Schweitzer Fachinformationen
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Hope
Meine Fingerspitzen brennen bereits. Als ich den Bogen ein letztes Mal über die Saiten streifen lasse, verstummt die Musik mit einem letzten Echo um mich herum und hinterlässt eine erschreckende Stille. Doch in meinem Kopf höre ich noch immer Caprice No.24 von Niccolò Paganini. Die Melodie, die mich beinahe schon mein gesamtes Leben begleitet, in der ich aufblühe und gleichzeitig untergehe. Die Melodie, aus der sowohl meine Träume als auch meine Albträume gemacht sind. Musik ist viel mehr als aneinandergereihte Noten. Sie ist der Motor, der mich am Laufen hält.
Das Spielen ist für mich wie Atmen. Ich tue einfach nur das, was mein Herz höherschlagen lässt. Mit sechs Jahren nahm ich das erste Mal eine von Dads Geigen in die Hand. Meinen ersten Unterricht bekam ich mit sieben. Wenn ich das Leuten in meinem Umfeld erzähle, sind sie felsenfest davon überzeugt, dass meine Eltern mich dazu gezwungen hätten. Welches kleine Kind wünscht sich, solch ein klassisches Instrument zu lernen? Haben deine Eltern Druck auf dich ausgeübt? Würdest du nicht viel lieber den ganzen Tag mit deinen Freundinnen spielen?
Dabei habe ich es geliebt. Von der ersten Sekunde an habe ich die Melodien gespürt und gelebt.
Ich atme tief ein und muss mich regelrecht zwingen, meine Geige, die ich liebevoll Poppy nenne, in ihrem schwarzen Geigenkoffer zu verstauen und mich der Realität zu stellen. Heute ist der zwanzigste April. Mein zwanzigster Geburtstag, und früher war das mein Lieblingstag. Ich habe all meine Freunde eingeladen, und gemeinsam haben wir mit meiner Familie in unserem riesigen Garten unter einem bunten Pavillon gefeiert. Heute wäre der Pavillon zu groß. Denn mittlerweile sind beide geschrumpft: mein Freundeskreis und meine Familie.
Da sind so viele schöne Erinnerungen, die niemals verblassen werden. Sie werden immer so farbenfroh bleiben, wie ich sie erlebt habe, und das gibt mir Hoffnung. Hoffnung, nicht in einem Meer aus Grau zu ertrinken. Vielleicht ist genau das der Grund, warum meine Kleidung nie schlicht ist, warum ich alle möglichen Farben miteinander kombiniere, um nicht matt zu wirken. Ausgeblichen. Um nicht so auszusehen, wie ich mich fühle.
»Hippie-Hope?« Daisy, meine kleine Schwester, stürmt zur Tür herein und hüpft auf den Schaukelsitz, der von der Zimmerdecke hängt. Den Spitznamen hat sie mir verpasst, als sie vor einem Jahr mit Dad auf der Couch saß und im Fernsehen irgendwas über Hippies lief. Sie meinte, ich sehe genauso aus wie die Leute in der Flimmerkiste.
»Papa sagt, ich soll dich holen kommen, dir aber nicht verraten, dass er stundenlang in der Küche stand, um dir einen Kuchen zu backen.« Ihre grünen Augen, die sie von Mum hat, werden mit einem Mal doppelt so groß. Sie presst ihre kleine Hand auf den Mund. »Upsi.«
Ein Lächeln breitet sich auf meinen Lippen aus, während in meinem Kopf die Worte von Mora widerhallen, ob ich nicht langsam ausziehen wollen würde und dass ein Zimmer in ihrer WG frei wäre. Manchmal würde ich gerne aus diesem Stadthaus inmitten von South Kensington verschwinden, nur um mich direkt wieder daran zu erinnern, dass das nicht geht. Dass ich Daisy hier nicht allein lassen kann. Noch vor wenigen Jahren hätte ich das komplett anders gesehen. Mein Plan war es, nach meinem Jahr in Lima in Peru zurück nach London zu kommen und noch vor Beginn meines Studiums in eine WG zu ziehen. Doch seit unsere große Schwester Manon verstarb, ist in diesem Haus nichts mehr, wie es einst war. Ich würde es niemals übers Herz bringen, Daisy allein zu lassen.
Oft liege ich nachts wach und frage mich, wie ich Manons Tod verarbeitet habe, bis mir klar wird, dass ich es nie getan habe. Ich verdränge. Tag für Tag. Und darin bin ich verdammt gut. Ein Stück weit aus Egoismus und Selbstschutz. Ein viel größeres Stück aber, um für Daisy stark zu sein. Jetzt bin ich die Älteste. Die große Schwester. Die Schulter, an die sie sich immer anlehnen kann. Die Person, die immer auf sie aufpassen wird. Ich möchte für sie all das sein, was Manon für mich war. Der Mittelpunkt meines Universums und der Mensch, den ich immer am meisten bewundert habe.
»Bitte verrate Papa nichts.« Sie läuft auf mich zu, nimmt mir den Geigenkoffer aus der Hand, der neben ihr viel zu groß wirkt, und legt ihn behutsam auf den Boden. Dann schlingt sie ihre Arme um meinen Körper und drückt ihren Kopf gegen meinen Bauch.
»Schokolade?«, frage ich Daisy und wuschle ihr durch das hellbraune Haar. Mit Schokolade kann man mich immer glücklich machen. Ich kann mich an keinen Geburtstag erinnern, an dem es keine Schokotorte gab, bis auf den einen. Doch dieser Tag zählt nicht. Diesen einen Geburtstag vor zwei Jahren haben wir alle aus unserem Gedächtnis radiert. Zumindest reden wir uns das ein.
Sie nickt, nimmt meine Hand und zieht mich hinter sich her. Wann ist sie so groß geworden? Ich erinnere mich an die Zeit, in der sie noch Windeln getragen hat, als wäre es gestern gewesen, und heute ist sie bereits acht. Mum sagt immer, dass ich das schwarze Schaf der Familie sei. Während Manon und Daisy ruhige Kinder waren, war ich laut und hatte schon damals einen Dickkopf. Sie hat es nie böse gemeint, aber der Ton ihrer Stimme verriet mir stets, dass es ihr in gewisser Weise doch ein Dorn im Auge war und noch immer ist.
Als Daisy und ich gerade Hand in Hand mein Zimmer verlassen wollen, werfe ich noch einen kurzen Blick in den Spiegel. Ich bin das Ebenbild von Mum. Braune, wilde Locken, die spitze Nase, das ovale Gesicht, die vollen Lippen. Das Einzige, das ich optisch von Dad geerbt habe, sind die blauen Augen. Manon und Daisy hingegen kommen ganz nach ihm, nur dass die zwei die grünen Augen von Mum haben.
Gerade als ich die Tür hinter uns schließen möchte, macht sich mein Handy durch ein lautes Vibrieren bemerkbar. Ich beuge mich zu meiner Schwester hinunter und gebe ihr einen Kuss auf den Scheitel. »Gehst du schon einmal vor? Ich komme sofort und tue so, als wäre ich ganz überrascht von der Schokoladentorte. Versprochen.«
»Aber beeil dich, sonst hast du gleich keine Kerzen mehr zum Auspusten«, erwidert sie und rennt aus meinem Zimmer.
Barfuß laufe ich zu meinem Schreibtisch und erkenne auf dem Display eine eingehende WhatsApp-Nachricht von Lee. Die erste, seit wir Nummern ausgetauscht haben. Ich kann noch immer nicht glauben, dass ich sie ihm einfach so gegeben habe, als wäre es kein großes Ding. Normalerweise gebe ich nicht jedem x-Beliebigen meine Nummer.
Von: Lee
Happy Birthday. Hoffe, du hast einen schönen Geburtstag und genießt die Sonne. PS: Bin gerade im Cosy Corner, und Mora hat mir verraten, dass du heute Geburtstag hast. Bevor du wieder denkst, ich sei ein Stalker.
Erst als ich das Display wieder ausschalte, fällt mir in der schwarzen Spiegelung auf, dass ich ein breites Lächeln auf den Lippen trage. Mora glaubt vermutlich immer noch, dass Lee auf mich steht. Noch bin ich nicht dazu gekommen, ihr von unserem gestrigen Gespräch zu berichten. Sie wird Augen machen, wenn ich ihr sage, dass Lee mich gefragt hat, ob ich mit ihm befreundet sein möchte. In ihrer Vorstellung haben wir uns sicher zu einem Date verabredet.
Den ganzen gestrigen Abend über lag ich mit offenen Augen im Bett und habe den weißen mit Lichterketten beleuchteten Betthimmel über mir angestarrt. Unser Gespräch ging mir dabei unentwegt durch den Kopf. Auch wenn ich früher einen großen Freundeskreis hatte, so habe ich mich trotzdem stets schwergetan, neue Freundschaften zu schließen.
Obwohl es keine dreißig Sekunden dauern würde, mich bei ihm zu bedanken, beschließe ich trotzdem, mich später bei ihm zu melden. Ich möchte jetzt erst einmal den Tag hinter mich bringen, der mich vermutlich für den Rest meines Lebens an meine tote Schwester erinnern wird. Wieso? Wir haben am selben Tag Geburtstag. Heute wäre sie zweiundzwanzig geworden. Nur ist unser Geburtstag mittlerweile auch ihr Todestag.
Keiner in unserer Familie verbindet den zwanzigsten April noch mit etwas Positivem. Das Leben ist ein Arschloch und das Schicksal sein großer Bruder. Wieso sonst würde es einem Menschen an ein und demselben Datum das Leben schenken und dann wieder nehmen?
Noch immer barfuß laufe ich die Treppen hinunter. Unser gesamtes Haus ist sehr hell. Weiße Wände und Türen, helles Holz, helle Grautöne und sehr viel Beige. Im Bereich der Treppe und des Flures hängen unsere Familienfotos, und es wundert mich, dass wir es jeden Tag schaffen, an ihnen vorbeizulaufen, ohne in ein Meer aus Tränen auszubrechen.
Im Garten steht meine Familie, oder das, was noch davon übrig ist, mit dem Rücken zu mir. Dad hat seinen Arm um Mums Schultern gelegt, während ich Daisys rosafarbenes Kleid zwischen ihnen erkennen kann.
Ich schließe die Augen und sehe meine große Schwester vor mir. Wie sie tanzend auf mich zukommt. Ihre kurzen braunen Haare mit den blond gefärbten Spitzen hüpfen in der Luft auf und ab. Sie trägt das schönste Lächeln, das die Welt je gesehen hat. Sobald sie einen Raum betrat, war es, als würde alles leuchten.
Tief atme ich ein, stelle mir vor, ich könnte ihr blumiges Parfüm...
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