Kapitel 3 - Der Schacht
Es war Mitte Juli, ein warmer und sonniger Frühnachmittag. Seth saß an seinem Schreibtisch und überlegte, was er mit sich anfangen sollte, zu faul, um sich um etwas Konkretes zu bemühen. Seine Mutter, die gerade von ihrem Frühdienst nach Hause gekommen war, fand das schmutzige Frühstücksgeschirr und angeknabberte Mittagssnacks auf dem unaufgeräumten Küchentisch vor. Sie war beunruhigt, dass ihr Sohn zu viel Zeit zuhause verbrachte und machte sich Sorgen wegen seiner Teilnahmslosigkeit. Nach einem kurzen Klopfen an der Tür und einem "Hallo Seth" rauschte sie durch den Raum, öffnete die Fenstertür sperrangelweit und komplimentierte ihn, ohne Wenn und Aber, hinaus an die frische Luft. Mit der Autorität einer leitenden Krankenschwester gegenüber einem missmutigen Patienten befahl sie ihm unmissverständlich, sich zusammenzureißen und sich etwas Bewegung zu verschaffen. Widerwillig unterwarf er sich der Anweisung seiner Mutter.
Er musste nicht weit laufen - an den tristen Hinterhöfen von Moorend vorbei -, um das wilde Moorgelände zu erreichen, wo er allein und ungestört von Passanten spazieren konnte. Muckthorpe war ein kleines Dorf, in dem sich alle kannten, und er wollte nicht in ein zufälliges Gespräch verwickelt werden. Er ging schnell, ebenfalls in der Hoffnung, eine mögliche Konfrontation mit Burschen aus der City zu vermeiden. Außer ein paar jungen Frauen, die mit ihren kleinen Kindern im Park spielten und ihn nicht beachteten, begegnete er niemandem.
Mit verlangsamtem Schritt folgte er dem alten Schlackenpfad durch das Moor, den so viele Generationen von Bergleuten zu ihren langen Schichten unter Tage gegangen waren. Er ließ die Banalität von Moorend hinter sich, atmete den Duft der letzten Ginsterblüten in der warmen Sommerluft und lauschte dem Summen der Hummeln in der Glockenheide. Seine Gedanken schwebten in der Ferne und stellten sich weitverändernde Zukunftsvisionen vor.
Dann drängten sich ihm, wie aus dem Nichts, Bilder dieser Männer und Jungen in den Sinn, die hier bei jedem Wetter zur Arbeit getrottet waren. Er schauderte, als er ihre Gegenwart da draußen in dem einsamen Moor spürte, mit ihrem aschgrauen Teint auf dem Weg zur Zeche und den kohlschwarzen Gesichtern auf dem Heimweg. Als ob er dort nicht hingehörte, wich er den gespenstischen Gestalten aus und lief in das Moor hinein. Aufgeschreckte Schnepfenvögel zerstreuten sich im Zickzackflug, als er beinahe in einen kleinen Tümpel im hohen Pfeifengras hineingetreten wäre.
Um seine Gedanken neu zu ordnen, nahm er sein Smartphone aus der Tasche, fluchend, dass er den Akku nicht aufgeladen hatte, bevor seine Mutter ihn rausgeschmissen hatte. In das Handy vertieft, merkte er nicht, dass er geradewegs auf ein Dickicht aus Farnen und Gestrüpp zulief.
Dann erinnerte er sich an die wilden Himbeersträucher, die in diesem Teil des Moores wuchsen. Die Dorfkinder waren immer zu dieser Jahreszeit mit Körben und Schüsseln dorthin gegangen, um die roten Früchte an den wuchernden Sträuchern zu sammeln. Gleichzeitig wurden die Mäuler mit dem saftigen süßen Schmaus gestopft, mit Würmern und allem. Manchmal stritten rivalisierende Dorf- und City-Kids um die Ernterechte. Irgendjemand landete immer in den Brennnesseln und die Gegner suchten gemeinsam nach Ampferblättern, um den Ausschlag damit einzureiben. Das signalisierte meistens das Ende des Gefechts.
Halb mit den Gedanken bei den Himbeersträuchern und halb mit seinen Apps beschäftigt, übersah er die Reste eines verfallenen Sicherheitszauns. Sein Fuß blieb in einem zertrampelten, mit Wildpflanzen überwucherten Stacheldraht hängen und er stolperte in ein Büschel Farnkraut hinein. Kaum hatte er sein Gleichgewicht wiedererlangt, stieß sein Schuh gegen eine niedrige, ringförmige Backsteinmauer, die im dichten Gewächs versteckt war. Ehe er sich versah, befand er sich mit verschrammten Schienbeinen auf der anderen Seite der Mauer in verheddertem Dornengestrüpp. Als er durch die Schlingpflanzen und totes Unterholz taumelte, fiel ihm aus dem Augenwinkel ein ebener grüner Fleck auf. Mit einem Seitensprung gelang es ihm, auf der scheinbar sicheren, moosbedeckten Fläche zu landen.
Plötzlich gab es ein lautes Knacken und Splittern, als der Boden unter seinen Füßen nachgab und seine Beine durch aufplatzendes Grünzeug und zerbrechende Hölzer nach unten durchbrachen. Das Smartphone flog ihm aus der Hand, als er im freien Fall durch die Öffnung krachte und von dem Erdloch verschlungen wurde.
Der Sturz war kurz und heftig. Seine Stirn knallte gegen etwas Hartes und Kantiges, was einen Funkenregen, wie von einem Hammerschlag auf glühendem Eisen, vor seinen Augen aufblitzen ließ. Der Kollision folgte unmittelbar ein harter Aufprall, als seine Fersen schräg abrutschten und sein Hinterteil auf eine geneigte Oberfläche aufschlug. Er spürte, wie seine linke Hüfte schmerzhaft aufgescheuert wurde, als er mit Schlagseite einen steilen Abhang hinunterschlitterte. Plötzlich knallten seine Füße auf einen flachen Untergrund und die Knie und Sprunggelenke gaben nach als er mit einem wuchtigen Ruck zum Stillstand kam. Mit verstauchtem Knöchel, scharfem Stechen in der Hüfte und dumpfem Schmerz im Gesäß blieb er halb aufrecht auf der Schräge liegen. Sein Kopf drehte sich und tat übel weh. Er tastete vorsichtig über die Stirn, wo Blut aus einer Schnittwunde sickerte und sich bereits eine große Beule bildete.
Allmählich wurde Seth klar, in welcher Situation er sich befand. Er war offensichtlich in eine Art Bodensenke gefallen und krachend unten angekommen. Zum Glück lief das Loch nicht gerade nach unten und er hatte den Sturz überlebt. Es dauerte eine Weile, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Es gab gerade genug schwaches Tageslicht von oben durch das Loch, um seine Umgebung auszumachen. Er lag in einem muffigen, feuchten und schmutzigen röhrenförmigen Hohlraum mit einem Durchmesser von etwa dreieinhalb Metern. Am Fuß einer steilen Gefällstrecke ruhten seine Füße auf etwas, das eine Holzplattform zu sein schien. Laub- und Zweigreste und Fragmente von moosbedecktem morschem Holz lagen auf der Schräge verstreut. Auf einmal wurde ihm klar, dass er in einen alten Lüftungsschacht gefallen sein musste.
Im letzten Schuljahr hatte er das Kohlebergwerksmuseum mit seiner Schulklasse besucht. Ein pensionierter Steiger hatte sie 250 Meter tief zur Sohle heruntergebracht und erklärt, wie die Kohle abgebaut worden war. Er hatte sie aufgeklärt über die Gefahren von giftigen und explodierenden Gasen und die Funktion von Ventilationsschächten und Wettertüren in den Gängen. Nach der Führung hatten sich die anderen Schüler für die angebotenen Aktivitäten interessiert. Seth zog es eher in die Museumsbibliothek, in der er beiläufig Fotoarchive und ein altes Sicherheitshandbuch durchblätterte. Er hatte schon immer die phänomenale Fähigkeit, alle Arten von Informationen aufzusaugen, und nun kam ihn plötzlich eine von ihm zufällig gelesene Vorschrift in den Sinn: Eine Landeplattform muss an jedem Ort unter Tage installiert werden, an dem eine Leiter gegenüber einer anderen Leiter versetzt ist. Die Neigung und die Plattform hatten den Sturz aufgefangen und ihm das Leben gerettet.
Als er sich umsah, konnte er keine Leitern sehen, aber auf der Schrägstrecke waren zwei Reihen Löcher zu erkennen, die auf eine vorherige Befestigung hinwiesen. Die hölzerne Plattform schien solide genug zu sein, mit stabilen Balken, die in die gemauerte Schachtauskleidung eingebettet waren, aber eine Nassfäule ließ die Beplankung am Rande bereits verfallen.
Obwohl jede Bewegung schmerzte, machte er einen vorsichtigen Versuch, über den Rand des Podests zu spähen, schrak aber sofort mit Entsetzen zusammen. Er schaute in eine schwarze Leere, nur wenige Zentimeter vor sich. Instinktiv sprang er zurück, seine Füße rutschten auf der glitschigen Plattform aus und er schlug mit dem Hinterkopf auf.
Als wäre er von einem Blitz getroffen, durchbohrte ein brennender Schmerz seinen Schädel und versetzte ihn in eine Art Delirium. Vor seinen Augen schossen Sterne in alle Richtungen, schienen sich zu bündeln und zu flammenden humanoiden Formen zu verschmelzen. Als ob ihre ineinander verschlungenen, tanzenden und wiegenden Bewegungen sein ganzes Wesen einfangen würden, konnte er sich dem bizarren Fluss der geheimnisvollen Flammen nicht entziehen. Dann glitten die feurigen Körper, einer nach dem anderen, auf die Mündung des Abgrunds zu und zögerten einen Moment, als wollten sie ihn dazu verleiten, ihnen zu folgen. Er machte die Augen zu, entschlossen, all das Feuerwerk aus seinem Kopf zu verbannen. Mit den Händen vorm Gesicht hielt er sie fest geschlossen, bis der Schmerz nachließ und er seine Gedanken sammeln konnte. Als er sie wieder öffnete, waren die Flammen verschwunden, aber er war immer noch benommen und hatte Schwierigkeiten, klar zu denken.
Den Kopf in die...