Ein Heide hört das Evangelium
Mit dem 26. Vers in Apostelgeschichte 8 wechselt die Szene von den Dörfern Samarias zu der Wüste im Südwesten Jerusalems.
Der Bericht, der jetzt vor uns kommt, hat auch nicht viele Menschen zum Gegenstand, sondern nur eine einzige Person. Ihre Bekehrung ist für die Geschichte der frühen Kirche (Versammlung) von höchster Bedeutung. Deshalb füllt der Bericht des Lukas darüber auch den restlichen Teil des Kapitels aus. Zudem ist die Reihenfolge in der Berichterstattung höchst beachtenswert: Zuerst hören wir von der Bekehrung der Samariter, dann von der Bekehrung eines Heiden und dann von der Bekehrung des Saulus von Tarsus (Kap. 9).
Der ungenannte Kämmerer aus Äthiopien ist der erste Heide, der das Evangelium von Jesus Christus verkündigt bekam und der sich wahrhaft zum Christentum, zu Christus bekehrte. Sicher handelte es sich bei ihm um einen Proselyten (ein durch Beschneidung zum Judentum übergetretener Nichtjude), die Juden aber sahen in ihm dennoch nichts anderes als einen Heiden. In seiner Person hielt das Evangelium in Afrika Einzug - in das "schwarze" Afrika. Während zum Beispiel in Alexandrien viele Juden lebten, wohnten in dem tiefer gelegenen Äthiopien (früher auch Abessinien genannt) Menschen von tiefschwarzer Hautfarbe, Nachkommen Kuschs (1. Mo 10,6). Nach dem Willen
des Herrn sollte das Evangelium die engen Grenzen Judäas und Samarias verlassen, sollte ihm nun die Tür in die weite Welt geöffnet werden. Sein Werkzeug dafür war wieder keiner der Apostel, sondern derselbe "Evangelist", den Er schon unter großem Segen in Samaria benutzt hatte.
In die Wüste gesandt
"Ein Engel des Herrn aber redete zu Philippus und sprach: Steh auf und geh nach Süden auf den Weg, der von Jerusalem nach Gaza hinabführt; dieser ist öde. Und erstand auf und ging hin" (Apg 8,26.27).
Wir können uns gut vorstellen, dass Philippus unter den Gläubigen Samarias glückliche Tage verlebt hat. Das Wort des Herrn hatte sich erfüllt, das Er einst Seinen Jüngern bei Seinem Besuch dieser Provinz gesagt hatte: "Der erntet, empfängt Lohn und sammelt Frucht zum ewigen Leben, damit beide, der sät und der erntet, zugleich sich freuen" (Joh 4,36). Ein anderer, ein Größerer als Philippus hatte dort gesät und gearbeitet, und Philippus war in Seine Arbeit eingetreten, hatte ernten dürfen. So war er gewürdigt, mit seinem Herrn und Meister die Freude zu teilen.
Wie viele Menschen in Samaria damals zum Glauben kamen, teilt uns die Heilige Schrift nicht mit. Es ist nicht unsere Sache, "zusammenzuzählen", obwohl die Menschen gerade das so gern tun. Nur zu Anfang der Apostelgeschichte macht der Heilige Geist Angaben darüber, wie viele jeweils gläubig wurden; aber da handelte es sich ausschließlich um Gläubige aus den Juden (Apg 2,41; 4,4). Doch seitdem das Evangelium die engen Grenzen Jerusalems überschritt, finden wir solche Angaben nicht mehr.
Mitten aus seiner segensreichen Arbeit heraus wird nun Philippus abgerufen. Durch einen Engel des Herrn erhält er den Auftrag, sich bereit zu machen ("Steh auf") und sich auf den Weg zu begeben, der von Jerusalem nach Gaza hinabführt, und der Engel fügt bedeutungsvoll hinzu: "Dieser ist öde."[1] Kein sehr einladender Auftrag, möchte uns scheinen. Obwohl Philippus weder die Bedeutung noch das Ziel seiner Sendung kannte, war er augenblicklich dem Willen Gottes gehorsam: "Und er stand auf und ging hin." Wie später Paulus war er dem himmlischen Gesicht nicht ungehorsam (Apg 26,19), obwohl uns nicht einmal gesagt wird, dass er den Engel des Herrn gesehen hat. Er hörte die Botschaft, und das genügte ihm.
Wenn er wie Jona nach Entschuldigungsgründen dafür gesucht hätte, nicht zu gehen, er hätte gewiss genug gefunden. Hatte der Herr ihm nicht eine weite Tür in Samaria geöffnet? Hörten ihm nicht ganze Scharen von Menschen zu, wenn er predigte? Waren nicht viele zum Glauben an den Herrn Jesus gekommen und brauchten nun weitere Belehrung? Hätte der Herr ihn von der einen Stadt in eine andere Stadt Samarias gerufen, das hätte ihm einleuchten können. Doch die Stadt zu verlassen und in die Wüste zu gehen - das stellte eine nicht geringe Prüfung seines Glaubens dar. Nur einfältiges, bedingungsloses Vertrauen konnte sie bestehen und - bestand sie.
Ob Philippus den Weg über Hebron wählte oder die mehr westliche Route einschlug - in jedem Fall musste er die bewohnten Gebiete verlassen und das unwirtliche Gebiet durchqueren, das sich südwärts nach Ägypten und zum Roten Meer hin erstreckt. Mühsam mochte er seinen Weg über Sand und Geröll nehmen - eine Straße, die Reisende vor ihm nur unvollkommen gebahnt hatten. Philippus wusste noch nicht, warum er auf diese Straße gesandt worden war oder was er hier tun sollte. Er vertraute darauf, dass der Herr ihm das schon zeigen würde.
Wie viel können wir von diesem Diener lernen! Auf Geheiß seines Meisters war er bereit, sein gesegnetes Arbeitsfeld zu verlassen und in die >Wüste< zu gehen, um dort einem neuen Auftrag entgegenzusehen. Gerade Evangelisten haben die Aufgabe, mit der guten Botschaft von einem Ort zum anderen zu ziehen, ob sie dort viele antreffen mögen oder nur einen einzigen Menschen. Wenn wir bedingungsloser gehorchen würden, so würden auch wir erfahren, wie wunderbar die Wege des Herrn sind und mit welch göttlicher "Präzision" sie ineinander greifen.
Ein Mann, ein Äthiopien
Haben wir bisher ein wenig den Weg des Philippus verfolgt, so kommt nun der Weg eines anderen Mannes vor uns, eines Äthiopiers. Beide Wege kreuzen sich, vereinen sich für kurze Zeit, um sich dann wieder - wahrscheinlich für immer - zu trennen. Ja, es ist schon etwas Besonderes um die Wege Gottes! Sie nötigen uns Respekt und Ehrfurcht ab.
"Und siehe, ein Äthiopier (wörtlich: ein Mann, ein Äthiopier), ein Kämmerer, ein Gewaltiger der Kandaze, der Königin der Äthiopier, der über ihren ganzen Schatz gesetzt war, war gekommen, um in Jerusalem anzubeten; und er war auf der Rückkehr und saß auf seinem Wagen und las den Propheten Jesaja" (Apg 8,27.28).
Mit einem "Und siehe" gibt Lukas die Überraschung wieder, die Philippus empfunden haben muss, als er auf seinem einsamen Weg plötzlich eines Reisenden mit seinem Gefolge gewahr wurde. Es handelte sich, wie der Schreiber vorwegnimmt, um einen Äthiopier, einen Mann von tiefschwarzer Hautfarbe. Das griechische Wort für Äthiopien setzt sich aus zwei Wörtern zusammen, die >brennen< und >Angesicht< bedeuten: Mensch von verbranntem Angesicht. Damit wird auf die Rasse und Nationalität hingewiesen, und nicht nur auf den Wohnsitz des Mannes. Der Vorstellung, dass es ein Jude gewesen sein könnte, der in Äthiopien zu Macht und Reichtum gekommen war, wird somit jeder Boden entzogen. Nein, es war ein Äthiopier, ein Schwarzer, ein Heide - ein Nachkomme nicht Sems,
sondern Harns. Der ganze Verlauf der Geschichte bestätigt das. "Kann ein Äthiopier (früher: Mohr) seine Haut wandeln", fragt einmal der Herr, "ein Leopard seine Flecken?" (Jer 13,23). Gewiss, seine Hautfarbe konnte auch dieser Äthiopier nicht ändern. Gleichwohl konnte und würde Gott seinen Charakter, sein Leben verändern, von Grund auf.
Dieser Mann war ein Kämmerer oder besser Eunuch, und zwar im buchstäblichen Sinn: ein Verschnittener. Denn seine offizielle Stellung wird erst anschließend beschrieben: ein Gewaltiger oder Herrscher unter der Kandaze[2], der Königin der Äthiopier, ihr Schatzmeister. Die Tatsache, dass er ein Eunuch war, versperrte ihm in der Zeit des Gesetzes den Weg in die Versammlung des Herrn, in die inneren Vorhöfe des Tempels (5. Mo 23,2). Und doch hatte Gott in Seiner Gnade solchen Fremden und Verschnittenen, die Seine Sabbate halten und an Seinem Bund festhalten würden, die wunderbare Zusage gegeben, dass Er ihnen in Seinem Haus und in Seinen Mauern einen Platz geben würde und einen Namen, besser als Söhne und Töchter: einen ewigen Namen (Jes 56,3-5). Auf ungeahnte Weise sollte sich nun diese Verheißung an diesem Fremden erfüllen.
Er war nach Jerusalem gekommen, um dort anzubeten, obwohl ihm der Zutritt zum Tempel verwehrt war. Dass es ihm mit der Anbetung des Gottes Israels ernst war, beweist die lange und gefahrvolle Reise, die er zu diesem Zweck unternommen hatte. Doch im Unterschied zur Königin von Scheba (1. Kön 10), die eine ähnlich große Entfernung vom südlichen Arabien zu überwinden gehabt hatte, fand er in Jerusalem nicht das, wonach ihn verlangte. Suchend war er gekommen, und unbefriedigt und noch immer suchend zog er wieder heimwärts.
Aber etwas führte er bei sich, das er aller Wahrscheinlichkeit nach vorher nicht besessen hatte: eine kostbare, gewichtige Buchrolle - den Propheten Jesaja. Ein großer Schatz, in der Tat, den kaum jemand in jenen Tagen sein Eigen nennen konnte! Wie wenig sind wir demgegenüber dankbar, dass wir heute das ganze Wort Gottes in der Hand halten dürfen - für jeden erschwinglich, für jeden zugänglich!
Dieser Mann aber las in dem neu erworbenen Schatz. So sehr war er davon in Anspruch genommen, dass er den fremden Wanderer nicht bemerkte, der sich ihm langsam näherte. Hatte er vielleicht diese einsame Route gewählt, um Muße zum ungestörten Forschen in dieser Schriftrolle zu finden? Offenbar lag sie aufgerollt auf seinen Knien, und er las sich daraus laut vor. Dass er laut las, ist sicher nicht allein ein Hinweis auf seinen Ernst und seine Hingabe, womit er zu Werke ging. Das Lesen der griechischen Texte der Septuaginta (Übersetzung des Alten Testaments ins Griechische) war auch recht mühevoll, weil jede Lesehilfe wie...