Schweitzer Fachinformationen
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Sie hatte seit dreißig Jahren keinen Sommerurlaub mehr gemacht. Genau genommen konnte man eine Reise jedoch nicht als Urlaub bezeichnen, wenn man nicht die Absicht hatte, nach Hause zurückzukehren. Aber wie auch immer - sie würde nie wieder an Besprechungen teilnehmen, Termine wahrnehmen oder Pannen beheben müssen. Sie war frei.
Sie war aber auch nervös. Die Überfahrt auf der Fähre von Boston nach Cape Cod war rauer als erwartet. Eigentlich hatte sie die eineinhalb Stunden an Deck an der frischen Luft verbringen wollen, aber dann hatte sie es nur fünf Minuten ausgehalten: Die Sonne brannte, der Fahrtwind war beachtlich, und sie war es schlicht nicht gewohnt, mit dem Schiff zu reisen. Während ihrer Suche nach einem Ferienhaus für den Sommer war sie monatelang mit dem Auto zwischen Philadelphia und Provincetown gependelt. Doch jetzt, wo sie alles zusammengepackt und in die Stadt hatte transportieren oder einlagern lassen, brauchte sie das Auto nicht mehr. Sie wollte nach Cape Cod fahren, wie die Einheimischen es taten: per Schiff.
Sie hatte nur einige wenige Freunde in ihren Entschluss eingeweiht, ihre Firma und ihr Haus zu verkaufen und sich in Provincetown zur Ruhe zu setzen. »Gibt es nicht einen Strand in der Nähe?«, hatten die einen gefragt, und die anderen hatten erwidert: »Denk doch nur an die Winter!«, worauf sie gekontert hatte: »Denkt doch nur an die Sommer!« Und wieso fühlte sie sich überhaupt genötigt, sich zu rechtfertigen?
Die Fähre würde bald in Cape Cod anlegen. Ruth erkannte es daran, dass die Schlange an der Snackbar sich auflöste, Laptops zugeklappt und Gepäckstücke aus den Metallgestellen gezogen wurden. Sie warf einen Blick auf die Uhr. In weniger als einer Stunde würde sie ihr absolut perfektes Strandhaus betreten. Der Beginn ihres neuen Lebens.
Sie klappte den Roman zu, den sie gelesen hatte, und schaute aus dem Fenster des Fahrgastraums, über das sich Spritzwasserschlieren zogen. Das Pilgrim Monument, ein gut siebenundsiebzig Meter hoher Turm mitten in Provincetown, kam in Sicht. Ruth wurde fast ein bisschen schwindlig bei dem Anblick, sie war aufgeregt wie ein Teenager. Ihren Freunden konnte sie die Gefühle, die sie in Provincetown überfielen, nur schwer vermitteln. Das hatte nichts mit der geografischen Lage der Stadt oder mit dem Wetter oder mit Logik zu tun. Es war, wie wenn man sich verliebte.
Neben ihr war ein Pärchen damit beschäftigt, ein Kleinkind in seinen Buggy zu packen. Das Baby quengelte und greinte und strampelte. Die Eltern holten Rasseln und Schnuller hervor, um es zu beruhigen, aber nichts half. Ruth war ja so froh, dass dieser pflegeintensive Lebensabschnitt hinter ihr lag.
Sie blickte nach vorn und erkannte die Umrisse der kleinen Läden auf dem MacMillan Wharf und in der Ferne den Turm der Center Methodist Church, in der die Stadtbücherei untergebracht war. Kormorane, genauer gesagt Ohrenscharben, hockten in Reih und Glied auf der langen Mole rechts von ihr und hatten ihre Flügel ausgebreitet, damit sie trockneten. Ja, inzwischen wusste sie, wie die schwarzen Vögel hießen. Bei jedem ihrer Besuche lernte sie etwas dazu. Provincetown zeigte sich Fremden gegenüber nicht abweisend wie so manche Kleinstadt, sondern einladend: Seine Schönheit breitete sich vor dem Besucher aus wie ein Strandtuch, das in der Sonne ausgeschüttelt wurde.
Wie viele Sommer war sie zu beschäftigt gewesen, als dass sie das herrliche Wetter hätte genießen können? Sie hatte endlose Wochenenden in fensterlosen Räumen damit zugebracht, Produkte zu testen oder falsch verpackte Ware umzupacken oder Kalkulationsbögen auszufüllen. Jahrzehntelang war sie im August genauso blass gewesen wie im Februar. Damit war nun Schluss.
Das Kleinkind neben ihr fing an zu schreien. Okay, Zeit, an Deck zu gehen.
Ruth griff nach ihrem Koffer und stieg die Treppe hinauf, wobei sie sich mit der freien Hand an dem nassen, schlüpfrigen Handlauf festhielt. Draußen wehte ihr der Wind einen feinen Sprühnebel ins Gesicht. Sie zuckte unwillkürlich zurück und schnappte nach Luft, aber die frische Seeluft in ihrer Lunge verlieh ihr einen regelrechten Adrenalinschub. Sie lehnte sich über die Reling und ließ ihren Blick über die Segelboote, den Betrieb im Hafen und den Pier gleiten, auf dem sich bereits Kunsthändler eingefunden hatten und Urlauber für Whalewatching-Touren anstanden. Zu ihrer Linken konnte sie das Bootshaus mit seinen gut dreieinhalb Meter großen Schwarz-Weiß-Fotos von einheimischen portugiesischen Seniorinnen sehen. Früher war die Stadt hauptsächlich von portugiesischen Fischern bewohnt gewesen.
Der Motor erstarb, als die Fähre anlegte. Menschen strömten herbei; einige winkten Freunden oder Angehörigen zu, die mit der Fähre gekommen waren.
Ruth war am Ziel angelangt.
Den Rollkoffer hinter sich herziehend folgte sie ihren Mitreisenden den metallenen Landungssteg zum Kai hinunter. Während die anderen mit herzlichen Umarmungen und aufgeregten Rufen begrüßt wurden, wandte sich Ruth nach links und machte sich allein auf den Weg zur Commercial Street.
Ihr Rollkoffer holperte über die Holzplanken des Gehwegs, als sie in gleichmäßigem Tempo an den kleinen Häusern mit Kunstgewerbeläden und Anbietern von Walbeobachtungstouren und Schiffsausflügen bei Nacht vorbeiging. Ein Verkehrspolizist regelte den Verkehr Richtung Westen. Am Straßenrand stand ein Taxi, und Ruth schlüpfte auf die Rückbank.
Der Fahrer bog nach links in die Commercial ein, eine Einbahnstraße. Ihr Haus befand sich in der dem East End entgegengesetzten Richtung. Er würde irgendwo abbiegen und über die Bradford zurückfahren müssen, aber der Umweg machte ihr nichts aus. Sie ließ das Fenster herunter und schaute hinaus. Rechts von ihr Cabot's Candy, auf der anderen Straßenseite der originelle Laden Marine Specialties, daneben die Post, ein imposanter roter Backsteinbau. Mit jedem Besuch wurde ihr der Anblick ein bisschen vertrauter.
Bloß dass sie keine Besucherin mehr war, sondern seit heute ganz offiziell zu den Einwohnern von Provincetown zählte. Sie hatte gehofft, sofort dauerhaft eine neue Bleibe zu finden, um ihrem alten Leben in Philadelphia endgültig den Rücken zukehren zu können. Aber auf der nur drei Meilen langen und zwei Straßen breiten Halbinsel ein zum Verkauf stehendes Haus zu entdecken, hatte sich als äußerst schwierig erwiesen.
»Haben Sie Geduld und mieten erst einmal etwas«, hatte Clifford Henry, der Immobilienmakler, geraten.
Geduld zählte nicht zu Ruths Stärken. Mit ihren achtundfünfzig Jahren preschte sie nach wie vor ungestüm drauflos. So war sie sämtlichen Herausforderungen des Lebens entgegengetreten, und meistens hatte sich diese Taktik bewährt. Provincetown allerdings zwang sie zu einer langsameren Gangart. Sie würde den Sommer über in dem gemieteten Ferienhaus leben und sich unterdessen weiter nach einem endgültigen Zuhause umsehen.
Obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, etwas so Perfektes wie Shell Haven zu finden.
Das dreigeschossige, mit weißen Schindeln verkleidete Haus im georgianischen Stil war ein echter Hingucker. Eine Veranda führte ringsherum, das Dach mit dem Giebeldreieck hatte einen »Witwengang«, und auf dem Rasen blühten üppige blaue und weiße Hortensien. Die Küche besaß einen wunderschönen eingebauten Geschirrschrank, und vom Hauptschlafzimmer aus hatte man einen herrlichen Blick auf die Bucht. Für Ruth war es Liebe auf den ersten Blick gewesen.
»Ich nehme es«, hatte sie bei ihrer allerersten Besichtigung zu Clifford Henry gesagt. »Und damit das klar ist: Genau so ein Haus suche ich zum Kauf.«
»Da sind Sie nicht die Einzige, meine Liebe«, hatte er erwidert.
Der Taxifahrer bog von der Bradford nach rechts in die schmale Bangs Street ein und fuhr zurück auf die Commercial. Ein aufgeregtes Kribbeln erfasste sie. Eine Querstraße noch, und dann, auf der rechten Seite, konnte sie ihr Traumhaus schon sehen.
Sie bezahlte den Taxifahrer, stieg aus und blieb einen Moment auf dem Bürgersteig stehen. Als sie ihre Handtasche umgehängt und die Hand fest um den Griff ihres Koffers geschlossen hatte, schritt sie über den von blauen Hortensien eingefassten roten Ziegelsteinweg zur Veranda. Gleich zu Hause, dachte sie.
Eine der Eigentümerinnen, Fern Douglas, hatte ihr mitgeteilt, sie werde die Hausschlüssel im Briefkasten hinterlegen. Ruth fand das merkwürdig, vor allem aus Sicherheitsgründen, aber dann war ihr bewusst geworden, dass sie sich den hiesigen Gepflogenheiten würde anpassen müssen. Was machte es für einen Sinn, in einen Ort wie Provincetown zu ziehen, wenn sie nicht imstande war, sich zu entspannen?
Der schmale, schwarze Metallbriefkasten war seitlich am Haus angebracht. Ruth stellte ihre Tasche auf eine Bank und griff in den Briefkasten. Nichts.
Sie bückte sich und spähte hinein. Keine Schlüssel.
Soll das ein Witz sein? Erschöpfung überkam sie. Sie ging mit schweren Schritten zur Haustür. Vielleicht war sie ja gar nicht abgeschlossen. Doch.
Ruth drückte auf den Klingelknopf. Hatte sie da etwas verwechselt? Nein, natürlich nicht. Sie hatten vereinbart, dass sie heute, und zwar genau um diese Uhrzeit, einziehen würde. Sie kramte ihr Handy aus ihrer Handtasche und wählte die Nummer von Fern Douglas. Der Anruf wurde auf die Mailbox umgeleitet.
Wie unprofessionell war das denn?
Nach kurzem Zögern klopfte sie kräftig an den Türrahmen. Die Tür hinter dem Fliegengitter wurde einen Spalt geöffnet. Aber nicht von Fern Douglas. Die Frau, vielleicht Ende dreißig, mit grünen Augen und knapp schulterlangen rotblonden...
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