Schweitzer Fachinformationen
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Antonia wischte den Staub von den hölzernen Truhen und sah sich zufrieden in der Kaufmannsdiele um. Die Ballen mit dem edlen Tuch, die hier zwischengelagert wurden, hatte sie mit sauberem Linnen abgedeckt, stets darauf bedacht, keinen von ihnen dem Licht auszusetzen, das durch die hohen Fenster fiel. Auch durfte das Tuch nicht zu nahe am Ofen lagern, der in die Wand eingemauert war. Wenn nebenan in der Küche Brot gebacken wurde, beheizte der Ofen gleichzeitig die Diele, damit die Waren nicht feucht wurden. Das Gleiche galt für die Säcke mit den Gewürzen wie Safran und Muskat, die sie zusätzlich noch vor Nagetieren schützen musste. Dazu hatte sie Fallen aufgestellt, aus denen sie jeden Morgen die kleinen pelzigen Kadaver entfernte.
Die Verantwortung für die Kaufmannsdiele zu tragen sowie den Haushalt des Vaters zu führen erfüllte Antonia mit Stolz. Noch einmal sah sie sich um, ob auch alles in bester Ordnung war, und betrat dann die Küche. Als sie nach dem Weidenkorb griff, kam die alte Gertrud aus der angrenzenden Vorratskammer. In der einen Hand hielt sie drei Eier, in der anderen einen Krug Milch. Sie stieß mit ihrem ausladenden Hintern die Tür der Kammer hinter sich zu.
»Wo wollt Ihr denn schon so früh am Morgen hin?«, fragte sie und hob dabei die grauen Augenbrauen.
»Auf den Markt«, entgegnete Antonia und verließ rasch die Küche, bevor Gertrud ihr einen der täglichen Vorträge über den Unterschied einer Magd und einer Hausfrau halten konnte.
Die aufgehende Sonne kroch über die Dächer der Häuser und tauchte den Marktplatz von Stralsund in ein goldenes Licht. Dieser Sommer des Jahres 1310 nach Christi Geburt war einer der heißesten, den Antonia je erlebt hatte. Trotz der frühen Stunde feilschten bereits etliche Mägde mit den Bauern, die noch nicht einmal alle ihre Waren von den Karren geladen hatten. Wenn Fleisch, Käse und Fisch erst einmal der Mittagshitze ausgesetzt waren, würde über dem Marktplatz ein entsetzlicher Gestank aufsteigen, und den wollte keine der Frauen in die Nase bekommen.
Die Ferkel, die in ihrem Käfig von einem Fuhrwerk abgeladen wurden, quiekten erbärmlich, als wüssten sie, dass bald ihr letztes Stündlein geschlagen hatte. Am anderen Ende des Markplatzes stapelten die Korbmacher ihre Ware. Neben ihnen schnatterten Gänse, ebenfalls in Käfigen eingesperrt. Sie drängten ihre Köpfe durch die Holzstäbe und zogen sie wieder zurück, wenn sich ihnen jemand näherte.
Um diese frühe Stunde waren nur wenige Damen des vornehmeren Geschlechts zu sehen. Sie standen abseits des Getümmels und hielten ein Schwätzchen.
Antonia hingegen drängte sich mit den Mägden an den Fischstand, auch wenn dabei sicher der feine Stoff ihrer Cotte knittern und ihr Haar später entsetzlich nach Fisch stinken würde. Eine neue Ladung Heringe war in der Nacht am Hafen von Stralsund eingetroffen. Vater liebte diese salzigen Fische mehr als ein Stück fettes Fleisch. Wenn Antonia sie in Butter briet und mit Sahne verfeinerte, waren sie für ihn kein Armeleuteessen mehr.
Antonia hoffte, Vaters Kogge würde bis zum Abend im Hafen eintreffen. Er handelte mit exotischen Gewürzen, die er in Venedig einkaufte und hier an der See weitervertrieb. Antonia vermisste ihn jedes Mal schmerzlich, wenn er in die fernen Länder reiste. Ohne ihn war es so still in dem großen Backsteinhaus nahe dem Rathaus, dass Antonia es an manchen Tagen kaum aushielt. Erst recht, nachdem die Mutter vor einigen Jahren an einer späten Schwangerschaft gestorben war. Doch letzte Nacht hatte sie geträumt, wie ihr Vater durch die Pforte des Hauses schritt und sie lachend in die Arme nahm. Gewiss bedeutete dies, dass er am heutigen Tage heimkehrte. Ja, es musste so sein. Eine Woge des Glücks erfasste Antonia, und sie ging in Gedanken Vaters Kleidung durch, die sie nach seiner Abreise gewaschen und geglättet hatte. Seine Tuniken und Beinlinge lagen ordentlich gefaltet in den Truhen. Die Spinnweben an der Decke des Kontors hatte sie gestern noch mit dem Reisigbesen entfernt. Auf seinem Arbeitspult waren das Rechenbrett poliert, das Tintenfass aufgefüllt und die Gänsekiele gespitzt. Sogar einen neuen Stapel Pergament hatte sie besorgt. Falls Vater heute heimkam, hätte sie an alles gedacht.
Die Mägde, die mit ihr in der dritten Reihe vor der Fischwaage warteten, plapperten aufgeregt über einen Ritter des Deutschordens, den sie in den Gassen gesehen hatten. Dunkles, lockiges Haar hatte er und Schultern, hinter denen sich gleich zwei Frauen verstecken konnten. Antonia hörte genauer hin. Die honigfarbenen Augen mit den langen Wimpern, von denen eine der Mägde schwärmte, passten genau zu Severin. Ob ihr Bruder etwa in Stralsund war? Antonia wagte es kaum zu hoffen. Seit etwas mehr als zwei Sommern gehörte Severin nun dem Deutschorden an und war seitdem nicht mehr zu Hause gewesen. Nur ab und zu hatte er eine Botschaft übermitteln lassen, dass es ihm gutging, dort im Ordensland, wo er auf der Marienburg lebte.
In Gedanken an Severin versunken, bekam Antonia gar nicht mit, dass sie bereits an der Reihe war. Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute der Fischhändler sie an.
Rasch gab sie die Bestellung der gesalzenen Heringe auf. Nachdem sie die Ware bezahlt und in ihrem Korb verstaut hatte, bahnte sie sich einen Weg über den Marktplatz hin zu der Kirche Sankt Nikolai, deren Glocken zur Laudes schlugen. Aus der Ferne konnte sie bereits den Rappen sehen, der vor ihrem Haus an der Tränke festgebunden war. Severin war wirklich heimgekehrt! Antonia beschleunigte ihren Schritt. Als sie das Portal des Hauses mit ihrem Schlüssel öffnete, pochte ihr Herz heftig vor Freude.
Über drei Stockwerke zog sich das Wohnhaus im Schatten der Kirche hin und war somit eines der prächtigsten Gebäude von Stralsund. Als Antonia kurz darauf das Kontor betrat, stand Severin mit dem Rücken zu ihr und unterhielt sich mit Vaters Schreiber Hannes. Der weiße Umhang seines Ordens reichte ihm bis zu den Lederstiefeln. Das Haar hatte er im Nacken mit einem Band aus schwarzer Seide gebändigt. Sein Atem ging schwer, und als Antonia dann die geweiteten Augen des Schreibers sah, wusste sie, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste.
Sie blieb hinter Severin stehen und schluckte. »Wie schön, dich zu sehen, Bruder.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Krächzen.
Severin sog tief den Atem ein und drehte sich zu ihr um. Mit zittrigen Fingern strich er sich das Haar aus der Stirn. »Ich wünschte, ein erfreulicherer Anlass hätte mich hierhergetrieben.«
Antonia hatte das Gefühl, als zöge sich eine Schlinge um ihren Hals. »Was ist denn passiert?« Sie wagte kaum, ihm in die Augen zu sehen.
»Die Kogge, mit der Vater auf dem Weg hierher war, ist gesunken. Sie haben seinen Leichnam am Strand von Rujana gefunden.« Severin presste die Lippen aufeinander.
Antonias Brustkorb verkrampfte sich, und die Schlinge um ihren Hals schnürte ihr endgültig die Luft ab. Vor ihren Augen verschwamm das Kontor. Der Korb mit den Heringen fiel zu Boden.
»Das kann nicht sein!«, rief sie. »Nicht so nahe dem Heimathafen.«
Severin trat auf sie zu und legte die Hände auf ihre Schultern. »Pack deine Sachen, Schwester. Wir reisen nach Rujana.«
Wenn Vater wirklich tot gewesen wäre, hätte Severin sie doch tröstend in den Arm genommen, hätte mit ihr geweint, doch seine Miene war regungslos, regelrecht verhärmt - von Trauer keine Spur. Ungläubig schüttelte sie den Kopf. »Sag mir, dass dies ein Irrtum ist! Wer weiß schon, welch arme Wasserleiche die See angespült hat! Doch gewiss nicht unseren Vater.«
Severin stieß den Atem aus. »Doch, Antonia.«
Verzweifelt sank sie neben dem Weidenkorb zu Boden. Ihre Finger schlossen sich um den Henkel. »Hier, sieh. Ich habe ihm seinen geliebten Hering gekauft. Er kann nicht tot sein. Außerdem habe ich geträumt, er käme heute heim.« Sie rüttelte an dem Korb und hatte gleichzeitig das Empfinden, sie würde auch an ihrem Kopf rütteln, so dass die Gedanken von links nach rechts stoben. Es waren grausame Gedanken, Bilder von Vaters Leichnam, der am Strand von Rujana im Sand lag. Algen hatten sich in seinem grauen Haar verfangen, und seine Augen starrten sie aus einem bleichen Gesicht an.
Severin kniete sich neben sie. Zögernd strich er mit den Fingerspitzen über ihren Rücken. Aus ihren Augen traten Tränen und rannen ihr über die Wangen. Auch Severin schluchzte jetzt und bewies ihr damit endgültig, dass sie den Vater für alle Zeiten verloren hatte. In diesem Augenblick fuhr der Schmerz so heftig durch ihren Leib, dass sie sich zusammenkrümmte. Antonia ballte die Fäuste in ihrem Schoß und schrie ihren Kummer laut hinaus. Immer wieder, bis sie jemand am Arm fasste und mit sanfter Stimme auf sie einredete. Antonia sah in die Augen des Medicus, der die Familie behandelte. Doch auch der alternde Julius vermochte sie nicht zu beruhigen. Unaufhörlich rissen Wunden in ihrem Herzen auf und ließen sie vor Schmerz schier den Verstand verlieren. Dann spürte sie einen Holzbecher an ihren Lippen.
Julius strich ihr das Haar aus der Stirn. »Trink, mein Kind. Der Saft wird den Schmerz erträglicher werden lassen.«
Gierig leerte Antonia den Becher. Die Medizin schmeckte bitter, und hinter ihren Lidern drückten weiterhin die Tränen. Erneut schluchzte sie auf. Doch dann wurde sie allmählich ruhiger, und der Schmerz wich einer Gleichgültigkeit, die sie ermüdete. Wie ein Häufchen Elend sank Antonia in sich zusammen. Severin hob sie auf seine Arme und brachte sie in ihre Kammer, wo er sie auf das Bett legte. Kurz darauf fiel Antonia in einen traumlosen Schlaf.
Hektische Schritte auf dem Holzboden weckten sie. Antonia...
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