2.
»Dir scheint unsere Verabredung relativ egal zu sein.«
Uwe fuhr auf dem Absatz herum.
Robert Schulz stand vor ihm und lächelte verschmitzt.
»Unsinn, Robert. Schön, dich nach so langer Zeit wiederzutreffen.« Uwe umarmte seinen Freund herzlich. Er nickte mit dem Kopf zur Bushaltestelle hin. »Sorry, ich habe dich in der Aufregung übersehen.«
»Was ist denn da los? Polizei? Krankenwagen?«
»Ein schrecklicher Unfall. Eine Frau ist zu Tode gekommen.«
Mit kritischer Miene kommentierte Robert: »Du betonst das Wort >Unfall< so eigenartig. Du siehst bedrückt aus. Raus mit der Sprache.«
»Nachher. Ich muss es erst sacken lassen. Bin völlig durch den Wind. Lass uns erst einmal auf das Wiedersehen anstoßen. Ich kann's vertragen.«
»Machen wir.« Mit Blick auf das Bierglas fügte Robert hinzu: »Wobei ich offensichtlich zu spät dran bin. Trink aus. Der Regen nimmt zu. Wir fahren besser zu mir nach Hause. Da ist es gemütlicher, und es brennt ein warmes Kaminfeuer. Du bist bestimmt groggy von der Reise und kannst dort die Beine hochlegen. Außerdem haben wir uns viel zu erzählen.«
Uwe leerte das mittlerweile schale Bier in einem Zug und ergriff seinen Rucksack und die Reisetasche. »Wir können los«, verkündete er und folgte seinem Freund zum Parkplatz. Ein alter Land Rover parkte vorschriftswidrig in der Einfahrt.
Robert steuerte zielsicher auf die Rostlaube zu. Er öffnete die Seiten- und Hecktüren. »Schmeiß dein Gepäck hinten rein. Die Strecke ist ein Katzensprung. In zehn Minuten sind wir bei meinem bescheidenen Heim.«
Uwe kam dem gerne nach und ließ sich anschließend auf dem Beifahrersitz nieder. Der Zündschlüssel des Wagens steckte im Schloss.
Auf den fragenden Blick Uwes antwortete Robert nur: »Ist hier völlig unproblematisch.«
Kennengelernt hatte Uwe Robert während einer Woche der Kontemplation in einem Kloster in Rheinland-Pfalz. Für ihn lediglich ein ruhiger Platz zum Arbeiten, um Artikel fertigzustellen, mit denen er als Journalist seine Brötchen verdiente. Für seine neue Bekanntschaft hingegen war es die Flucht vor dem drohenden Burn-out.
Von Beruf Statistiker und Unternehmensberater, hielt Robert den zunehmenden Erfolgsdruck, der mit einer Siebzig-Stunden-Woche einherging, nicht mehr aus. Er zog die Reißleine, gönnte sich eine Auszeit. Trotz unterschiedlicher Motivationen für den Aufenthalt verstanden sie sich sofort hervorragend. Aus dem zufälligen Zusammentreffen entwickelte sich eine inzwischen seit zehn Jahren bestehende Freundschaft, die auch Roberts Auswanderung auf die Südinsel Neuseelands überdauert hatte. Jetzt betrieb der Aussteiger einen kleinen Laden für Andenken und Sportequipment. Dass er diese Entscheidung für ein bescheideneres, stressfreieres Leben auf dem Land nie bereut hatte, bekräftigte Robert regelmäßig.
Zwei Jahre vergingen, bis Uwe die Koffer packte, um ihn in der Ferne zu besuchen. Nicht allein des Wiedersehens willens, sondern vor allem, um neu durchzustarten. Seine Pläne für den Aufenthalt legte er Robert im Vorfeld dar. Der vermochte aus eigener Erfahrung die Motivation nachzuvollziehen, obwohl er einige Bedenken hegte.
Die Autofahrt führte am Lauf eines Flusses entlang. Auf beiden Seiten sah Uwe an den sanft ansteigenden Hängen dichten, saftig grünen Wald. Natur pur. Er begann zu verstehen, warum Robert jeden Tag genoss, seit er Deutschland den Rücken gekehrt hatte. Links und rechts standen vereinzelte Häuser. Nach einigen Minuten bogen sie von der Hauptstraße ab.
Robert zeigte nach vorne. »Das ist der eigentliche Hauptort. Er bietet alles, was ein bescheidenes Herz begehrt. Allerdings klappen sie langsam die Gehwege hoch. Innerhalb der kommenden Wochen wird alles in tiefen Winterschlaf verfallen.«
»Wie verdienst du deine Brötchen, sobald die Touristen und Wanderer wegbleiben? Stellt sich da keine Langeweile ein?«
»Der Outdoorladen wirft den Sommer über genügend ab. Ich genieße die Ruhe und widme mich meinen Hobbys, die in den vergangenen Jahren brachlagen. Ich habe wieder zu malen und zu zeichnen angefangen. Viel brauche ich nicht zum Leben. Da ist schon mein Haus.« Er deutete auf ein kleines Gebäude mit Holzfassade. Das Erdgeschoss zierten große Schaufenster. Ein Schild verriet, dass der Laden heute geschlossen blieb. »Mein Reich ist in den oberen Stockwerken. Ich habe weder Kosten noch Mühen gescheut, die Gästerumpelkammer, die ich sonst als Lagerraum nutze, für dich freizuräumen.«
Frisch geduscht machte sich Uwe auf den Weg in Roberts Wohnzimmer. Ein Tablett mit hochprozentigen Getränken erwartete ihn. Er ließ sich in einen der schweren Ledersessel fallen. Die nächsten Stunden schwelgten sie in Erinnerungen und tauschten sich darüber aus, wie ihr Leben in den letzten Monaten verlaufen war. Uwes Gedanken kehrten, ungeachtet des gemeinsamen Lachens über alte Zeiten, unaufhörlich zum Geschehen des Vormittags zurück.
»Du wirkst tatsächlich ein bisschen durch den Wind«, merkte Robert an. »Hängt dir der Unfall an der Bushaltestelle von heute Morgen nach?«, äußerte er direkt seine Vermutung.
»Mmhh, habe es mit angesehen. Unschöne Sache. Den Anblick kriegt man nicht so einfach aus dem Kopf. Die arme Frau. Geht aber wieder, bin bloß müde.« Uwe fiel ein, dass er Robert bisher weder über das, was er glaubte, vor und nach dem Unglück wahrgenommen zu haben, noch über seinen Verdacht ins Bild gesetzt hatte. In wenigen Worten fasste er die Beobachtungen zusammen, wohl wissend um die subjektive Färbung der Darstellung.
Robert überlegte einen Moment, bevor er Uwes Schilderung kommentierte. »Dieser komische Typ ist mir ebenfalls aufgefallen. So ein schlaksiger, großer mit blauer Regenjacke und Jeans? Der hängt seit ein paar Tagen im Ort herum.«
»Wir reden definitiv von demselben.«
»Weshalb hast du keinen der Polizisten angesprochen und eine Aussage gemacht?«
»Genau genommen sind es reine Vermutungen. Ich habe nicht gesehen, dass er die Frau auf die Straße gestoßen hat. Der Eindruck, dass er mich danach gezielt wirr angeglotzt und mir zugewunken hat, reicht gewiss für keine Verhaftung aus. Trotzdem bleibt bei mir ein ungutes Gefühl zurück, wenn ich an diesen Mann denke. Dass er mir bekannt vorkommt, macht es kaum besser. Du bist doch hier bestens vernetzt. Du kannst dich ja mal umhören.«
»Gerne. Darf ich anmerken, dass du dich ansonsten gut gehalten hast?«
Uwe erhob sich und trat vor den Spiegel an der Garderobe. Er musterte sein Ebenbild. Groß gewachsen, volles blondes Haar. Kantige Gesichtszüge, die er dem aktuellen Trend folgend hinter einem gepflegten Vollbart versteckte. Natürlich hatte er nicht mehr die Figur eines Zwanzigjährigen, aber bis auf einen leichten Bauchansatz gab er durchaus noch eine stattliche Erscheinung ab. »Bin jedenfalls hübscher als du«, stellte er augenzwinkernd fest. »Leider ist nicht alles Gold, was glänzt. In meinem Inneren sieht es weniger gefällig aus. Dort findet man die Narben, die die letzten Jahre hinterlassen haben.«
»Die tragen wir alle mit uns herum«, kommentierte Robert. Mit Blick auf den sichtbar reduzierten Füllstand der Whiskyflasche auf dem Tisch fügte er hinzu: »Vielleicht sollten wir uns eine Runde aufs Ohr legen. Heute Abend gehen wir dann nach nebenan zu Molly. Die macht die besten Braised Lamb Shanks weit und breit.«
Dieser Vorschlag gefiel Uwe. Er spürte aufgrund der langen Anreise und des Alkohols tatsächlich eine bleierne Müdigkeit in den Gliedern. Unbestreitbar würden ihm ein paar Stunden Schlaf guttun.
»Du hältst an deinem Plan fest, die Tour unbegleitet zu unternehmen?«, vergewisserte sich Robert zum wiederholten Male.
»Selbstverständlich. Ich weiß, dass man normalerweise mindestens zu zweit losgeht, aber das Alleinsein ist in diesem Fall der Zweck der Übung«, bekräftige Uwe. Er schob sich eine Portion Lamm in den Mund. Robert hatte wahrlich nicht zu viel versprochen. Das zarte Fleisch der Lammhaxe zerging auf der Zunge. Rotwein, Essig und Zucker vereinten sich in der Soße zu einer Geschmacksexplosion. Er schmeckte einen Hauch von Knoblauch und eine leicht bittere Thymiannote. Die in der Komposition enthaltenen Himbeeren verliehen dem Gericht einen faszinierenden fruchtigen Schliff. Molly, die Wirtin kredenzte ihnen zum Mahl einen reifen Cabernet Sauvignon aus Marlborough, der wie Samt den Gaumen hinunterfloss.
»Mir gefällt das nicht. Es ist ein unnötiges Risiko. In einem Notfall kann es Tage dauern bis dich jemand sucht und findet«, gab Robert zu bedenken.
»Die meisten Unfälle passieren im häuslichen Bereich. Wenn ich beim Bilderaufhängen von der Leiter falle, dauert es Wochen, bis es bemerkt wird. In der Zeitung habe ich sogar von einem Mann gelesen, der mehrere Tage tot vor seinem Schreibtisch im Büro saß, bevor die Kollegen darauf aufmerksam wurden. Im Wald bin ich im Gegensatz dazu so sicher wie in Abrahams Schoß.«
Uwes Blick schweifte durch den Pub. Der miserablen Witterung geschuldet, welche keinesfalls zu Outdooraktivitäten...