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Wie an jedem Wochentag zwischen sechs und halb sieben Uhr abends kletterte Gerda Manner langsam die fünf Stockwerke hinauf zur Wohnung, die in das Dachgeschoß des altmodischen Hauses eingebaut war.
Der Aufzug ging schon seit Wochen nicht mehr. Gerda hatte keine Ahnung, ob es sich dabei um eine Störung handelte, die aus kriegsbedingten Gründen nicht behoben werden konnte, oder einfach um eine Sparmaßnahme. Sie fragte nicht; sie hatte in diesem Herbst des vierten Kriegsjahres andere Sorgen, als nach den Ursachen solcher Nebensächlichkeiten zu fragen. Sie kletterte die gewundene Treppe hinauf und dachte dabei angestrengt nach.
Dieses Nachdenken, das eher ein ergebnisloses Grübeln genannt werden konnte, war ihr bei dem allabendlichen einsamen Aufstieg zur Gewohnheit geworden. Vielleicht wurde es gefördert durch die Düsterkeit des Stiegenhauses, wo nur ein paar schwarz verklebte, sinnigerweise als "Verdunklungslampen" bezeichnete Glühbirnen brannten und wo eine dicht konzentrierte Stille war, durch das Echo von Gerdas leichten Schritten rhythmisch unterbrochen.
Selten begegnete sie hier einem Menschen; das Haus hatte in jedem Stockwerk nur eine Wohnung, und von diesen fünf Wohnungen stand eine seit Monaten leer. (Es hieß, sie werde für jemand bereitgehalten; die Tür war versiegelt.)
Vor dieser Wohnung im ersten Stock blieb Gerda sekundenlang stehen und blickte den Treppenhals hinauf bis zum Ende der Stiege knapp unter dem runden Plafond, gleich neben der Tür zur Mannerschen Wohnung. Ein leichtes Schwindelgefühl ergriff Gerda, als ihre Blicke die steilen Windungen hinauf und wieder hinunter liefen.
Auch ihre Gedanken liefen in Spiralen. Sie drehten sich um Gerdas eigene Person. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit dachte sie heute an sich selbst: an ihre Trübsal und an ihre Unruhe, an die schwere, lähmende Müdigkeit, die wie Metallgewichte an ihren Gliedern hing. Noch nie hatte sie sich so schwer dahingeschleppt wie in diesem Herbst. Dabei wog sie weniger als je zuvor. Wenn sie auf ihres Mannes Wunsch von Zeit zu Zeit ihr Gewicht prüfte, war es immer wieder um ein bis zwei Kilo niedriger, so daß sie gar nicht verstehen konnte, von wo all das Verlorene eigentlich abgezogen wurde, denn überschüssiges Fett hatte sie nie gehabt. Doch machte sie sich darüber bloß flüchtige Gedanken, und auch das nur, weil Theo und Luzie des öftern davon sprachen - wobei Luzies altkluge Besorgtheit sie belustigte und rührte, während Theos ermahnende Phrasen ihr heimlich auf die Nerven gingen.
- Er geht mir auf die Nerven -, stellte sie mit selbstquälerischer Bitterkeit fest. Wann hatte das eigentlich begonnen, daß sie nie ganz ohne Bitterkeit an ihren Mann denken konnte? Es war wohl allmählich so gekommen, der Ausgangspunkt ließ sich kaum mehr finden. Trotzdem versuchte Gerda es stets von neuem.
Als sie mit siebzehn Jahren als Lehrmädchen in Theos Buchhandlung hier im Haus eingetreten war, da hatte sie vom ersten Tag an so zu ihm aufgeblickt, daß es ihr nie eingefallen wäre, das Gewicht und die Gültigkeit seiner Worte anzuzweifeln. Und später, als sie seine Frau war, hatte er einfach das Recht des Vorgesetzten beibehalten: das Recht zu tadeln, anzuordnen und Gehorsam zu verlangen.
- Ein Recht, das jahrzehntelang unbestritten bleibt, wird zum Gewohnheitsrecht -, sagte sich Gerda jetzt, während sie weiterkletterte. - Das ist sogar juristisch festgelegt. Ich bin selber an allem schuld, ich hätte mich früher gegen ihn behaupten sollen. Aber früher habe ich gedacht, das alles muß so sein. Und früher war er wenigstens nicht so verschlossen. Früher hat er doch manches mit mir besprochen, hat mich zuweilen um meine Meinung befragt, hin und wieder sogar um meinen Rat. - Sie erinnerte sich, wie froh sie über diese seltenen Vertrauensbeweise gewesen war, zumal ihr Rat sich dann meistens als richtig erwies - leider auch dann, wenn er nicht befolgt worden war . In letzteren Fällen ging Theo stillschweigend darüber hinweg, doch wenn ihr Rat ihm Vorteil brachte, dann pflegte er ihn wortreich zu würdigen und lobte Gerdas "fraulichen Instinkt". Und wenn das auch immer so klang, als lobte er sich selbst (so wie der Ruhm einer wertvollen Ausgrabung auf ihren Entdecker zurückfällt), war Gerda doch jedesmal sehr glücklich darüber.
Aber das alles lag weit zurück. Jetzt sprach Theo mit ihr nie mehr über etwas Wesentliches - außer über Luzie, doch auch das tat er eigentlich bloß, wenn er an dem Kind etwas auszusetzen hatte. Über die Tagesereignisse schwieg er. In den ersten Kriegsjahren hatte er beim Abendessen immer über die Wehrmachtsberichte gesprochen; jetzt schob er Gerda, wenn sie etwas wissen wollte, wortlos die Zeitung hin. Manchmal sagte er auch, er wolle in Ruhe gelassen werden. Es war nun schon so weit, daß Gerda ihn nichts mehr zu fragen wagte, aus Angst vor einer mürrischen Antwort.
Von oben hallten Schritte durch das Stiegenhaus und rissen Gerda aus ihren Grübeleien. Unwillkürlich stieg sie rascher weiter; sie wollte schnell vorbei an der Person, die ihr da entgegenkam - wer immer es sein mochte. Sie war so gar nicht in der Stimmung, sich mit irgendwelchen Hausgenossen zu unterhalten, sie hatte Angst vor solchen Gesprächen, bei denen sie immer Gefahr lief, eine unvorsichtige Bemerkung zu machen. Sie konnte so schlecht lügen .
Doch als sie den Gruß der Hausbesorgerin hörte, blieb sie im Halbstock stehen, hob ihre schwere Tasche aufs Fensterbrett und lächelte in die Finsternis des zweiten Stockes hinauf. "Guten Abend, Frau Dangl", sagte sie.
Frau Dangl war alles eher als die gefürchtete und verhaßte Witzblattfigur der ihrer Macht bewußten Wiener Hausmeisterin, von der man nie weiß, ob sie nicht auch als Spionin und Angeberin funktioniert, und mit der man sich um jeden Preis gut stellen muß. Frau Dangl, eine zerbrechliche, kleine Witwe, war von einer Bescheidenheit, als wollte sie sich ständig für ihren Beruf entschuldigen. Das war wohl der Grund dafür, daß sie von den meisten Hausbewohnern ausgenützt und hochnäsig behandelt wurde. Erst seit es sich vor einigen Wochen im Haus herumgesprochen hatte, daß ihr einziger Sohn an der Ostfront gefallen war, erregte sie allgemein Mitleid; jetzt war man rücksichtsvoll zu ihr, und die Frauen sagten ihr im Vorbeigehen gern ein paar freundliche Worte. Sie aber war nun völlig menschenscheu geworden; zum Skelett abgemagert schlich sie wie ein schwarzer Schatten umher, tat mit starrem Ausdruck ihre Arbeit und gab, wenn man sie etwas fragte, bestenfalls einsilbige Antworten. Gerda gehörte zu den wenigen Menschen, mit denen sie manchmal ein Gespräch führte.
"So spät sind Sie heute noch beim Stiegenwaschen?", fragte Gerda, als sie Frau Dangl jetzt mit einem vollen Eimer herunterkommen sah. Ihr Blick blieb an dem Gesicht der Hausbesorgerin hängen - was hatte die Frau, wie hatte sie sich verändert? Sie war blaß, aber von anderer Blässe als bisher; ihre Augen waren nicht mehr starr, sie waren sonderbar lebendig, sie funkelten! Sekundenlang durchfuhr Gerda der jähe Schrecken, den ein plötzlicher Verdacht der Geistesgestörtheit eines bisher Gesunden hervorruft. Doch da stellte Frau Dangl ihren Eimer hin, vergewisserte sich mit raschen Blicken, daß niemand anderer im Stiegenhaus war, und trat dann ganz nahe an Gerda heran.
"Gut, daß ich Sie treff, Frau Manner", flüsterte sie. "Ich muß Ihnen was sagen. Sie sind die einzige, der ich's sagen kann." Wieder blickte sie sich um, obwohl niemand hier ungehört herankommen konnte - vielleicht war es nur Verlegenheit, die sie zögern ließ. Dann aber sagte sie mit rauher, fast lauter Stimme: "Der Pepi ist nicht tot, auch nicht vermißt - der Pepi lebt!", und brach in schluchzendes Weinen aus.
Gerda griff nach Frau Dangls ineinander verkrampften Händen, die sie schweigend drückte. Frau Dangl schämte sich ihrer Unbeherrschtheit und rang nach Worten.
"Ich hab ein Flugblatt mit seinem Namen gekriegt - ein Urlauber hat's mir geschickt - mit einer Kinderschrift war die Adress' g'schrieben, und der Poststempel war aus Wiener Neustadt . Mehr wie hundert Namen von Gefangenen sind drauf, und bei einem jeden die genaue Adress' . Das kann doch kein Schwindel sein, Frau Manner?"
"Sicher nicht", sagte Gerda. Sie hatte schon von solchen Flugblättern gehört, die von den Russen über der Front abgeworfen wurden. Den Angehörigen der deutschen Wehrmacht war es verboten, sie zu lesen.
"Ich zeig's Ihnen, wenn S' einmal zu mir hereinkommen, Frau Manner! Ich hab's gut versteckt, ich zeig's keinem Menschen, aber Ihnen zeig ich's!" Und wieder nach einer Pause: "Sie sind die einzige, der ich vertrauen kann, Frau Manner. Sie verraten mich nicht, das weiß ich. Einem Menschen hab ich's doch sagen müssen, verstehn Sie das? Und ich wüßt sonst keinen. Meine zwei Schwestern sind Nazi, ihre Männer auch, denen trau ich mich nichts sagen, und sonst hab ich keine Menschenseele auf der Welt ." Sie wischte mit der Schürze über ihr Gesicht, das nun wieder von innen her zu leuchten...
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