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Im Halbdunkel der Dachkammer über ihr Notizbuch gebeugt, zwängte Hannah den Schluss ihrer Aufzeichnung in die allerletzten Zeilen der Seite.
3 Uhr 04, 12. Tag, 4. Monat, schrieb sie. Außerstande, die Nebelhülle um Antares zu durchdringen. Bei 22 Grad Nord gesichtetes Objekt ist nicht wieder erschienen. Weitere Beobachtungen durch Wolken behindert.
Wie um Hannahs Machtlosigkeit zu unterstreichen, erlosch die Kerze neben ihr mit einem Zischen. Einen Moment lang saß sie im Dunkeln, schloss die Augen und bekämpfte den Drang, die Kerze durch die Kammer zu schleudern. Das Beherrschen ihrer Gefühlsregungen war ebenso Teil ihrer Erziehung gewesen wie die ungekürzten Divisionen und das Multiplizieren. Sie hatte seit mehr als zwanzig Jahren mit nichts geworfen, nicht mit den Füßen gestampft und nicht in Gegenwart anderer geweint. Doch nunmehr, mit vierundzwanzig, unverheiratet, fragte sie sich bisweilen, ob sie überhaupt zu tiefen Empfindungen für etwas anderes fähig war als für das, was sie am Nachthimmel sah - oder eben nicht sah.
Nur auf dem kleinen Dachsteg ließ Hannah sich nach Sonnenuntergang von einem Blick auf etwas Neues begeistern, das zwischen den Himmelskörpern flimmerte, oder bestaunte überwältigt deren majestätische Ordnung. Sogar das bedrückende Gefühl der Niederlage, das sie in Nächten wie dieser befiel, wenn die Elemente die schönen Mysterien dort droben verfinsterten oder die Instrumente sie nicht sichtbar werden ließen, bewegte sie mehr als alles, was bei Tageslicht vorging. Zumindest sah es oftmals danach aus.
Hannah hatte gehofft, den Nebelfleck noch einmal zu sichten, den sie in der vergangenen Nacht unweit des Katzenaugennebels im Schwanz des Skorpions erspäht hatte. Ein matt leuchtender Bereich, einer schwebenden Wolke gleich, mit zwei deutlichen Streifen, der eine dunkler als der andere, die sich wie Samtbänder von Norden nach Süden durch die Nebelhülle fädelten. Am südlichsten Rand eines der Streifen hatte sie einen hellen Dunstschleier beobachtet, der auf einer Seite offenbar weniger ausgeprägt war. Als sie ihn ins Auge fasste, fühlte sie sich wie ein aufgeregter Erforscher der Neuen Welt; mit einem Male war der Schleier aus Möglichkeiten und Verheißungen dünn genug, um vom leichtesten Atemhauch durchlöchert zu werden.
Es war unwahrscheinlich, dass es ein Komet war, aber ohne das Objekt noch einmal zu sehen, würde sie es nicht wissen. Sobald es dunkel war, hatte sie sich eine frische Kerze geholt und war die Stiege zum Dachsteg hinaufgesprungen. Doch der Himmel war wolkenverhangen, und mit einem langen enttäuschten Atemzug lehnte Hannah sich ans Geländer und betrachtete die dahinjagenden Wolken.
Seit ihr Vater eine Stellung bei einer Bank angenommen hatte, eine Arbeit, die ihn oft für längere Zeit von zu Hause fernhielt, führte Hannah die nächtlichen Beobachtungen, mittels derer ihre Familie die Chronometer der Walfangschiffe zur Zeitbestimmung auf See regulierte, alleine durch.
Sie nahm auch die notwendigen Einstellungen an allen derartigen Uhren in der Flotte vor, wenn die Schiffe im Hafen lagen. Überdies kümmerte sie sich um das Haus, hielt die Hauptbücher in Ordnung und entlohnte die Jungen, die den kleinen Bauernhof versorgten, den sie eine Meile außerhalb der Stadt betrieben, obwohl er ein ständiges Verlustgeschäft war. Hinzu kam ihre Arbeit als Hilfsbibliothekarin im Atheneum von Nantucket, von wo sie allabendlich mit schmerzenden Augen in ein leeres Haus zurückkehrte, um auf dem kleinen Dachsteg ein paar Stunden mit Beobachtungen des Nachthimmels zu verbringen.
Nicht-Inselbewohner gaben einem solchen Steg den makabren Namen «Witwensteg», weil sich die Frauen auf der Insel Nantucket und in ähnlichen Landstrichen bei Tage einem frühen Grab entgegenschufteten und bei Nacht auf dem Dach sehnsüchtig nach ihren von fernen Walgründen zurückkehrenden Ehemännern Ausschau hielten. In Wirklichkeit hatten jedoch die meisten Frauen aus Hannahs Bekanntschaft, deren Männer auf Walfangschiffen fuhren, wenig Zeit oder Lust, auf dem Dach herumzustehen und auf irgendetwas zu warten. Wäre Hannahs Zwillingsbruder Edward zugegen gewesen, so hätte er auf die Ironie hingewiesen, dass sie, ohne selbst verheiratet zu sein, schon genauso geworden war wie diese Walfänger«witwen», die sie zugleich bemitleidete und verachtete.
Was ihre eigene Lage anging, so gestattete sich Hannah nur gelegentlich ein Quäntchen Mitleid. Das Warten auf die Rückkehr eines Bruders war doch gewiss nicht dasselbe wie das Warten auf einen Ehemann, fand sie. Trotzdem hatte sie in den zwei Jahren und sieben Monaten, seit Edward mit dem Walfangschiff Regiment unterwegs war, nachdem er sich im Morgengrauen fortgestohlen und nur einen Brief hinterlassen hatte, jeden Tag an ihren Bruder gedacht.
Hege keinen Groll gegen Mary Coffey, hatte er geschrieben. Sie ist Deinem Bruder wie ein günstiger Wind, doch kein solch heftiger Sturm wie Du. Aber Hannah konnte an ihrem Urteil so wenig ändern, wie sie das Wetter beeinflussen konnte: Ihr Bruder hatte sich davongemacht, um sich als geeigneter Ehemann für ein Mädchen zu beweisen, das seine Zuneigung ebenso wenig verdiente wie die gigantischen Tiere, die er über den Erdball jagte, ihr grausames Schicksal verdienten. In seinem Brief hatte er darauf bestanden, dass Hannah ihre Beobachtungen fortsetzte und sich nicht durch eine Eheschließung, durch Unterrichten oder anderes verzehrendes weibliches Bestreben ablenken ließ. Doch er hatte ihr keinen Rat erteilt, wie sie denn weiterleben solle ohne ihr einziges Geschwister, ihren einzigen Freund und Vertrauten.
Nach zehn Minuten hatte Hannah sich dem Wetter gefügt und war wieder nach unten gegangen. Sie wünschte, ihr Vater wäre da. Sie hatte gehofft, ihm das Fadenkreuz zu zeigen, das sie letzte Woche mit einem klebrigen Gespinstfaden geflickt hatte, denn sie wusste, er würde ihre Erfindungsgabe sowie ihre Sparsamkeit loben. Die Eigenreparatur des wichtigen schmalen Drahtes hatte ihnen die Kosten für die Verpackung des Instrumentes in Stroh und seine Verschickung nach Cambridge erspart, wo die Bonds, Freunde der Familie, die Aufsicht über die neue Harvard-Sternwarte führten. Außerdem musste Hannah auf diese Weise keine Nacht mit Beobachtungen versäumen.
Doch die Dachkammer war verlassen. Als Hannah noch ein Kind war, war ihr Vater, Nathaniel Price, hier in der Kammer und droben auf dem Steg ständig zugegen gewesen, zu allen Stunden der Nacht, bei jeglichem Wetter. Hannahs erste Aufgabe als seine «Gehilfin» hatte darin bestanden, die Sekunden für ihn zu zählen, wenn ein Stern an seinem Objektiv vorüberzog. Als Zwölfjährige nahm sie ihren Auftrag ungemein ernst, und Nathaniel hatte ihr eine kleine Stoppuhr geschenkt, die er aus alten Teilen für sie zusammengebaut hatte, in einem polierten Messinggehäuse mit ihrem eingravierten Monogramm. Hannah hatte die kleine Uhr abgöttisch geliebt, und als diese das Ticken endgültig einstellte und sich nicht mehr instand setzen ließ, hatte sie sie in ein Musselintuch gewickelt und zuunterst in die Truhe am Fuß ihres Bettes gelegt, zu einem der wenigen Schätze, die sie vor den Augen und Händen ihres Zwillingsbruders zu schützen trachtete.
Seit Edwards Fortgang hatte ihr Vater die Dachkammer gemieden, als drohte dort die Ansteckung mit einer gefährlichen Krankheit. Mutterseelenallein hatte Hannah sich in die Beobachtungen gestürzt wie ein fanatischer Eiferer bei einer Erweckungszeremonie, doch ihr akribisches Absuchen des Nachthimmels hatte weder das Interesse ihres Vaters wieder aufflammen lassen noch eine einzige Neuheit am Himmelszelt offenbart.
Vielmehr schrumpften ihre Erfolge anscheinend umgekehrt proportional zum Weltall, das sich mit schwindelerregender Schnelligkeit ausweitete. Allein in den vergangenen zwei Jahren waren der Faye'sche Komet, der Komet De Vico und weitere Nebel entdeckt worden. Die Parallaxen von einem halben Dutzend Fixsternen waren berechnet worden; in Cleveland, Cambridge und Washington waren in Windeseile neue Sternwarten entstanden. All dies geschah - nur hatte sie keinen Anteil daran.
Hannah schob das Fernrohr auf seinem Dreifuß näher an ihren Schreibtisch heran und richtete das Instrument auf das flackernde Kerzenlicht, um das neue Fadenkreuz noch einmal in der Hoffnung zu betrachten, es würde ihre Stimmung heben. Doch da es hier nichts anderes zu erspähen gab als Spinnweben und Muschelschalen, war ihre kunstvolle Feinarbeit arg im Wert gesunken.
Hätte sie das Okular um wenige Grade geneigt, so wäre es ihr möglich gewesen, die Welt vor dem kleinen rautenförmigen Fenster durch den Brennpunkt des Objektivs zu sehen. Die Stadt Nantucket stand auf dem Kopf: Schiefer, Trauertauben, Granit, Disteln. Grautöne, hart wie Felsen und weich wie Schatten, Kopfsteinpflaster und Schindeln, Sand und Asche, so weit entfernt wie die schwärzlich schlickigen Piers und dahinter das bleierne wellige Meer. Jenseits der gewaltigen Sandbank, die den Hafen schützte, bohrten sich die Masten von einem Dutzend Walfangschiffen in den Horizont; westlich davon lagen gut vierzig Meilen offenes Meer bis zur Küste Neuenglands und knapp dreitausend in der anderen Richtung. Dazwischen bewohnten siebentausend Seelen ihre windgepeitschte Insel, von denen nur wenige sie jemals verließen. Wurde die Fahrt zum Festland durch Schneestürme oder andere Hindernisse unmöglich, kam das Leben auf der Insel zum Stillstand: Es gab keinen Handel und kein Gewerbe, kein Holz und keinen Geldumlauf, keine Nachrichten und kein Walöl und damit kein Licht.
Hätte sie auf das...
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