Kleinroda
Als nach dem Krieg die Russen oder, wie man sie bald offiziell nannte - die sowjetischen Befreier - das Land besetzten, kamen sie nicht bis nach Kleinroda. Man hatte mit Zittern und Bangen auf sie gewartet, aber sie kamen nicht. Sie machten in der Kreisstadt Sangerhausen Halt, dort quartierten sie sich ein, das schien ihnen zu genügen. Sie kamen, wie sich später herausstellte, nie bis nach Kleinroda. Irgendwie schien es so, als hätte die siegreiche Armee die Lust verloren, weiter in das Gebirge und in dieses kleine Dorf vorzudringen, das schon immer den Eindruck machte, als sei hier die Zeit stehen geblieben. In der kleinen Kreisstadt nisteten sie sich ein und machten keine Anstalten, sich weiter vom Fleck zu bewegen.
Was hatte man nicht alles für Schrecklichkeiten über die Russen gehört! Als sie nach Berlin eingezogen waren, sollen sie angeblich junge Frauen und Mädchen zu tausenden geschändet haben. Man flüsterte auch in Sangerhausen, die Offiziere hätten ihren Mannschaften - wie man sagte - freien Lauf gelassen. Als sie dann nach Sangerhausen kamen, schienen sie lendenlahm geworden zu sein, denn so viele Untaten man diesen - wie manche damals gelegentlich behaupteten - russischen Bestien auch nachzusagen glaubte, hier waren sie zahm und still geworden. Nur - wie man in der Gegend erzählte - die alte Gräfin aus einem der Dörfer in der Goldenen Aue hatten sie angeblich mitgenommen. Man munkelte, man habe sich sogar an ihr vergriffen. Aber das konnte angesichts des hohen Alters der Dame - wie man hier flüsterte - nur im totalen Suff gewesen sein. Nie war die alte Dame wieder aufgetaucht.
Gut für die anderen adligen Familien aus Stolberg, Mansfeld und Allstedt, dass sie sich schon frühzeitig vor den Sowjets in Sicherheit gebracht hatten. Manche von ihnen hatten gleich nach Kriegsende ihre wichtigste Habe, einschließlich einiger Boxen mit Hühnern, Enten und Gänsen, auf mehrere Pferdefuhrwerke geladen, hatten die Ziegen und die Kühe hinten angebunden und waren einfach losgefahren. Nach Westen bis in die britische Zone. Dort - so glaubten sie - waren sie sicher.
Kleinroda war ein wunderschön gelegenes kleines Dörfchen im Südharz mit weniger als dreihundert Einwohnern, etwas mehr als doppelt so vielen Hühnern, um die dreihundert Gänsen und hunderten Enten, Dutzenden Schweinen, Dutzenden Ziegen, einem gutem Dutzend Milchkühen, ebenso etlichen Ochsen und einigen Pferden. Mit anderen Worten, es war, wie viele Dörfer im Harz, ein armes Dorf. Nicht zufällig gab es im Harz Ortschaften, die Elend oder Sorge hießen. Kleinroda hätte auch einen solchen Namen verdient, wenn da nicht die unvergleichliche Schönheit der Landschaft und die edle Gesinnung der Einwohner gewesen wäre.
Die Gunst von Erzvorkommen, die manchem Dorf im Harz Wohlstand gebracht hatte, war im Harz leider ungleich verteilt. Manche Dörfer waren arm geblieben und hatten bestenfalls das Glück, Holzkohle zur Verhüttung des Erzes zu liefern. Kleinroda gehörte zu diesen, leider brachte die Kohle wenig Geld ein. So dass das einzige Kapital, was dieses kleine Dorf hatte, die landschaftliche Schönheit und die edle Gesinnung seiner Bewohner war, die leider von manchen Bürgern der Nachbardörfer bestritten wurde. Angeblich seien die Leute aus Kleinroda - so wurde in den umliegenden Dörfern behauptet - die schlimmsten Wilddiebe, Rauf- und Saufbolde der Region. Das sei aber, wie alle Menschen in Kleinroda entrüstet behaupteten, eine üble Verleumdung. Eine Verleumdung, die leider auch entstanden war durch die Entstehung dieses kleinen Dorfes Kleinroda.
Denn es gab auf dem östlich des Dorfes befindlichen Berg eine Burg, die angeblich sogar mal einem edlen Menschen wie Heinrich von Morungen, einem bedeutenden Minnesänger, gehört hatte. Aber dessen Nachfolger waren Gesellschaften übler Raubritter, deren Personal sich dann auch unterhalb der Burg an dem Flüsschen Gonna angesiedelt hatte. Das wussten natürlich auch manche der Bewohner der umliegenden Ortschaften, für die die Bewohner Kleinrodas zu allererst Nachkommen der Raubritterbanden waren. Kein Wunder, wenn sie stehlen und betrügen, behaupteten manche Anwohner der umliegenden Ortschaften. Das konnten sie angeblich am besten. Arm waren die Menschen in Kleinroda trotzdem immer gewesen und immer geblieben.
Heinrich von Morungen lebte im 12. und 13. Jh. und stammte vermutlich aus dem Dorf Morungen, das heute Stadtteil von Sangerhausen ist. Ihm gehörte die Burg, auf der er vielleicht sogar zeitweise gelebt hat. Er war ein anständiger Mensch, an den sich später leider keiner der Bewohner aus Kleinroda erinnerte.
Jahrhundertelang hatte man im Raum Sangerhausen nach Erzen gesucht, hatte aber immer wieder Probleme mit Kosten, einfallendem Wasser und der Tiefe der Erzschichten gehabt. Jetzt, nach dem Krieg, war man in Sangerhausen wieder dabei, einen Schacht zu bohren, um nach Erzen zu suchen. Schon in den Jahrhunderten zuvor hatte man etliche Versuche unternommen, weil man vermutete, dass auch hier - ähnlich wie in Mansfeld - Flöze anzutreffen waren, die Kupfer oder gar Silber enthielten.
Im 19. Jahrhundert hatte ein privates Unternehmen in Sangerhausen einen Versuch unternommen, den kostbaren Kupferschiefer zu heben. Bei diesem Versuch hatte auch Maries Großvater, der alte Steinmetz Carl Lehmann aus Sangerhausen, eine Stange Geld vorgestreckt und schließlich verloren. Die Sache war wohl viel zu teuer geworden. Jetzt bohrte also die junge demokratische Republik. Die heftigen Probleme mit Wasser schienen nach vielen Stollenbauten endlich gelöst zu sein. Vielleicht klappte es jetzt endlich mit dem volkseigenen Geld der Werktätigen.
Steinkohle gab es im Harz und in dessen Umgebung nicht. Die Kohle für den Mansfelder Schacht hatte man im Harz aus Holz hergestellt. Steinkohle oder Koks aus dem Ruhrgebiet wären vermutlich viel zu teuer gewesen. Weil es in der jungen sowjetischen Zone ohnehin keine Steinkohle gab, hatte man wieder angefangen, Holzkohle herzustellen. Das Holz besorgte man sich in Form von langen Holzscheiten aus den Wäldern des Harzes. Diese wurden dann zu Meilern, einer Art Kegel bis zu einer Höhe von bis zu etwa drei Metern aufgeschichtet und mit Erde abgedeckt. In diese Erdabdeckung kamen Löcher, durch diese Löcher wurde das Holz angezündet.
Aber das Holz durfte nicht brennen, es durfte nur schwelen. Deshalb war es wichtig, dass der Meiler ständig beobachtet wurde. Die Köhler hatten neben dem Meiler eine kleine Hütte aufgestellt, in der sich ein Kandidat Tag und Nacht aufhielt und den Meiler beobachtete. Wenn nach Wochen das ganze Holz endlich durchgekohlt war, wurde früher die Kohle über die Kohlenstraße, die auf dem Bergkamm zwischen Wippra und Kleinroda verlief, bis nach Mansfeld zur Verhüttung des Kupfererzes transportiert.
Vermutlich hofften manche der ehemaligen Köhler angesichts des neuen Sangerhäuser Schachtes, auch für dieses Erz brauche man Holzkohle aus Meilern, wie sie über Jahrhunderte von Köhlern im Harz hergestellt worden war. Auch in Kleinroda gab es einige Köhler, die sich freuten, angesichts des Schachtprojektes in Sangerhausen Arbeit zu bekommen. Das waren Kerle wie Bären. Im Harz hieß es, wo die Kerle zuschlugen, wuchs kein Gras mehr. Leider brauchte man diese Kohle nicht mehr. Man verwendete zur Verhüttung inzwischen aus den befreundeten sozialistischen Bruderländern importierten Koks.
Der Krieg hatte auch in Kleinroda seine Spuren hinterlassen. Es waren weniger Spuren der Zerstörung als vielmehr Verluste von jungen Männern, die im Krieg gefallen waren oder noch in sowjetischer Gefangenschaft darben mussten. Manche junge Frau war zur Witwe geworden, manch' ältere Paare hatten ihren Sohn verloren und mussten zusehen, wie sie mit der kleinen Wirtschaft zurechtkamen. In Kleinroda wurstelte man nach dem Krieg vor sich hin, bejammerte hin und wieder sein Schicksal, schimpfte still und leise auf die Verhältnisse, wunderte sich über die neue Obrigkeit, deren Vertreter immer mal wieder aus der Kreisstadt auftauchten und über die neue sonnige Zukunft redeten, die man bald zu erwarten habe.
Die wenigen Bewohner des Dorfes gaben sich der leisen Hoffnung hin, dass nun trotz der dürftigen Ländereien, über die man verfügte, alles ein wenig besser würde. Vielleicht etwas friedlicher und ohne Kriege und bitte mit etwas mehr gut bezahlter Arbeit für die Männer, von denen die meisten seit vielen Jahren versuchten, ihre Familien mit dem Binden von Besen, dem Schnitzen von Kochlöffeln, dem Bau von Kohlenmeilern oder irgendwelchen Arbeiten als Tagelöhner über Wasser zu halten. Und bitte eine Stromversorgung für alle Häuser im Dorf, für genug zu essen und endlich eine funktionierende Wasserversorgung.
Mitten in der kargen Nachkriegszeit, als sich die Sowjetmenschen, die zu Freunden der Menschen in der jungen DDR geworden waren, schon fest etabliert hatten, kam eine Delegation von frisch gekürten feurigen Sozialisten aus der Stadt zu einer Veranstaltung in die Burgschenke, die Wochen zuvor angekündigt war. Diese Schar von neuen Sozialisten erklärte, nun sei die neue Zeit angebrochen, alles würde anders werden, der Sozialismus würde siegen, und jetzt brauche man einen neuen Bürgermeister, der alte sei ein tiefbrauner Nazi gewesen. Aber dann stellten die neuen Kader aus der Stadt fest, auch die Nazis hatten übersehen, dass der frühere Dorfbürgermeister Siebenhühner nichts mit den Faschisten am Hut gehabt hatte. Die Faschisten...