Schweitzer Fachinformationen
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Katharina Kruppa und Wolfgang Sperl
Der Beginn des Lebens, die ersten Lebensmonate im Mutterleib, die Zeit rund um die Geburt sind wohl eine der prägendsten und entscheidendsten Phasen im Leben jedes Menschen. Hesses berühmtes Wort: ». . . jedem Anfang wohnt ein Zauber inne«, aus seinem Gedicht »Stufen« stimmt im Besonderen für den menschlichen Lebensbeginn. Tatsächlich sind es Neugeborene, die mit ihrer Aura uns Erwachsene gefangen nehmen.
Gleichzeitig ist aber auch die Vulnerabilität während dieser Phasen, beginnend mit der Schwangerschaft, über die Geburt bis ins erste Lebensjahr des Kindes hinein, enorm hoch, eine Vulnerabilität, die das Leben des wachsenden Kindes genauso betrifft wie die Mutter und den Vater. Denn auch die Eltern vollziehen in ihrer eigenen Persönlichkeit tiefgreifende Entwicklungsschritte: von der Frau zur Mutter, vom Mann zum Vater, von der Paarbeziehung zur Elternschaft. Und so zeigt sich in dieser Phase, dass der Mensch von seinem Wesen her insofern ein »Herdentier« ist, als Begleitung und Unterstützung für eine ungestörte Entwicklung der Nachkommen unabdingbar sind. Um Hesse weiter zu zitieren: ». . . ein Zauber [. . .], / Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben« (zit. n. Hesse 1957, S. 486). Genau das ist die Aufgabe der Begleitung in dieser Lebensphase: sensibilisieren für das Wunder »Leben« sowie Schutz, Hilfe, Unterstützung auf allen Ebenen des Lebens.
Interessanterweise hat die WHO eine ähnlich umfassende Begleitung bisher vor allem für das Lebensende beschrieben, und zwar in ihrer Definition von »Palliative Care«: »Palliative Care dient der Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und ihren Familien [. . .]. Dies geschieht durch Vorbeugung und Linderung von Leiden mittels frühzeitiger Erkennung, hochqualifizierter Beurteilung und Behandlung [. . .] von [. . .] Problemen physischer, psychosozialer und spiritueller Natur« (WHO, 2002). Diese Definition ist unserer Meinung nach genauso für den Lebensbeginn gültig, für »Early Life Care« (ELC), und erweitert das bekannte bio-psycho-soziale Modell nach Engel (Engel 1976) um die spirituelle Komponente.
Der Grundgedanke des Engelschen Modells besteht darin, dass alle drei Grundvoraussetzungen des Lebens - die biologisch-organische, die psychische und die soziale - in kontinuierlicher Wechselwirkung stehen und aus diesen Faktoren und deren Veränderungen sich Entwicklung und Verlauf von Krankheiten, aber eben auch von Gesundheit erklären lassen (Jungnitsch 1999).
Mit dieser mehrdimensionalen Betrachtungsweise wird klar, dass die Person als Ganzes mit allen ihren Aspekten im Zentrum der Behandlung steht und die Ebenen der Betreuung jedenfalls neben den medizinischen auch soziale und psychologische Faktoren beinhalten.
Gleichzeitig ist in Situationen des Lebensübergangs (z. B. zu Beginn und am Ende des Lebens) die existentielle Frage, die Grundfrage des »Warum«, des »Woher« und des »Wohin«, also die »Sinnfrage«, Teil des Menschen. Dann aber kann die Ebene des Spirituellen - als grundsätzlich menschliche Ebene - nicht aus diesem Modell ausgeschlossen werden, sofern man Spiritualität umfassend und jedenfalls über den gängigen Religionsbegriff hinausgehend definiert.
Gemeint ist mit diesem Begriff der Teil des menschlichen Bewusstseins, der sich mit der eigenen Begrenztheit auseinandersetzt und damit über diese hinausweist. Spiritualität ist in diesem Sinn eine Form von Geistigkeit als Gegensatz zum rein rationalen Denken und der materiellen Körperlichkeit. »Spiritualität bezeichnet nicht zuletzt den subjektiv erlebten Sinnhorizont, der sowohl innerhalb als auch außerhalb traditioneller Religiosität verortet sein kann und damit allen Menschen zu eigen ist« (Stangl 2019).
Mit dem angedeuteten bio-psycho-sozio-spirituellen Modell soll ein ganzheitlicher Ansatz für Diagnostik und Therapie ermöglicht werden. Die naturwissenschaftlich ausgerichtete Medizin sollte mit den Erkenntnissen aus der Psychologie, den ökosozialen Wissenschaften, aber auch mit spirituellen Aspekten ergänzt werden. Krankheit und Gesundheit stellen keinen Zustand da, sie sind als dynamisches Geschehen zu verstehen.
Das bio-psycho-sozio-spirituelle Modell zeigt als eine Art grundlegende Leitlinie der klinischen Behandlung auf, wie Leiden und Krankheit verstanden werden können (Borrell-Carrió et al. 2004). Diese Art der Betrachtung ist im Hinblick auf den Lebensbeginn nicht neu, im Gegenteil: Die Hebammen, welche die Rolle der Unterstützung am Lebensbeginn traditionell ausfüllen, haben ihre Arbeit in vielerlei Hinsicht auf Basis dieser ganzheitlichen Lebensbetrachtungsweise ausgeführt: auf der biologisch-medizinischen, der psychologisch-unterstützenden, der sozial-beratenden, aber auch auf der spirituellen Ebene.
In den letzten Jahrzehnten sind Schwangerschaft, Geburt und Perinatalzeit immer mehr zur Domäne der Schulmedizin geworden, zum Schutz von Mutter und Kind vor Krankheiten und zur Risikoverminderung. Zweifelsohne ist die rein medizinische Versorgung deutlich verbessert, allzu früh geborene Kinder, die früher fast sicher gestorben wären, können heute überleben, die perinatale Mortalität von Kindern und Müttern konnte auf ein Minimum reduziert werden. Die Reproduktionsmedizin hat große Erfolge erzielt, ebenso die vorgeburtliche Diagnostik und Therapie. Gleichzeitig ist aber auch der Druck auf die Familien gestiegen, Kinderwunsch, Perfektionismus und Machbarkeit scheinen manchmal über Menschenwürde und Differenziertheit zu stehen. Manchmal scheint es, dass der Mensch gerade in dieser so vulnerablen Phase zu wenig in seiner Mehrdimensionalität gesehen wird. Eine Vielzahl Berufsgruppen sind in dieser Lebensphase involviert, oft mit konträren Blickwinkeln und Haltungen. Das folgende Beispiel, geschildert von der Sozialarbeiterin einer geburtshilflichen Abteilung eines Krankenhauses, zeigt exemplarisch die Schwierigkeit in der Praxis:
Der Sozialarbeiterin wird die Patientin auf der Geburtenstation wegen finanzieller Schwierigkeiten vorgestellt. In einem langen Gespräch zwei Tage nach Geburt des Kindes erzählt die junge Frau ihre Geschichte:
Begonnen haben ihre finanziellen Probleme, so schildert sie, mit der Entscheidung zur Pränataldiagnostik. Obwohl die anfallenden Kosten für die junge Frau eine Hürde darstellten, entschied sie sich ohne weitere Beratung für die Untersuchung. Ein auffälliger Test führte - auf dringendes Anraten des Gynäkologen - zu weiteren Untersuchungen. Die Mutter war sehr verunsichert, weil sie, alleinstehend, sich das Leben mit einem behinderten Kind nicht vorstellen konnte, aber das Risiko einer invasiven Untersuchung eigentlich vermeiden wollte. Letztendlich entschied sie sich dann doch für eine Amniozentese (Fruchtwasseruntersuchung), die dann ein unauffälliges Ergebnis brachte und ohne Komplikationen verlief.
Trotz der scheinbaren Entspannung der Situation war die junge Frau in der weiteren Schwangerschaft sehr belastet. Vor der Amniozentese in der 20. Schwangerschaftswoche hatte sie sich nicht emotional auf das Kind einstellen wollen, da sie - trotz großer innerer Widerstände - die Möglichkeit einer Abtreibung offen ließ. Dem Rat einer Freundin, sich in einer Schwangerenberatungsstelle der Kirche Unterstützung zu holen, traute sie sich nicht zu folgen, obwohl - oder gerade weil - sie sich selbst als sehr religiös empfand.
Ihre emotionale Situation in der weiteren Schwangerschaft war hoch ambivalent - sie schwankte zwischen schlechtem Gewissen, weil sie die Abtreibung in Erwägung gezogen hatte, und Freude auf das Kind und hatte zugleich große Sorgen bezüglich ihrer sozialen Situation. Ein Gespräch mit einer Hebamme im Rahmen der Geburtsvorbereitung empfand sie als sehr belastend, da sie das Gefühl hatte, sich der Hebamme gegenüber für ihre Entscheidung für die Pränataldiagnostik verteidigen zu müssen.
Nach der Geburt fiel die junge Mutter in der Klinik durch wenig Emotionalität auf, und sie erzählte der Sozialarbeiterin in einem Gespräch von ihrer hoch prekären finanziellen Situation: »Ich hab mir gedacht, wenn ich für so einen Test so viel Geld ausgebe, dann kann ich auch für mein Kind etwas Schönes anschaffen!« So hatte sie für »Babysachen« deutlich mehr Geld ausgegeben,...
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