Schweitzer Fachinformationen
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Marlein hatte das Gefühl, dass ihre Arme länger und länger wurden unter der Last der Eimer. Wie oft hatte sie dem Drang widerstehen müssen, das Wasser einfach aus der Schutter zu schöpfen, die unmittelbar an ihrem Birnbaumhäusle vorbeirauschte! Aber die Schanzer, wie sich die Ingolstädter gern nannten, wuschen nicht nur ihre Wäsche in dem kleinen Fluss, sondern kippten auch ihren Unrat hinein. Wenn Marlein recht darüber nachdachte, mochte sie nicht wissen, was noch alles darin herumschwamm. Da nahm sie doch lieber den Weg zum Marktplatz auf sich, um am Brunnen Wasser zu holen. Außerdem würde sich Hannes im Grabe herumdrehen, wenn sie mit dem Wasser der Schutter sein Stachusbier braute. In diesem Augenblick schien es ihr, als hörte sie die vorwurfsvolle Stimme ihres verstorbenen Mannes im Ohr. Wie oft hatte er sie für ihre Missgeschicke gerügt, für Kleinigkeiten, wie einen umgestoßenen Eimer oder verschüttetes Bier! Und wenn etwas zu Bruch gegangen war, hatte er sie für den Rest des Tages mit Verachtung gestraft.
Marlein seufzte, stellte kurz die Eimer zu ihren Füßen ab und zog sich die Schaube enger um die Schultern. Der Ostermonat im Jahr 1516 wollte nicht an Wärme gewinnen. Wenn auch der Schnee bereits geschmolzen war, pfiff immer noch ein eisiger Wind durch die engen Gassen, der des Nachts den Frost in den Boden trieb. Marlein blies sich kurz auf die steifen Finger und hob die Eimer wieder auf, denn der Weg würde nicht kürzer werden, wenn sie hier herumstand. Sie dachte an Brauer Jacob, der unmittelbar in ihrer Nachbarschaft wohnte. Anders als sie war er in der glücklichen Lage, einen eigenen Brunnen zu besitzen. Aber Jacob würde gewiss eher dem Teufel den Hintern küssen, als sie das Wasser daraus schöpfen zu lassen. Nun kam sie auch so zurecht, wie sie das letzte Jahr über bewiesen hatte. Bisher war es ihr nicht in den Sinn gekommen, sich einen neuen Mann ins Haus zu holen. Sie seufzte erneut. Wenn da nur nicht die Braustube und die Schenke wären, die sie bald nicht mehr allein führen durfte. So schrieb es ihr zumindest die Zunft vor.
Marlein setzte ihren Weg fort, und ihre Gedanken kehrten zurück zu Brauer Jacob und dessen Familie. Niemand von ihnen war ihr freundlich gesinnt. Selbst die Tochter Gundi nicht mehr, die im gleichen Alter wie sie selbst war. Als Kinder hatten sie zusammen gespielt, bis dies von einem auf den anderen Tag vorbei gewesen war. Den genauen Grund dafür wusste Marlein nicht, vermutete aber, dass Brauer Jacob den Umgang verboten hatte. Dann gab es noch Linhart, den Sohn des Brauers, der zwei Jahre jünger als Gundi war. Er hatte sie als Kind schon nicht leiden können und sie ihn auch nicht mehr, nachdem er sie einmal vor den Augen eines anderen Jungen in den Dreck gestoßen hatte.
Marlein schob die bitteren Gedanken daran beiseite, stieß die Tür zu ihrem Birnbaumhäusle auf und trat in den Schankraum. Gerade mal vier Tische passten in die kleine Stube, die an Tagen, an denen Marlein den Kranz aus Immergrün zur Gasse hinaushängte, vollbesetzt mit Weibern war. Nach Hannes' Tod schenkte sie nur noch an Frauen aus, deren Lachen meist bis auf die Gasse zu hören war. Auch wenn sich ihre Füße spät in der Nacht nur noch wund anfühlten, liebte Marlein diese Tage. Nur selten gab es eine Schlägerei in ihrer Weiberzeche, da kein Mann ihr oder den Frauen zu nahe auf den Leib rücken konnte. Auch heute war einer dieser Tage, an denen sie mit dem Kranz kundtat, dass sie am Abend die Pforte der Schenke öffnen würde.
Großmutter Alheyt und die kleine Katherl sahen von ihrem Spiel auf, bei dem sie Steine zu einem Muster legten. Die beiden saßen an einem der Tische nahe dem Tresen, auf dem sich bereits die sauberen Zinnkrüge aneinanderreihten.
»Hast du das Kälbchen gefüttert?«, krähte Alheyt.
Marlein stellte die Eimer zu ihren Füßen ab und sah ihre Großmutter kopfschüttelnd an. »Was für ein Kälbchen? Wir haben doch noch nicht einmal einen Esel.«
»Wie?« Die Alte hob eine Augenbraue und schnalzte mit der Zunge. »Natürlich haben wir eins. Das Sauviech schreit den lieben langen Tag. Hast du es etwa an den Ohren, dass du das nicht hörst?«
Neben ihr kicherte Katherl hinter vorgehaltener Hand. Mit ihren fünf Lenzen verstand das Mädchen mittlerweile jedes Wort.
Marlein ging auf Großmutters Geschwätz nicht weiter ein und entledigte sich ihrer Schaube, die sie an einen Haken hinter der Tür hängte.
»Was denn nun? Willst du es nicht endlich füttern, damit das Geschrei aufhört?«, hakte Alheyt nach. Sie rieb sich mit dem Fingerknöchel über das hängende Augenlid, das sie von jeher entstellte.
»Wenn ich das Wasser in die Backstube gebracht habe, kümmere ich mich darum.« Marlein strich ihrer Tochter über das dunkelblonde Haar. Dann zupfte sie an dem Tuch, das sie Katherl um den Hals gebunden hatte, damit niemand das feuerrote Mal sah. Als das Tuch an der rechten Stelle saß, hob Marlein die Eimer wieder auf und ging durch die Hintertür auf den Hof, an den die Backstube des Nachbarn grenzte.
Durch die kleinen Fenster sah sie Meister Edi, dessen Hände tief in einem Teigklumpen steckten. Marlein betrat die beheizte Stube, in der es herrlich nach frischem Brot duftete, und brachte die Wassereimer zum Maischbottich. Der Bäckermeister teilte das Backhäuschen mit ihr, damit sie dort ihr Bier brauen konnte. Dafür zahlte sie Edi einen geringen Obolus, den sie gut und gern entbehren konnte. Denn an den Tagen, an dem seine Frau Nyß das Backen übernahm, half Edi sogar beim Brauen.
Der Bäckermeister lachte sie an. Er war ein kleiner Mann mit kahlgeschorenem Kopf und einem guten Gemüt. »Ich hab dir heute Morgen schon mal die Wurzelkeime vom Braumalz entfernt. Geschrotet ist es auch. Du kannst also gleich die Maische ansetzen.«
Marlein trat zu dem Bottich, in den Edi bereits das Malzschrot geschüttet hatte, und gab das Wasser aus den Eimern dazu. »Wenn ich dich nicht hätte .« Sie schenkte Edi ein dankbares Lächeln, rührte die Maische um und entfachte das Feuer unter dem Bottich.
Edi schlug mit den flachen Händen auf den Teig. »Dein Katherl hat Nyß gestern so tatkräftig bei der Wäsche geholfen, dass ich mich doch erkenntlich zeigen muss.«
Marlein hob die Augenbrauen. Ihre Tochter war noch so zierlich, dass sie kaum die nasse Bettwäsche getragen haben konnte. »Hat sie die Strümpfe sortiert?«
»Richtig. Keine schwere Arbeit, aber eine zeitraubende, wie mein Weib meint.« Edi schüttete Mehl auf den Holztisch und verschwand hinter einer weißen Wolke. »Wir helfen uns halt gegenseitig, so gut wir können.« Er lachte heiser und sah zu den beiden Holzfässchen, in denen das Bier für den Ausschank bereitstand. Der Holzbalken, der sie bedeckte, war an den Enden mit Salz bestreut. Außerdem lagen eine Schere und ein Kreuz darauf, um die Dämonen vom Bier fernzuhalten.
Marlein gab Johanniskrautöl, Wacholderbeeren sowie getrocknetes Wermutkraut in die Maische und sang dabei ein frommes Lied, das der Teufel gewiss verabscheute.
Während er geduldig wartete, bis sie es beendet hatte, formte Edi einen Laib Brot und schob ihn in den Ofen. »Nyß freut sich mächtig auf deine Weiberzeche heute Abend.«
»Wie schön. Die Abende sind wirklich eine Wohltat für die Frauen.« Marlein freute sich ebenso darauf, denn Nyß und sie waren von Kindesbeinen an gute Freundinnen. Ein wenig beschlich sie jedoch das schlechte Gewissen, Edi nicht in ihre Schankstube zu bitten, aber Nyß würde es gewiss nicht gutheißen, wenn er die Frauenrunde störte. Vielleicht sollte sie doch die Schenke bald mal wieder für die Männer öffnen. Dann jedoch musste sie einen Knecht einstellen, denn allein würde sie es nicht schaffen, die Mengen an Bier zu brauen, die sie dafür benötigte. Marlein maß mit dem Ellenbogen die Temperatur der Maische, die gerade so heiß war, dass sie sich nicht den Arm verbrühte. Sie löschte das Feuer unter dem Bottich und sah zu Edi. »Ich geh dann mal unser Kälbchen füttern.«
Der Bäckermeister hob die Augenbrauen. »Seit wann besitzt du ein Kalb?«
»Gesehen habe ich es bisher auch noch nicht, aber Alheyt ist fest davon überzeugt, dass es den ganzen Tag schreit.«
»Ach herrje. Na, dann.« Edi winkte mit der mehlweißen Hand ab. »Geh nur. Ich halte deine Maische im Auge.«
Als Marlein in den Schankraum zurückkehrte, stocherte Alheyt gerade mit der Spitze eines Messers auf Steinen herum. Katherl hatte die Arme auf den Tisch gelegt, ließ das Kinn darauf ruhen und beobachtete das Geschehen mit ihren großen grünen Augen.
Marlein stellte sich hinter ihre Tochter und ließ den geflochtenen Zopf des Mädchens durch ihre Hände gleiten. Das Haar ihrer Tochter war um einiges dunkler als ihr eigenes, eher wie das des verstorbenen Vaters. Aber die Augen waren von dem gleichen Moosgrün wie die ihren.
»Was machst du da?«, fragte sie Alheyt, die, in ihrer Arbeit versunken, die Zunge zwischen die Lippen geklemmt hielt.
»Sie bohrt Knopflöcher«, antwortete Katherl an Stelle der Großmutter.
Marlein setzte sich neben Alheyt an den Tisch. »Ich habe das Kalb gefüttert. Es ist nun still.«
Die Alte hielt inne und hob den Blick. »Seit wann haben wir ein Kalb?«
Marlein seufzte. »Seit du mir eben eins aufgeschwatzt hast.«
»Ich?« Entgeistert starrte sie Marlein an. »Ist dir in der Braustube die Bierhexe begegnet, oder was?« Sie schüttelte den Kopf und wandte sich wieder dem Stein zu.
Katherl krabbelte auf Marleins Schoß, von wo aus sie der Großmutter mit dem Finger gegen den Arm tippte. »Du hast gesagt, es würde den ganzen Tag...
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