Aus der Fremde in des Vaters Haus
ZUR GRUNDLAGE DIESES ersten Kapitels wollen wir das Gleichnis vom "verlorenen Sohn" in Lukas 15 nehmen, dessen erster Teil folgenden Wortlaut hat:
"Er sprach aber: Ein gewisser Mensch hatte zwei Söhne; und der jüngere von ihnen sprach zu dem Vater: Vater, gib mir den Teil des Vermögens, der mir zufällt. Und er teilte ihnen die Habe. Und nach nicht vielen Tagen brachte der jüngere Sohn alles zusammen und reiste weg in ein fernes Land, und dort vergeudete er sein Vermögen, indem er ausschweifend lebte. Als er aber alles verschwendet hatte, kam eine gewaltige Hungersnot über jenes Land, und er selbst fing an, Mangel zu leiden. Und er ging hin und hängte sich an einen der Bürger jenes Landes; und der schickte ihn auf seine Felder, Schweine zu hüten. Und er begehrte seinen Bauch zu füllen mit den Futterpflanzen, die die Schweine fraßen; und niemand gab ihm. Als er aber zu sich selbst kam, sprach er: Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben Überfluss an Brot, ich aber komme hier um vor Hunger. Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und will zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir, ich bin nicht mehr würdig, dein Sohn zu heißen; mache mich wie einen deiner Tagelöhner. Und er machte sich auf und ging zu seinem Vater. Als er aber noch fern war, sah ihn sein Vater und wurde innerlich bewegt und lief hin und fiel ihm um den Hals und küsste ihn sehr. Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir, ich bin nicht mehr würdig, dein Sohn zu heißen. Der Vater aber sprach zu seinen Knechten: Bringt schnell das beste Gewand her und zieht es ihm an und tut einen Ring an seine Hand und Sandalen an seine Füße; und bringt das gemästete Kalb her und schlachtet es und lasst uns essen und fröhlich sein; denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein" (Lk 15,11-24).
Es ist ein sehr ernstes und zugleich ein überaus liebliches Bild, das der Herr Jesus hier vor unseren Augen entwirft. Ernst: weil es uns den Weg des Menschen weg von Gott zeigt. Lieblich: weil es uns vorstellt, wie der Vater den Zurückkehrenden aufnimmt.
Gleichnisse
Ehe wir uns dem vorstehenden Bibeltext näher zuwenden, seien einige Hinweise erlaubt, die von Nutzen sein können. Wenn der Herr Jesus Worte der Gnade und Belehrung ausspricht, sind sie immer - so einfach sie klingen mögen - von tiefster Bedeutung und Wahrheit. Wir erwarten das auch gar nicht anders, wenn wir bedenken, dass Gott, der Sohn, spricht, dass Der redet, der selbst das lebendige Wort Gottes, der selbst die Wahrheit ist. Auch wenn der Herr seine Unterweisungen in die Form von Gleichnissen kleidet, sind seine Worte vollkommene Wahrheit und von unergründlicher Tiefe. Wir werden das, so hoffe ich, bei der Betrachtung des Gleichnisses von dem verlorenen Sohn noch finden.
Hier spricht also Der, über dessen Lippen Holdseligkeit ausgegossen ist (Ps 45,2), aus dessen Mund Worte der Gnade (Lk 4,22), aber auch Worte der Wahrheit (Lk 4,25) kamen, dessen Worte wir eingedenk sein müssen (Apg 20,35); denn "niemals hat ein Mensch so geredet wie dieser Mensch" (Joh 7,46). Die Worte der Apostel und Propheten des Alten und Neuen Testaments, die in der Heiligen Schrift niedergelegt sind, waren gleichfalls vom Heiligen Geist inspiriert, d.h. eingegeben; aber diese heiligen Männer erfuhren nicht immer diese Inspiration. Christus dagegen sprach immer ohne Irrtum. Jedes seiner Worte ist absolute Wahrheit, und seine Schafe hören seine Stimme (Joh 10,27).
Ein Gleichnis ist keine Fabel, welche die Dinge entgegengesetzt der Natur darstellt. Einem Gleichnis liegt stets ein Vorgang aus dem normalen Leben zugrunde, wie er täglich vorkommen kann. Ein Gleichnis mag nicht eine tatsächliche Begebenheit schildern, aber so könnte sie geschehen sein. Anhand dieses natürlichen Vorgangs wird ein geistlicher Vorgang oder eine göttliche Wahrheit erklärt.
Ferner ist zu bedenken, dass in einem Gleichnis nicht jede Einzelheit eine geistliche Bedeutung hat. Auch gibt ein Gleichnis nicht jede Seite der göttlichen Wahrheit wieder, sondern es zeigt vielmehr eine Hauptlinie der Belehrung auf, die wir erfassen sollen. Darin liegt gerade der Wert und die Bedeutung der Belehrung durch Gleichnisse.
Im Ganzen sind es drei Gleichnisse, die das 15. Kapitel des Lukasevangeliums enthält. Dem Gleichnis vom verlorenen Sohn, bzw. von den beiden Söhnen, gehen die Gleichnisse vom verlorenen Schaf und der verlorenen Drachme voraus. Alle drei Gleichnisse sind eine Antwort des Herrn auf den Vorwurf der selbstgerechten Pharisäer, dass Er Sünder aufnehme und mit ihnen esse. Im Gleichnis vom verirrten Schaf geht der Hirte dem Schaf nach, bis er es findet. Im Gleichnis von der verlorenen Drachme nimmt die Frau die Lampe und sucht so lange, bis sie sie findet. Und im Gleichnis vom verlorenen Sohn wartet der Vater auf den verlorenen Sohn, bis er heimkommt, und nimmt ihn mit bewegtem Herzen auf. So deutet der Herr eine gewaltig große Wahrheit an, die wir gleich zu Anfang ins Herz aufnehmen wollen: Die ganze Dreieinheit Gottes - Gott, der Sohn, und Gott, der Heilige Geist, und Gott, der Vater - ist in Gnade mit der Errettung von Sündern beschäftigt. In allen drei Gleichnissen ist Freude das Ergebnis: Freude im Himmel über einen Sünder, der Buße tut.
Vielleicht ist einer meiner geschätzten Leser bereits jetzt geneigt, dieses Buch ungehalten wegzulegen. Er wollte nicht von "Sündern" und vom "Buße-Tun" hören. Doch bedenke: Gott liebt dich; Er beschäftigt sich mit dir und wartet auf dich, dass du heimkommst. Folgst du den Erfahrungen, die nun vor uns gestellt werden, so wird das Ende unaussprechliche Freude sein: "Und sie fingen an, fröhlich zu sein." Lass dich doch von dem Heiland der Sünder, der auch dein Heiland sein will, an die Hand nehmen und in das Haus des Vaters führen, wo du das findest, was du hier auf der Erde vergeblich suchst - Freude und Frieden!
Fassen wir noch einmal das bisher Gesagte zusammen. Der Herr Jesus zeigt uns in den Gleichnissen von Lukas 15, wie sich Gott in seiner Gnade um den verlorenen Menschen bemüht, um ihn zurück zu sich zu bringen. Er zeigt uns hier nicht, worauf das Heil ruht, zeigt uns nicht das Sühnungswerk, das Er vollbracht hat. Was Er uns hier zeigt, ist dies: den Weg zum Heil - den Weg AUS DER FINSTERNIS ZUM LICHT.
Die Verantwortlichkeit des Menschen
"Er sprach aber: Ein gewisser Mensch hatte zwei Söhne" (V. 11).
Dieser, das Gleichnis einleitende Satz deutet den Ursprung des Menschen als Geschöpf an: Er ist ein Geschöpf Gottes, hat seinen Ursprung in Gott. Ich sage: "deutet an", weil wir hier nicht die Lehre darüber haben, wohl aber eine Andeutung davon. Die Lehre selbst wird uns im Epheserbrief gegeben: "ein Gott und Vater aller, der über allen und durch alle und in uns allen ist" (Kap. 4,6). Als Schöpfer, das will uns diese Stelle sagen, ist Er der Gott und Vater aller Menschen. In diesem Sinn sagt auch Paulus auf dem Areopag zu den Athenern: "Er hat aus einem Blut jede Nation der Menschen gemacht, . Denn in ihm leben und weben und sind wir, wie auch einige eurer Dichter gesagt haben: ,Denn wir sind auch sein Geschlecht.' Da wir nun Gottes Geschlecht sind ." (Apg 17,26-29). Auch wird die Herkunft Adams in Lukas 3,38 direkt von Gott hergeleitet: "des Adam, des Gottes."
Dass wir als Gottes Geschöpfe aus seiner Hand hervorgegangen sind, dass Er einst "den Odem des Lebens" in die Nase des Menschen hauchte (1. Mo 2,7), ist durchaus keine nebensächliche Sache. Wäre sie so nebensächlich, würde sie der Teufel nicht derart bekämpfen durch Entwicklungstheorien usw., durch die er versucht, Gott als Schöpfer in den Augen der Menschen beiseitezusetzen. Tatsächlich liegt in dem Umstand, dass wir in dem Bild Gottes und nach seinem Gleichnis erschaffen (1. Mose 1,26) und somit mit Einsicht und Vernunft begabte Geschöpfe Gottes sind, unsere Verantwortlichkeit vor unserem Schöpfer begründet. Nicht nur sind wir Ihm für das, was Er uns in seiner Güte als seinen Geschöpfen an Gaben und Fähigkeiten anvertraut hat, direkt und persönlich verantwortlich, sondern weil wir in seinem Bild erschaffen sind, sind wir auch verantwortlich, Gott in dieser Welt durch diese Fähigkeiten darzustellen; denn "Bild" bedeutet "Darstellung". Deswegen schuldet Ihm jeder Mensch Gehorsam. Er mag nicht viel von der Bibel verstehen oder gar nie etwas von Christus gehört haben; aber die Tatsache, dass er einen Schöpfer hat, der ihm seine ewige Kraft und seine Göttlichkeit in der sichtbaren Schöpfung kundgemacht hat, macht ihn vor Ihm verantwortlich, "damit sie ohne Entschuldigung seien" (lies Röm 1,18-25).
Um noch einem irrigen Gedanken vorzubeugen: Diese beiden Söhne des Vaters bilden nicht etwa Kinder Gottes vor, die durch die Gnade Gottes bereits von "Neuem geboren"...