Das Murren der Hellenisten
Apostelgeschichte 6, Verse 1-7
Durch die Gnade Gottes war der äußere Angriff Satans auf die junge Versammlung, vorgetragen von den Sadduzäern, abgewehrt worden. Dazu war Gott nicht wie bei früheren Gelegenheiten durch äußere Machtentfaltung, zum Beispiel durch Engel, ins Mittel getreten, sondern Er hatte in Seiner Vorsehung gehandelt, hatte den menschlich klugen Rat eines Pharisäers, eines der Feinde Seines Sohnes, dazu benutzt. Ihm ist es ein Leichtes, das eine oder das andere zu tun.
Hellenisten - Hebräer
Mit dem Beginn des sechsten Kapitels der Apostelgeschichte erhebt sich nun eine neue Schwierigkeit. Ähnlich der um Ananias und Sapphira zu Anfang des fünften Kapitels ist sie innerer Art, und es macht uns keine Mühe, dahinter denselben Feind, Satan, zu erkennen. Versteht er es doch meisterhaft, das Fleisch in den Gläubigen zu benutzen, um von innen her die Versammlung zu schädigen.
Seine Angriffe von innen oder von hinten sind stets die gefährlicheren. Wenn er frontal als brüllender Löwe angreift, wird er leichter erkannt, als wenn er eine listige Schlange am Weg ist, "eine Hornotter am Pfad, die da beißt in die Fersen des Rosses, und rücklings fällt sein Reiter" (1. Mo 49,17). Und so erfahren wir nun:
"In diesen Tagen aber, als die Jünger sich mehrten, entstand ein Murren der Hellenisten gegen die Hebräer, weil ihre Witwen bei der täglichen Bedienung übersehen wurden" (Apg 6,1).
Der Charakter der Schwierigkeit wird deutlicher, wenn wir verstehen lernen, um wen es sich bei den >HeIlenisten< und den >Hebräern< handelt.
Die Hellenisten werden hier zum ersten Mal erwähnt. In Kapitel 9, Vers 29, begegnen sie uns noch einmal. Danach erwähnt sie Lukas nicht mehr. Was der Name >Hellenist< bedeutet, kann man gut aus einem Vers in Kapitel 21 herleiten. Der römische Oberste fragt dort den Apostel Paulus: "Verstehst du Griechisch (gr. Hellenistí)?" (Vers 37). >Hellenisten< wurden daher griechisch sprechende Juden genannt, im Unterschied zu den aramäisch sprechenden Juden, den >Hebräern<. Die >Hellenisten< waren nicht etwa Griechen (gr. Héllenes) sondern genauso gut Juden wie die >Hebräer<. Nur wohnten sie üblicherweise nicht in Palästina, sondern sie waren in fremden Ländern aufgewachsen. Eine Aufzählung ihrer verschiedenen Herkunftsländer gibt uns Kapitel 2, Verse 9-11. Ihre angestammte aramäische Sprache hatten sie zugunsten des Griechischen aufgegeben, und auch in ihren Synagogen lasen sie die heiligen Texte in ihrer griechischen Übersetzung, der Septuaginta. Dennoch blieben sie in ihrer Mehrheit loyale (treue) Juden und besuchten auch die Feste in Jerusalem. Wir müssen also unter den >Hellenisten< des Neuen Testaments nicht verweltlichte Juden verstehen, die mehr oder weniger griechische, heidnische Gewohnheiten angenommen hatten. Auch in Jerusalem muss eine große Anzahl von Hellenisten gelebt haben.
Die Hebräer waren die Juden Palästinas. Sie hatten ihre aramäische[1] Muttersprache beibehalten. In ihren Synagogen benutzten sie nur die originalen hebräischen Schriften. Auch sie sprachen Griechisch, wenn auch mangelhafter. Dass sie nicht wenig stolz darauf waren, >Hebräer< zu sein, wird von Stellen wie 2. Korinther 11, Vers 22, und Philipper 3, Vers 5, bestätigt.
Wenn auch die Trennungslinie zwischen den >Hellenisten< und den >Hebräern< nicht scharf verlief, so gab es doch zwischen ihnen Spannungen, um nicht zu sagen: Spaltungen. Allein der Umstand, dass die Hellenisten eigene Synagogen unterhielten - fünf von ihnen werden später in unserem Kapitel genannt (Vers 9) -, deutet auf bestehende Differenzen hin. Auch dass die Hellenisten die Heiligen Schriften nicht in der "heiligen Sprache", dem Hebräischen, lasen, machte sie in den Augen der eingeborenen Juden verächtlich.
Murren statt Gottvertrauen
Wenn nun in jenen Anfangstagen ein Murren der Hellenisten gegen die Hebräer entstand, so müssen wir im Auge behalten, dass es sich bei beiden hier genannten Gruppen um Jünger, um gläubige Christen, handelte. Aber die einen waren eben aus den hellenistischen Juden, die anderen aus den palästinensischen Juden hervorgegangen. Das Traurige war nun, dass die alten Rivalitäten sich auch in den neuen Beziehungen geltend machten. Das sollte nicht so sein, ist aber leider eine Erscheinung, die wir bis in unsere Tage beobachten können. Wir müssen alle davor auf der Hut sein, nationale oder soziale Belange mit den heiligen Beziehungen zu vermischen, in die die Gnade Gottes uns gebracht hat. Es hat noch immer nur zum Unheil geführt.
Ist es nicht auch bezeichnend, dass sich das Murren erhob, "als die Jünger sich mehrten"? Gerade dann, wenn der Herr besonders wirkt, ist auch der Widersacher vermehrt tätig. Und wenn die äußere Zahl wächst, besteht verstärkt die Gefahr, dass die innere Kraft der Liebe und des Glaubens abnimmt. Auch können sich gewisse Unordnungen in größeren Gruppen leichter ausbreiten als in kleineren. Doch müssen wir andererseits nicht glauben, dass wir allein dadurch, dass wir vielleicht wenige sind, vor der Wirksamkeit des Fleisches verschont bleiben. Nur das Bewusstsein der Gegenwart des Herrn bewahrt uns. Fing es vielleicht bei einigen Jüngern schon damals an zu schwinden?
Das Murren der Hellenisten erhob sich dagegen, dass ihre Witwen gegenüber denen der Hebräer bei der täglichen Bedienung benachteiligt oder vernachlässigt wurden. Jedenfalls behaupteten sie das. Die Schrift sagt jedoch nicht, dass es so war. Da dieser Dienst bis dahin allein den Aposteln oblag - der göttliche Bericht gibt keinen Hinweis auf irgendwelche Helfer, denen solch ein Fehler unterlaufen sein könnte -, wirft diese Behauptung den Schatten der Parteilichkeit auf die Apostel selbst. Doch wenn wir die Weisheit und Gnade bedenken, mit denen die Apostel der aufkeimenden Gefahr begegneten, wird deutlich, wie unberechtigt der Vorwurf war.
Bei der >Bedienung< handelte es sich um das Aus- oder Verteilen der Mittel, die die Begüterten unter den ersten Christen für ihre ärmeren Brüder großherzig gespendet hatten. "Es wurde aber jedem ausgeteilt, so wie einer irgend Bedarf hatte", heißt es in Kapitel 4, Vers 35. Es mag sich direkt um Geld gehandelt haben oder um andere materielle Güter, die aus dem Fonds beglichen wurden. Da die Schar der Jünger bereits stark angewachsen war, muss es damals schon Hunderte von hilfsbedürftigen Witwen gegeben haben. Sie alle recht zu versorgen war gewiss keine leichte Aufgabe. Dennoch können wir, wie bemerkt, nicht davon ausgehen, dass das Murren der Hellenisten wirklich berechtigt war. Gewöhnlich sind es ja gerade die falsch Handelnden, die Fehler bei solchen suchen, die besser dastehen als sie selbst. Auch lässt nichts im weiteren Verlauf der Begebenheit darauf schließen, dass der Vorwurf zu Recht bestand. Das vollständige und edle Stillschweigen derer, gegen die der Vorwurf erhoben wurde, lässt eher das Gegenteil vermuten.
Hinter dem Murren stand wohl nichts anderes als Unzufriedenheit und Eifersucht. Selbst wenn ein gewisser Grund zur Klage bestanden hätte, sind Murren und Aufbegehren nicht der göttlich gewiesene Weg, um Fehlentwicklungen zu korrigieren. Murren ist ein hervorstechendes Kennzeichen der gottlosen Menschen in den letzten Tagen: "Diese sind Murrende, mit ihrem Los Unzufriedene, die nach ihren Begierden wandeln", wird in Judas 16 gesagt. Ja, das verbirgt sich stets hinter dem Murren: Man ist mit dem Teil, das Gott einem zugemessen hat, nicht zufrieden.
Darin liegt das eigentlich Böse des Murrens. Man nimmt das Wort gegen Gott und zieht Seine Weisheit und Liebe in Zweifel. Deshalb werden die Kinder Gottes ermahnt, alles "ohne Murren und zweifelnde Überlegungen" zu tun (Phil 2,14).
Das erste Versagen des aus Ägypten erlösten Volkes Israel war Murren gewesen (2. Mo 15,24), und das erste Anzeichen von geistlicher Schwäche unter den ersten Christen war ebenfalls von Murren begleitet. Und wie die Israeliten gegen Mose, den von Gott gegebenen Führer, gemurrt hatten, so richtete sich auch das Murren der Hellenisten letztlich gegen die Apostel selbst, unter deren Aufsicht die Verteilung der Gelder geschah. Insofern war der vorliegende Fall von ernsterer Art als der von Ananias und Sapphira. Bei ihnen handelte es sich um persönliche Verfehlungen.
Hier aber wurde durch das Murren einer ganzen Gruppe die Gefahr heraufbeschworen, dass die junge Versammlung Gottes in Uneinigkeit gestürzt und gespalten wurde. Unter den sieben Stücken, die der Seele Jehovas (Jahwes) ein Gräuel sind, wird schließlich jemand genannt, der "Zwietracht ausstreut zwischen Brüdern" (Spr 6,19). Sollte uns das nicht zu denken geben? Zwietracht zwischen Brüder auszustreuen kann leider auf vielerlei Art geschehen. Murren aber und Aufbegehren bedrohen stets den Frieden und das Gedeihen der Versammlung. Vertrauen wir dagegen auch in kritischen Situationen auf Gott, so wird Sein Friede nicht nur uns selbst bewahren, sondern auch die Versammlung.
Zu unserer Warnung sollten wir noch festhalten, dass beide internen Schwierigkeiten - die Heuchelei von Kapitel 5 und das Murren von Kapitel 6 - direkt durch die Tätigkeit der freigebigen Liebe zu den Armen ausgelöst worden waren. Unter der reichen Aussaat sprosste gar bald auch verschiedenerlei Unkraut empor, wodurch die Treue und Weisheit der jungen Versammlung auf die Probe gestellt wurde. Die Falschheit von Ananias und die Unzufriedenheit der Hellenisten waren zwar verschiedene "Unkräuter", aber sie wuchsen auf demselben Feld. Die eine Wurzel der Bitterkeit erwuchs in den...