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Auf Sylt gibt es um die 18 000 gemeldete Einwohner. Allerdings bin ich mir sicher, diese Zahl kann nicht stimmen. Als wir im ersten Shutdown im März 2020 abends auf der Suche nach beleuchteten Fenstern durch die dunklen Straßen schlenderten, fragten wir uns immer wieder, ob die Sylter vielleicht geschlossen auf Reisen gegangen waren. Oder sich in ihren Kellern versteckten?
Auch wie viele Menschen sich im Sommer tatsächlich auf der Insel aufhalten, ist nicht eindeutig klar, und im Hinblick auf das Finanzamt - oder aus was für Gründen auch immer - halten sich die Anstrengungen, exakte Gästezahlen herauszufinden, eher in Grenzen. Die offiziellen Daten, gewonnen aus den Erhebungen der Tourismusbetriebe, verraten für die letzten Jahre einen beachtlichen Anstieg der Gästezahlen von 725 000 (2006) auf knapp eine Million zehn Jahre später und machen deutlich, welche Wirkung der Bau der vielen neuen Hotelprojekte hat. Dass die Zahl auch sonst nicht mehr als ein Richtwert sein kann, weiß auf Sylt jedes Kind. Denn die statistischen Daten können nur das wiedergeben, was ausgewertet wird. Kurkarten zum Beispiel. Aber nicht jeder Gast ist verrückt nach diesem kostenpflichtigen »Inselausweis«.
Man könnte vermutlich auch den durchschnittlichen Wasserverbrauch eines Deutschen im Sommer zugrunde legen und ihn mit den Zahlen der örtlichen Wasserversorger in Beziehung setzen. Und würde dann vermutlich feststellen, dass die Insulaner und ihre Gäste unter einem Waschzwang leiden oder die Leitungen leck sind.
Aber selbst wenn man sich diese Mühe machen würde, hätte man noch immer nicht die korrekte Zahl, da es derzeit keine zuverlässige Methode gibt, die im Sommer massenhaft anreisenden Tagesgäste (die per Bus, mittels Fähre oder über den Hindenburgdamm kommend die Insel fluten) zu erfassen.
Doch 2020, nach den Erfahrungen des Lockdowns, führte ein Antrag der Grünen zu einem überraschenden Erfolg. Der Bürgermeister der Gemeinde Sylt (und dazu gehören leider nicht alle Inselorte, als da noch wären Hörnum, List, Kampen und Wenningstedt-Braderup) hat tatsächlich den Auftrag erhalten, für eine vernünftige Erhebung der touristischen Daten zu sorgen. Verglichen mit einem wirtschaftlichen Unternehmen kalkulieren und planen unsere Verwaltung und unsere politischen Gremien also seit Jahrzehnten, ohne überhaupt zu wissen, wie sich das Betriebskapital zusammensetzt. Das ist schon eine bemerkenswerte Leistung . Die Firma, die den Zuschlag bekam, soll angeblich schon bedauern, sich überhaupt beworben zu haben, denn sie muss herausfinden, ob vermietete Räume und echter Wohnraum im richtigen Verhältnis stehen. Man darf auf das Ergebnis gespannt sein!
Aber wie viele Gäste die Sylter in der Saison auch bedienen, es ändert nichts an den besonderen gesellschaftlichen Strukturen der Insel. Mir kommt es manchmal so vor, als gäbe es hier zwei Parallelwelten, die zwar miteinander zu tun haben, weil sie sich nicht aus dem Weg gehen können, aber ansonsten für sich leben.
Da sind zum einen die Sylter, zum anderen die Gäste, gemeinhin als »Touris« bezeichnet. Manchmal purzelt einem Sylter der älteren Generation noch das Wort »Kurschwein« aus dem Mund. Dieser Begriff muss wohl noch aus der Zeit stammen, als man die Ställe aufmöbelte, um lieber Badegäste unterzubringen. So nach dem Motto »Kühe und Schweine raus - Kurgäste rein«.
Eigentlich müsste man als dritte Gruppe noch die zahllosen Festlandsbewohner mit einbeziehen, die sich jeden Morgen auf den Weg machen, damit das »System Sylt« nicht zusammenbricht - was durchaus geschehen kann, wenn das Bahnsystem selbst einmal wieder zusammenbricht. Den konkurrierenden Betreibern Deutsche Bahn AG, DB Fernverkehr AG, die den »Sylt Shuttle« (für Pkw) betreibt, und Railroad Development Corporation mit ihrem »Autozug Sylt« gelingt es immer wieder, die Zirkulation auf der Nabelschnur Hindenburgdamm praktisch zum Erliegen zu bringen. Mit dramatischen Konsequenzen für die Sylter Betriebe und schätzungsweise 4500 Pendler, die von den Syltern gern als »Schienenschieter« bezeichnet werden. Aber das würde zu weit führen. Konzentrieren wir uns also auf die Sylter und die Gäste. Immerhin haben Sie schon einen Eindruck davon gewonnen, dass die Insulaner im sprachlichen Umgang nicht zimperlich sind.
Im Übrigen auch nicht untereinander. Lange Tradition haben auf Sylt die sogenannten Oekelnamen. Eine Art Spitzname - das englische nickname trifft es am ehesten. Am besten kann ich Ihnen das an handfesten Beispielen erläutern: Im Sylter Osten lebte vor rund 100 Jahren eine »Dame«, die mehrere uneheliche Kinder hatte; wenn ich mich recht entsinne, hieß sie Gondel. Die Sylter nannten sie alle nur »Gondel ohne Büx«, und jeder wusste, um welche Gondel es ging, wenn dieser Name fiel. Das ist ein klassischer Oekelname.
Oder der frühere Milchmann Bleicken, dessen Pferd regelmäßig mit ihm durchging, weil es am Ende der Auslieferungstour zusah, dass es so schnell wie möglich wieder in den warmen Stall oder auf die grüne Wiese kam. Er wurde von den Insulanern nur »Bleicken ben Hur« genannt.
Diese Beispiele zeigen deutlich, dass die Friesen Humor haben, wenn auch einen ganz speziellen .
Aber ich schweife ab. Zurück zur Definition »Sylter«. Sylter? Tja . natürlich ist nicht jeder ein Sylter, der hier lebt. Auch nicht, wenn er hier geboren wurde. Man lernt auf der Insel in kürzester Zeit, dass es viele Chancen im Leben gibt, selbst sechs Richtige nebst Zusatzzahl im Lotto sind möglich, aber ein Sylter zu werden, nein, das geht nach meiner Erfahrung nicht.
Und so kommt es zu den unterschiedlichsten Missverständnissen, auf die ich später noch zu sprechen kommen werde. Wer jedenfalls glaubt, die Gnade der Sylter Geburt oder Wohneigentum machten einen Menschen zum Sylter, der lebt leider im Tal der Ahnungslosen.
Wie ein Kölner Ehepaar, das sich unlängst bei mir beklagte: »Stellen Sie sich vor, unsere Nachbarn begrüßen uns immer noch nicht mit >Moin<, obwohl wir doch nun Sylter sind.« Sie hatten sich vor zwei Monaten ein Apartment in Keitum gekauft.
Über die Bedeutung von »Moin« oder »Moin, Moin« streiten sich übrigens die Gelehrten. Für die einen bedeutet moi so viel wie »schön«, »Moin« also etwa »einen schönen« (zu ergänzen: Morgen, Tag, Abend), sodass man den Gruß den ganzen Tag anwenden kann. Andere halten »Moin« lediglich für einen verkürzten und abgeschliffenen »Morgen - Morjen - Morn«. Auf Sylt versteht jeder darunter, was er will. Wichtig ist nur, wenn Sie mit diesem Gruß auf Sylt ernst genommen werden möchten, dass Sie das »Moin« ganz kurz und knapp betonen und das Wort unter keinen Umständen in die Länge ziehen. Und lieber nicht »Moin, Moin« sagen, das gilt als geschwätzig.
Spannend ist außerdem, wie einem äußerst subtil vermittelt wird, ein Sylter zu sein sei etwas ganz Besonderes. Warum, das ist mir noch immer nicht ganz klar, denn warum sollte es ein Geschenk sein, auf dieser Insel geboren worden zu sein? Und zwar von Eltern, deren Eltern und auch deren Eltern ebenfalls hier geboren wurden? Wer käme schon auf den Gedanken, Frau Müller aus Klein-Kleckersdorf dafür zu beneiden, dass die letzten 20 Generationen ihrer Familie es nicht geschafft haben, sich endlich vom Acker zu machen und mal woanders ihr Glück zu versuchen?
Auf Sylt ist eben einiges anders, und manch einer ist zutiefst davon überzeugt, dass es erstrebenswerter ist, ein Sylter Friese zu sein als ein anständiger Hanseat oder kölscher Jeck. Ich meine mich zu erinnern, in den ersten Jahren meines Insellebens einen Aufkleber gesehen zu haben mit dem bemerkenswerten Slogan »Mehr als Sylter kann ein Mensch nicht werden«. Mehr als staunen kann man da erst einmal nicht.
Gleichwohl ist es natürlich angenehm, mit selbstbewussten Menschen zu tun zu haben. In diesen Zusammenhang passt ein herrliches Zitat von Ernst von Salomon, der in den 1930er- und 1940er-Jahren zeitweise auf Sylt lebte und nicht nur ausreichend Gelegenheit hatte, die Insulaner zu studieren, sondern auch noch eine gute Beobachtungsgabe besaß: »Die Friesen pflegten seit je den höchsten Grad der Toleranz - jenen der völligen Nichtbeachtung anderer Sitten und Gebräuche.« Besser kann man es nicht formulieren - dieses Lebensgefühl wird von vielen Syltern souverän gelebt.
Die Menschen hier...
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