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Von der Fiktion der einigen Christenheit zum territorialen Machtstaat
»Im Mittelpunkt des Abends aber stand ein lebender Fasan, der eine schwere Kette aus Gold und Edelsteinen um den Hals trug. Der >Riese Hans<, der sich auch bei anderen Gelegenheiten hervorgetan hatte, stellte den Sultan dar. Eine die >Frau Kirche< verkörpernde Darstellerin beklagte die Eroberung Konstantinopels und forderte die christliche Ritterschaft eindringlich auf, ihr zu Hilfe zu kommen. Daraufhin gelobten der Herzog [Philipp der Gute] und alle Herren des Goldenen Vlieses, den Kreuzzug zu unternehmen. Sie schworen dies bei Gott, Unserer Lieben Frau und seltsamerweise auch bei dem Fasan.«
Olivier de la Marche über das burgundische Fasanenfest am 17. Februar 1454 in Lille1
»Wenn Du Dein Reich unter den Christen ausweiten und Deinem Namen möglichst großen Ruhm verschaffen willst, brauchst Du dazu nicht Waffen, nicht Heere und nicht Flotten. Eine Kleinigkeit kann Dich zum größten, mächtigsten und berühmtesten aller heute lebenden Menschen machen. [.] Es sind ein paar Tropfen Wasser, mit denen Du getauft wirst, Dich zu den Sakramenten der Christen bekennst und an das Evangelium glaubst. Wenn Du dies tust, wird es auf Erden keinen Fürsten geben, der Dich an Ruhm übertrifft oder Dir an Macht gleichkommt.«2
Es war der italienische Humanist und Meisterredner Enea Silvio de Piccolomini, der diese lockenden Worte wohl im Herbst 1461 an Sultan Mehmed II. richtete, den Eroberer Konstantinopels und Schrecken der lateinischen Christenheit. Die kühne Idee, den machtbewussten Herrscher der Osmanen zu einem zweiten Konstantin zu machen, entstammte nicht etwa der überschießenden Fantasie eines Privatgelehrten oder Außenseiters in der literarischen Welt Europas. Immerhin trug der am 18. Oktober 1405 in Corsignano bei Siena geborene Piccolomini seit dem 19. August 1458 die päpstliche Tiara und nannte sich seither Pius II. Dieser Papst war alles andere als ein Appeaser gegenüber Sultan und Islam.
Ludwig Freiherr von Pastor, in seiner Zeit der bedeutendste Historiker des Papsttums, nannte ihn zu Recht einen rastlosen Protagonisten des Kreuzzuges, der sich »inmitten einer Welt von Selbstsucht« unermüdlich dafür eingesetzt habe, »die abendländische Kirche und Zivilisation« vor der Vernichtung durch das Osmanentum zu bewahren.3 Zuletzt hatte sich Pius sogar entschlossen, trotz seines Alters und seiner körperlichen Beschwerden persönlich einen Kreuzzug gegen die »Türken« anzuführen.
Über die Motive des Oberhauptes der lateinischen Kirche, ausgerechnet dem scheinbar grimmigsten Feind der Christenheit bei der Errichtung eines zweiten christlichen Weltkaisertums assistieren zu wollen, ist viel gerätselt worden. Ungewiss ist, ob der »wahrlich irritierende Brief«, so der Florentiner Mediävist Franco Cardini,4 überhaupt jemals den Weg nach Konstantinopel gefunden hat.5 Dass er im Corpus der diplomatischen Schriftstücke des Kirchenstaates archiviert wurde, spricht ebenso wie die zweimonatige Bearbeitungszeit des Textes dafür, dass es sich um mehr als eine bloße Rhetorikübung gehandelt haben muss. Sollte der Brief tatsächlich nur der sarkastischen Ermahnung der hoffnungslos zerstrittenen Fürsten Europas gedient haben, wie es Cardini vermutet, wäre allerdings zu fragen, weshalb der Papst seinem fiktiven Angebot an Mehmed II. noch eine langatmige Widerlegung der islamischen Lehre hätte folgen lassen sollen.6
Vieles deutet darauf hin, dass sich Pius schon nach der gescheiterten Konferenz von Mantua (1459) zu seinem außergewöhnlichen Schritt entschlossen hatte. Wieder einmal war nur sechs Jahre nach dem Untergang des byzantinischen Kaisertums der päpstliche Appell an die europäischen Herrscher, sich endlich gemeinsam der Türkengefahr zu stellen, auf taube Ohren gestoßen. »Mantua« hatte gezeigt, dass die Idee der lateinischen Christenheit als handlungsfähiger Gemeinschaft, damals die gängige Chiffre für »Europa«, nicht mehr als eine gern bemühte Fiktion war. An kaum einem Hof seien die päpstlichen Legaten, welche seine Einladungen nach Mantua überbracht hatten, ernst genommen worden, so Pius II. in seiner ernüchternd ausfallenden Bilanz an die Kardinäle.7 Zwar mochte wohl keiner der Potentaten Europas die von den Osmanen ausgehende Gefahr bestreiten, und der Verlust Konstantinopels hatte in allen Residenzen der lateinischen Christenheit echtes Entsetzen und Trauer hervorgerufen. Kein Fürst jedoch konnte oder wollte von seinen lange verfolgten Ambitionen und Rivalitäten lassen. Selbst ein glühender Verfechter der Kreuzzugsidee wie Herzog Philipp der Gute von Burgund hatte 1454 vor allem mit Blick auf die Ambitionen König Karls VII. von Frankreich nur ein bedingtes Gelübde leisten wollen: Er würde gehen, wenn die Länder, die Gott ihm zu regieren anvertraut habe, in Sicherheit und Frieden lebten.8 Jeder christliche Herrscher, der tatsächlich das Kreuz nahm, musste damit rechnen, dass sämtliche Rivalen seine Abwesenheit zum eigenen Vorteil nutzten. Die nicht wenigen Feinde Venedigs wiederum befürchteten, dass am Ende allein die Serenissima von den erhofften Gewinnen im Orient profitieren würde.
Pius' ideologischer Paradigmenwechsel, der in dem »barbarischen« Feind vom Bosporus plötzlich einen möglichen Verbündeten sah, war entgegen dem ersten Anschein keineswegs völlig weltfremd. Geschichten über Mehmeds intensives Interesse an der griechisch-römischen Antike und an den Feldzügen Alexanders und Caesars machten längst im Westen die Runde. Privat schien der Sultan ein Freigeist, der sich mit schiitischen Lehren aus dem Iran ebenso beschäftigte wie mit den Dogmen des orthodoxen Christentums. Dem griechischen Kleriker Gennadios Scholarios, dem ersten Patriarchen von Konstantinopel unter osmanischer Herrschaft, hatte Mehmed immerhin aufgetragen, einen Leitfaden des christlichen Glaubens zu verfassen, und bei den Genuesen in Pera soll er auch einmal einer Messe nach lateinischem Ritus beigewohnt haben. Der aus Konstantinopel geflohene und später zum Berater des Papstes avancierte Theodoros Spandounes berichtet in seiner Türkengeschichte, dass der Sultan sogar ein großer Verehrer christlicher Reliquien gewesen sei, vor denen er stets Kerzen habe anzünden lassen.9
Eine Konvertierung des Sultans zum Christentum schien somit, wenigstens aus der Ferne betrachtet, keineswegs undenkbar. In seinem Brief an Mehmed II. zählte der Papst vier historische Beispiele auf, die aus seiner Sicht belegten, dass der Religionswechsel eines Herrschers, hieß er nun Konstantin, Chlodwig, Rekkared oder Agilulf, den Übertritt jeweils des gesamten Volkes zur Folge gehabt hatte. Mehmed brauche auch keine Sorge vor einem Aufstand seiner alttürkischen Gefolgsleute zu haben, denn deren gewiss zu erwartenden Widerstand könne er mithilfe der zahllosen ehemaligen Christen in seinem Dienst, den sogenannten Renegaten, leicht überwinden. Pius zeigte sich in seinem Brief entgegen aller bisher von ihm und seinen Vorgängern eifrig verbreiteten Gräuelmeldungen über das Reich des Sultans erstaunlich gut über die wahren Verhältnisse am Bosporus informiert. Er kannte die Bruchlinie, die in der hybriden osmanischen Gesellschaft zwischen der neuen Elite aus übergelaufenen Christen und den alttürkischen Familien verlief. Es war auch allgemein bekannt, dass der damalige Großwesir Mahmud Pascha Angelovic aus dem im Kosovo gelegenen Novo Brdo stammte und wohl kurz nach dem Regierungsantritt Murads II. als Opfer der berüchtigten osmanischen Knabenlese an den Hof des Sultans in Edirne gekommen war. Einer seiner Nachfolger wiederum war Hersekzade Ahmed Pascha, der Sohn eines bosnischen Fürsten aus Mostar, der als freiwillig zum Islam konvertierter Renegat unter insgesamt drei Sultanen das höchste politische Amt im Reich bekleiden sollte.10
So wie diese und unzählige andere ehemalige Christen im Dienste des Sultans einst aus Ehrgeiz und Eigennutz den Religionswechsel vollzogen hatten, würden sie, versprach Pius II., aus kalter Berechnung wieder zum Christentum zurückkehren, wenn nur ihr Herrscher ihnen voranschritt.
Die Epistula ad Mahumetum markierte gleichwohl nur eine kurze, aber umso erstaunlichere Volte im geistigen Schaffen des Papstes, der als Humanist seine literarische Karriere mit dem Verfassen anstößiger Liebeskomödien begonnen hatte. Erst 1446 war Enea Piccolomini Kleriker geworden, und sein Leben wollte er damit beschließen, die Christenheit auf einem von ihm ausgerufenen Kreuzzug gegen die Türken selbst anzuführen. Doch als endlich am 12. August 1464 die venezianische Flotte im Hafen von Ancona eintraf, dem Versammlungsort der Kreuzfahrer, lag Pius II. bereits im Sterben und eine pestartige Seuche hatte das in der Stadt wartende Heer zerstreut.11
Wie schon bei der erfolgreichen Verteidigung Belgrads im Jahre 1456, bei der ein zusammengelaufener Haufe aus Bauern, niederen Klerikern und Studenten unter Führung des charismatischen Kreuzzugspredigers...
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