fertig«, sagte er, stolz, vor allem um ihr zu zeigen, dass er, obwohl noch flaumig und mager, erwachsen war. Er hatte die Volksschule mit guten Zensuren durchlaufen, und die Lehrerin hatte ihn zum Lesen ermuntert, ihm hin und wieder Bücher zugesteckt, die er leihweise mit nach Hause nehmen durfte. »Aus dir kann etwas werden«, sagte sie immer. Er vermisste die Lehrerin. Er wünschte, er hätte weiterlernen können. Dafür gebe es weder Geld noch Raum, sagte Vater.
»Du bist nicht fort von hier?« Ihre Stimme weckte ihn aus seinen Überlegungen.
»Nein, es war wohl immer vorgesehen, dass ich hierbleibe«, sagte er.
Sein Vater war kränklich, aber das sagte er nicht. Vater fiel das Atmen von Tag zu Tag schwerer. Er schwand dahin, seine Arme und Beine waren zu schwach, als dass er noch hätte anpacken können. Assar wurde auf dem Hof gebraucht. Er musste Vater bei der schwereren Arbeit helfen, mit der Mutter nicht zurande kam. Sie hatten einige Kühe, ein Pferd und ein paar Schweine sowie einen guten Kartoffelacker. Aber sie hatten nicht viel Land, die Heuernte im Moor war mühsam, und wenn das...
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