Schweitzer Fachinformationen
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1938
Ich lehnte mich aus dem Schlafzimmerfenster meiner Mutter und ließ den wundervollen Tag in Cornwall auf mich wirken. Der Himmel über Trevay war strahlend blau, die Möwen segelten kreischend in der warmen Brise, und von hier oben konnte ich gerade noch einen Blick auf den funkelnden Atlantik und die kleine Flotte Fischerboote auf den Wellen erhaschen, die auf dem Weg zu ihren üppigen Jagdgründen waren. Die Familie meines Vaters stammte aus Cornwall, die meiner Mutter aus Kent, doch mein Geburtsort war Penang, Malaysia. Ein ziemlicher Mischling, wie mein Vater immer sagte. »Gut«, erwiderte ich dann. »Damit kann ich leben, denn Mischlinge sind die besten und intelligentesten Hunde.«
Ich hatte meine morgendlichen Pflichten erledigt und sollte jetzt eigentlich unten sein, um Mum im Laden zu helfen, doch ich beschäftigte mich lieber mit ihrem Make-up und genoss den wunderschönen Tag.
Sie rief mich von unten. »Hannah?«
»Ja, Mum?«
»Kommst du bitte runter? Hier wartet Kundschaft auf Bedienung.«
»Komme!« Rasch wischte ich mir ihr Rouge von den Wangen und hüpfte die Treppe hinunter.
Mum stand hinter der Theke und plauderte mit zwei Stammkundinnen, Mrs. Pengelly und Miss Pritty.
»Ist das etwa mein Rouge?« Der Blick meiner Mutter war kritisch, aber nicht verärgert.
»Nur ein kleines bisschen.«
»Na, ich hoffe, du hast es wieder richtig hingelegt. Du hast das gar nicht nötig.«
»Mrs. Bolitho, ist das etwa die kleine Hannah?«, fragte Mrs. Pengelly, eine stämmige Frau mit einem haarigen Muttermal an der Oberlippe, die mich durch ihre Hornbrille durchdringend anstarrte. »Wie groß sie geworden ist!«
Meine Mutter seufzte. »Allerdings.«
»Ein hübsches Mädchen«, bemerkte Miss Pritty.
Meine Mutter stemmte die Hände in die Hüften und musterte mich spöttisch. »Finden Sie?«
Miss Pritty erinnerte mich an eine Märchenprinzessin, die man wie eine Rose unter einer Glaskuppel konserviert hatte. Eine ehemalige Schönheit mit leicht knittriger Haut, deren blonde Locken allmählich grau wurden.
Mum fand sie eher bemitleidenswert.
»Vielen Dank, Miss Pritty.« Ich grinste.
Miss Pritty fuhr fort: »Ich kann mich einfach nicht beherrschen, Mrs. Bolitho, ständig zieht es mich in Ihren Laden. Ich bin immer wieder aufs Neue begeistert, wie es hier aussieht und duftet.«
An den Wänden stapelten sich ballenweise feinste Seiden- und Baumwollstoffe in strahlenden Farben oder gewagten Mustern. Mums Laden, »Clara Bolithos Seide«, war ihr ganzer Stolz. Sie importierte die Stoffe aus Malaya, wo ich zur Welt gekommen war.
Seit klein auf liebte ich alles, was hell und bunt war. Der Ferne Osten war für mich ein Märchenland, und ich hatte erwartet, ihn sehr zu vermissen.
Mit fünf Jahren war ich aus Penang nach England gekommen, und in meinen vagen Erinnerungen konnte ich die Palmen sehen, die Sonne auf den Wangen spüren und riechen, wie die warme Luft nach einem Regenguss duftete.
Mein Vater Ernest Bolitho war in Penang geblieben. Er besaß eine Kautschukplantage und arbeitete für die malaiische Kolonialverwaltung.
»Knöpfe hätte ich gern«, sagte Miss Pritty. »Zu diesem Chiffon.« Liebevoll strich sie über eine neue Rolle mit weichem, fliederfarbenen Stoff. »Ist der nicht hübsch?«
»Er findet reißenden Absatz«, bestätigte meine Mutter. »Reine Seide.«
»Wie viele Knöpfe brauchen Sie?«, fragte ich, während ich in einer der beiden verglasten Auslagen bereits nach etwas Passendem Ausschau hielt. Unter der Theke befanden sich in mehreren Reihen offene Holzschubladen mit Hunderten von Knöpfen, Bändern, Spitzen und Zierfäden.
Miss Pritty drückte die Nase fast ans Glas, um den perfekten Artikel zu finden.
»Im Schnittmuster werden kleine, runde empfohlen. Insgesamt sechs«, sagte sie. Dann hatte sie etwas entdeckt. »Ooh, die da könnten genau das Richtige sein.«
Meine Mutter übernahm. »Die sind gestern aus Singapur eingetroffen. Seidenumhüllt und federleicht. Ideal für den Chiffon.«
Mrs. Pengelly, die sich vernachlässigt vorkam, schnalzte ärgerlich mit der Zunge. »Ich war zuerst an der Reihe, Mrs. Bolitho.«
Mum ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Hannah ist gleich für Sie da.«
Mum wusste genau, dass ich Miss Pritty lieber mochte, aber meine Mutter verleitete ihre Kundinnen gerne dazu, mehr auszugeben als eigentlich geplant, und mit Miss Pritty hatte sie leichtes Spiel.
»Mrs. Pengelly«, sagte ich lächelnd, »was kann ich für Sie tun? Wir haben sehr schöne Handschuhe im Angebot.«
Ich arbeitete jeden Samstag mit Mum in ihrem Laden, während mein älterer Bruder Edward Rugby spielte und David, der jüngere, Cricket.
Edward und ich waren zunächst allein aus Penang nach England gekommen. Angesichts der politischen Unruhen meinte mein Vater damals, in Cornwall seien wir sicherer. Ich war fünf gewesen und Edward neun, als unsere Eltern uns auf dem Schiff hierhergebracht hatten. Sie hatten uns wunderbare Ferien bei unseren Großeltern in Cornwall versprochen, dabei jedoch verschwiegen, dass wir Kinder in Callyzion bleiben würden, während die Eltern ohne uns nach Penang zurückkehrten. Als sie winkend mit dem Taxi davonfuhren und mein Vater uns »Bis bald« zurief, machte ich mir folglich keine Gedanken. In der darauffolgenden Woche drückte ich mir in Erwartung ihrer Rückkehr täglich die Nase am Vorderfenster platt. Sieben Jahre sollten vergehen, bis ich meine Mutter wiedersähe. Meinen Vater sah ich noch viel, viel länger nicht.
Im Haus unserer Großeltern ging es ganz anders zu, als Edward und ich es gewöhnt waren. Zunächst einmal beherrschten wir die Sprache nicht einwandfrei. Da die Arbeit meines Vaters streng vertraulich war, sprachen meine Eltern nur untereinander Englisch, wenn sie niemand verstehen sollte. Mit uns und dem Personal redeten sie Malaiisch, damit die Bediensteten ihre Sprache nicht lernten.
Folglich fiel es uns in der ersten Zeit in Cornwall nicht leicht, andere zu verstehen und uns verständlich zu machen. Vor allem in der Schule. Man machte sich über uns lustig, weil wir unsere Schuhe vor der Tür ließen und barfuß ins Haus gingen, wie wir es aus der Heimat gewöhnt waren. Und wir galten als aufsässig.
Die schönste Zeit des Tages war immer dann, wenn Großvater aus der Kirche nach Hause kam. Er war jederzeit freundlich und hatte stets ein Bonbon für uns in der Tasche oder Zeit, sich mit uns in seinen großen Sessel zu setzen, wo wir in gebrochenem Englisch plauderten oder über Zeichnungen sprachen.
Großmutter war ebenfalls gut zu uns, doch ihre »Nerven« machten ihr zu schaffen. Ich hatte keine Ahnung, was es damit auf sich hatte, und wusste nur, dass wir deshalb leise sein mussten und ihre zahlreichen Schläfchen nicht stören durften.
Dora, das Dienstmädchen, war sehr lieb und fand immer Zeit, mit uns eine Runde Dame oder Verstecken zu spielen. Die Köchin schimpfte dann, dass sie sich lieber ihrer Arbeit widmen sollte, doch wir hatten bald durchschaut, dass die Köchin sich nur so grimmig gab.
Sie brachte uns bei, Marmeladentörtchen und Biskuitkuchen zu backen, Eier zu buttern und Kartoffeln zu braten, und als Edward und ich ihr anvertrauten, wie sehr wir das exotische Essen vermissten, beschaffte sie sich ein Curry-Rezept und machte uns Kedgeree zum Frühstück.
Nur Tante Amy gingen wir beide aus dem Weg. Sie mochte keine Kinder, vor allem nicht solche wie uns. Wenn sie nicht zu Hause war, stöberten wir nur zu gerne in ihrem Zimmer herum. Unsere geheimen Streifzüge in ihr Reich waren so lange unbemerkt geblieben, dass wir schon dachten, sie würde uns niemals erwischen, doch an einem langweiligen, regnerischen Nachmittag, als wir gerade unter ihrem Bett lagen und einen Stapel Briefe von einem gewissen Peter lasen, kam sie herein. Edward, der groß für sein Alter war, konnte sich nicht schnell genug unter dem Bett verstecken, sodass sie ihn entdeckte. Sofort sausten ihre knochigen Finger wie Adlerkrallen herab und zerrten ihn hervor, dass seine Wange über den rauen Teppich schürfte.
Besonders unheimlich war uns, dass Tante Amy niemals laut wurde. Stille Drohungen waren ihre bevorzugte Waffe.
»Was hast du unter meinem Bett zu suchen?«, zischte sie gefährlich.
»Nichts.« Edward stand auf.
»Lüg mich nicht an, du kleiner Wilder. Was hast du unter meinem Bett gefunden?«
»Ich habe nichts gefunden!«, protestierte er tapfer.
Aus meiner Perspektive - ich lag immer noch unter dem Bett - sah ich, wie ihre schmalen schwarzen Stiefel auf den Teppich stampften. »Wo ist deine kleine Schwester? Wenn das Gör auch unter dem Bett steckt .«
Mir blieb keine Zeit, mich zu rühren. Ich sah, wie sie sich vorbeugte und die Enden ihres Baumwollüberwurfs zurückriss. Ihr erboster Blick traf mich. »Komm sofort raus, sonst wirst du das bitter bereuen.« Ich sah Speichelbläschen auf ihrer Lippe.
»Ja, Tante Amy.« Ich krabbelte unter dem Bett hervor und stellte mich neben Edward, der nach meiner Hand griff. Doch darin hielt ich noch einen der Briefe an Tante Amy.
Als sie das sah, zuckte ihre Kopfhaut und ich schwöre, dass ich Flammen in ihren Augen lodern sah. Sie kam auf mich zu und hob die Hand. Ich presste die Augen zusammen, voller Angst vor dem Schlag, der mich erwartete. Und als er kam, machte ich mir in die Hose.
Die Wange brannte mir von der Ohrfeige und der Schmach.
»Gib mir den Brief.« Sie stand ganz dicht vor mir und hatte noch nicht bemerkt, was mir passiert war.
Ich reichte ihr den Umschlag.
Mein Unterhöschen und meine Strümpfe...
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